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KRIEG/1384: Eklat um Jung ... ein Minister als zweckdienlicher Kugelfang (SB)



Fast drei Monate nach dem verheerenden Luftangriff auf zwei Tanklastzüge im Raum Kunduz, dem laut NATO-Angaben bis zu 142 Personen zum Opfer fielen, wird der politische Preis für die damals verfolgte Strategie der Bundesregierung, das Ausmaß dieses Massakers nicht eingestehen zu wollen, fällig. Bezeichnend für die Mißachtung der Opfer dieses Angriffs ist dennoch, daß die Rücktritte des Generalinspekteurs Wolfgang Schneiderhan und des Verteidigungsstaatssekretärs Peter Wichert das Ergebnis einer irreführenden Informationspolitik und nicht der Tat als solche sein sollen.

Laut Bild-Zeitung wurde ein Bericht deutscher Militärpolizisten der zuständigen Staatsanwaltschaft bislang vorenthalten, obwohl er detaillierte Angaben dazu machte, inwiefern das Regionalkommando der Bundeswehr in Masar-i-Sharif das Einsatzführungskommando in Potsdam unter anderem über zivile Opfer des Angriffs aufklärte. Das ist zwar peinlich für die politische und militärische Führung des Afghanistaneinsatzes, ändert aber nicht unbedingt etwas an der auch von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg vertretenen Auffassung, daß der zuständige Kommandant Oberst Klein so und nicht anders hätte handeln müssen.

Eben diese Behauptung ist aus gutem Grund anzuzweifeln und sollte im Mittelpunkt der Debatte über diesen bislang schlimmsten Aggressionsakt der Bundeswehr in Afghanistan stehen. Daß es sich um einen solchen handelt, geht schon aus der Tatsache hervor, daß die beiden Tanklaster in einem Flußbett festgefahren waren, es also weniger zerstörerische Möglichkeiten als die einer Bombardierung gegeben hätte, sich ihrer wieder zu bemächtigen. Unbeantwortet bleibt die Frage, wieso der angeblich von den Tanklastern auf das Bundeswehrlager ausgehenden Gefahr nicht am Boden entgegengetreten wurde, stand die Situation doch die gesamte Zeit unter Beobachtung entweder durch eigene Drohnen oder die angeforderten Kampfbomber. Daß der kommandierende Bundeswehroffizier das Angebot der Piloten der Kampfjets ausschlug, vor Ort befindlichen Zivilisten durch das niedrige Überfliegen des Ziels die Gelegenheit zu geben, sich zu entfernen, daß er ihnen gegenüber angab, von den Tanklastern ginge eine unmittelbare Bedrohung aus, sind seit langem bekannte Fakten, die den willkürlichen Charakter dieses Luftangriffs belegen.

Die Diskussion um die militärische Ratio dieses Angriffs wird seit seinem Bekanntwerden mit der ganzen Raffinesse einer gut geölten PR-Maschinerie unterlaufen. Der Bundeswehr obliegt in ihrem Operationsgebiet der Schutz wichtiger Nachschubrouten, über die die Versorgung der im Osten und Südens kämpfenden Truppen der NATO organisiert wird. Seit die Taliban bei Angriffen auf die über Pakistan verlaufende Nachschubroute einige Erfolge erzielt haben, sind die durch Nordafghanistan verlaufenden Straßen für die Logistik der NATO von erheblicher Bedeutung. Es ist daher nicht auszuschließen, daß mit dem Angriff vom 4. September ein Exempel statuiert wurde, das über die Ausschaltung einer möglichen Bedrohung hinaus abschreckende Wirkung auf die Taliban entfalten sollte. Der Logik des Krieges entspräche allerdings auch ein schlichter Vergeltungsakt für die Attacken, denen die Bundeswehr durch die in ihrem Operationsgebiet aktiven Taliban ausgesetzt sind. Daß im Raum Kunduz vor kurzem eine regelrechte Vernichtungsoffensive durch US-Einheiten durchgeführt wurden, die in einem fünftägigen Bombardement bewohnter Gebiete gipfelte [siehe HEGEMONIE/1629], spricht jedenfalls dafür, daß über die Notwendigkeit eines aggressiven Vorgehens gegen die Besatzungsgegner in der NATO-Führung Konsens besteht.

