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KRIEG/1359: Lehre aus dem Luftangriff ... mehr Besatzungstruppen (SB)



Wie sehen die politischen Konsequenzen aus dem verheerenden Luftangriff aus, bei dem über 130 Menschen getötet worden sein könnten? Die angebliche Deeskalationsstrategie des ISAF-Kommandeurs Stanley McChrystal zielt darauf ab, keinen Krieg gegen die Bevölkerung zu führen, sondern sie gegen die Taliban zu schützen. Das setzt voraus, daß sich eine eindeutige Trennung vornehmen ließe, was in der Praxis nicht der Fall ist. Bei den sogenannten Aufständischen handelt es sich nicht nur um Taliban, sondern um diverse Gruppen, die aus verschiedenen Motiven die Waffen gegen die NATO-Truppen erheben. Einig sind sie sich allerdings darin, daß die Besatzer abziehen und es den Afghanen überlassen sollen, über die Bedingungen ihres Zusammenlebens zu entscheiden.

Das gilt sogar für säkulare Gruppen, die sich demokratischen und linken Idealen verpflichtet fühlen. Sie beklagen sich darüber, daß die Anwesenheit ausländischer Truppen die Interessen der alten Oligarchie stützen, die, aus mehrere ethnischen Minderheiten bestehend, sich gegen die Taliban-Regierung als Nordallianz formiert und bei der Eroberung des Landes die Invasoren unterstützt haben. Seitdem werden sie von der NATO protegiert, was wiederum dazu geführt hat, daß viele Stämme der paschtunischen Mehrheit zur Unterstützung der aus ihren Reihen stammenden Taliban neigen. Als Verlierer dieser Entwicklung können alle Kräfte bezeichnet werden, die weder Parteigänger der Nordallianz noch der Taliban sind.

So macht die Bevölkerung für ihre Verluste nicht nur die Taliban verantwortlich, sondern sie werden, direkt wie bei dem jüngsten Luftangriff oder indirekt als Folge der Besatzung, auch der NATO angelastet. Die Taliban erfreuen sich insbesondere auf dem Land, wo man nach den alten Stammesgesetzen und den Regeln eines orthodoxen Islam lebt, Zustimmung, die die Differenzierung in schützenswerte Bevölkerung und zu bekämpfende Besatzungsgegner praktisch unmöglich macht. Mit jedem Angriff der NATO, dem Zivilisten zum Opfer fallen, gewinnen die Taliban an Rückhalt. Zumindest Teile der Bevölkerung betrachten sie, völlig unabhängig von ihren reaktionären Werten, als Kämpfer in einem nationalen Befreiungskrieg. Nach der Logik des ISAF-Kommandeurs stehen Afghanen, die nicht für die Besatzer gewonnen werden können, auf der Seite des Gegners und werden, wenn nicht direkt bekämpft, dann zumindest bei der ökonomischen Bemittelung benachteiligt oder auf andere Weise abgestraft.

McChrystal fordert unisono mit anderen NATO-Kommandeuren die weitere Aufstockung der Zahl der in Afghanistan stationierten Soldaten, um anstelle von Luftangriffen mehr Präsenz in der Fläche zeigen zu können. Die Rede ist von 40.000 zusätzlich zu den von US-Präsident Barack Obama bereits zugesagten 20.000 Truppen, zudem wird über den verstärkten Einsatz von Geheimdiensten bei der Aufstandsbekämpfung nachgedacht. McChrystal hat den größten Teil seiner militärischen Karriere in den Special Forces verbracht und befehligte als Oberbefehlshaber des Joint Special Operations Command (JSOC) von 2003 bis 2008 die Sonderkommandos der Teilstreitkräfte bei verdeckten Operationen wie etwa der gezielte Ermordung angeblicher Terroristen. Dabei tat sich eine im direkt unterstellte Einheit im Irak durch besonders brutale Foltermethoden hervor.

Eine von McChrystal konzipierte Befriedung Afghanistans dürfte zweifellos aus dem reichhaltigen Erfahrungsschatz schöpfen, über den die US-Streitkräfte bei der Counterinsurgency verfügen. Man denke etwa an das Phoenix Program der CIA, bei der Sonderkommandos der Special Forces offiziell mehr als 26.000 angebliche Vietkong ermordeten und Zehntausende bei Verhören folterten. Um zu eruieren, ob sich unter der Zivilbevölkerung Kämpfer der Taliban verstecken, wird auf derartige Praktiken nicht verzichtet werden, wie schon die Behandlung angeblicher Terrorverdächtiger in US-Militärgefängnissen nahelegt. Wenn die Bombardierung der zwei Tanklastzüge als zusätzliches Argument für die Aufstockung der NATO-Truppen in Afghanistan in Washington und bei der NATO Gehör findet, dann hätte der US-General allerdings Grund, der Bundeswehr dankbar zu sein.

7. September 2009