Mit dem Luftangriff auf die Tanklastzüge hat der Bundeswehreinsatz in Afghanistan jenen offensiven Charakter angenommen, dessen Fehlen von den im Kampfeinsatz im Osten und Süden des Landes stehenden NATO-Partnern seit langem beklagt wird. Der angebliche Schutzauftrag des ISAF-Mandats wird auf diese Weise dem gleichen Bedeutungswandel unterzogen, den der Verteidigungsauftrag der Bundeswehr bereits hinter sich hat. Mit einer abenteuerlichen semantischen Verdrehung werden aggressive zerstörerische Kriegseinsätze in friedenssichernde Stabilisierungsmaßnahmen umgewidmet, um geostrategische Ziele verfolgen zu können, die ansonsten in ihrer imperialistischen Qualität decouvriert würden.

Der durchsichtigen Vorwandslage entsprechend wurde der Angriff von dem für Afghanistan zuständigen NATO-Oberbefehlshaber, US-General Stanley McChrystal, als Rückschlag für die von ihm ausgegebene Devise kritisiert, keinesfalls Luftangriffe durchzuführen, wenn Zivilisten betroffen sein könnten, um die Bevölkerung nicht in die Arme der Taliban zu treiben. Nicht nur die Anfang Oktober im Raum Kundus durchgeführte US-Offensive hat gezeigt, daß dieser Krieg auch in seinem achten Jahr nicht mit Samthandschuhen geführt wird, sondern es sich bei der angeblichen Deeskalation um eine bloße PR-Maßnahme handelt. Mit anwachsender Opposition gegen die Besatzung und der absehbaren Aufstockung der US-Truppen im Land wird die Zivilbevölkerung zusehends in Mitleidenschaft gezogen werden. Das geht schon aus dem Grundsatz jeder Counterinsurgency-Doktrin hervor, laut dem man einer Guerilla vor allem den Rückhalt der Bevölkerung entziehen muß. Diese Erkenntnis hat in allen Kolonialkriegen dazu geführt, daß Zivilisten nicht nur im Nebenlauf der Hauptkriegshandlungen betroffen waren, sondern ganz gezielt in die Aufstandsbekämpfung einbezogen wurden.

Ex-Verteidigungsminister Jung war schon kurz nach dem Luftangriff vom 4. September in den Mittelpunkt der Kritik geraten, weil er den Tod von Zivilisten kategorisch ausschloß. Was damals als durchsichtiges Rechtfertigungsmanöver zu erkennen war, könnte sich nun als gezielte Täuschung erweisen. Die sich aus dieser Affäre ergebenden personellen Konsequenzen sind jedoch ein geringer Preis für eine Vertuschungsscharade, bei der es vor allem darum geht, die viel wichtigere Diskussion über die Frage der weiteren Anwesenheit der Bundeswehr in Afghanistan auszublenden. Gerade dieser Vorfall wäre bestens dazu geeignet gewesen, den vorgeblichen Schutzauftrag der Bundeswehr in Frage zu stellen. Statt dessen wurde über die Informationspolitik Jungs debattiert und der Eindruck erweckt, man könne anhand der bekannten Fakten und ohne eine zuvor durchgeführte Untersuchung keine Fragen entwickeln, mit Hilfe derer sich die Kriegführung der Bundesregierung kritisieren ließe.

So entstand die nur scheinbar paradoxe Situation, daß ein überaus relevantes politisches Thema weniger als vier Wochen vor der Bundestagswahl mit Macht an die Oberfläche des öffentlichen Diskurses drängte, wo ihm mit allerlei Ausweich- und Ablenkungsmanövern der Zahn seiner Wahlwirksamkeit gezogen wurde. Wenigstens alle vier Jahre einmal bei einer so wichtigen Frage wie der von Krieg und Frieden Demokratie zu praktizieren hätte allen Beteiligten bis auf die Linke, die als Kriegsgegner von diesem Thema nur profitieren konnte, Probleme bereitet. So tritt dieses Massaker weiterhin nicht als solches in Erscheinung, um keinen Anlaß für einen Streit zu liefern, der den außen- und bündnispolitischen Interessen der Bundesregierung zuwiderliefe. Jetzt wird der auf die Zeit nach der Wahl aufgeschobene Eklat nachverhandelt, um praktischerweise die für die anstehende Verlängerung der Kriegsmandate relevanten Fragen zu einer Debatte um Zuständigkeiten und Personalentscheidungen degenerieren zu lassen.

26. November 2009