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KRIEG/1462: NATO-Strategie 3.0 mit neuem Feindbild - Gefahr durch Cyber-Attacken (SB)



Die Außen- und Verteidigungsminister der 28 NATO-Staaten sind am Donnerstag in Brüssel zusammengekommen, um über die zukünftige Strategie ihres Militärpakts zu beraten. Allgemein geopolitische Ziele, Aufbau einer europäischen Raketenabwehr und der neue Kriegsschauplatz Cybernet sind die Hauptthemen dieses Treffens. Sie sollen die nächsten zehn Jahre das Vorgehen der NATO bestimmen.

Dem westlichen Militärpakt sind die Feindbilder ausgegangen. Als 1991 die Sowjetunion zerfiel und der Westblock keinen Antagonisten mehr besaß, währte die Phase der Orientierungssuche nur kurz. Legitimationsvorwände waren schnell bei der Hand. Die NATO löste sich nicht auf, sondern fand neue Betätigungsfelder. Fortan galt es, den internationalen Terrorismus zu bekämpfen, wobei dieser zunächst noch aufgebaut werden mußte, um ihn dann beseitigen zu können. Zudem stieß die NATO in die vermeintlich unbesetzten Räume des Ostens vor, die der einstige Widersacher hinterlassen hat. Heute sind Länder wie Estland, Polen und Rumänien Mitglied der NATO, die darüber hinaus auch Georgien und die Ukraine enger an sich gebunden hat.

Was die territoriale Expansion nach Osten angeht, läuft es alles in allem nicht schlecht für das westliche Kriegsbündnis. Allerdings erstarken Mächte in anderen Weltregionen und sind bemüht, sich mehr und mehr der Bevormundung und Kontrolle vor allem des Gravitationszentrums der NATO, der USA, zu entziehen. China zum Beispiel sieht sich einer aggressiven Einkreisungsstrategie ausgesetzt, vermag aber seine Position zu behaupten und versucht, eine direkte Konfrontation zu vermeiden. Bislang jedenfalls. Man hat Zeit im Reich der Mitte und kennt selbstverständlich Analysen wie die des "Irakkrieg-Architekten" Paul Wolfowitz, der bereits in den neunziger Jahren in einer Studie feststellte, daß eine militärische Auseinandersetzung mit China unvermeidlich kommen wird. Deshalb sei es günstiger, diese frühzeitig anzustrengen, da China versuche, den militärtechnologischen Rückstand aufzuholen.

Um solche Fragen rund um die geopolitischen Ziele der NATO wird es bei dem Treffen in Brüssel ebenfalls gehen, auch wenn das nicht nach außen kommuniziert wird. Im Unterschied dazu die im Vorfeld medienwirksam ausgetragene Meinungsverschiedenheit zwischen Frankreich und Deutschland über die Rolle der Atomwaffen. Berlin möchte sie abschaffen, Paris nicht. Bei diesem "Streit" wird sich typischerweise nationaler Kategorien bedient. Die sind zwar keineswegs bedeutungslos, aber decken nur einen Teil der Konfliktfelder ab. In der NATO-Strategie 3.0, wie sie NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen zu nennen beliebt, wird ein neues Feindbild installiert, das Internet und die Gefahr von Cyber-Attacken. Da man das Internet nicht bekämpfen kann, wohl aber die Menschen, die es nutzen, gibt die NATO sozusagen eine diffuse Kampfansage gegen die Weltbevölkerung aus. Mit Observierungen und Restriktionen des Datenverkehrs ist zu rechnen. Passend dazu geistert noch immer das Computervirus mit der Bezeichnung Stuxnet durchs Netz. Die Urheber dieser Schadsoftware müssen Profis gewesen sein, heißt es. Das Virus hat weltweit industrielle Steueranlagen befallen, unter anderem das iranische Atomkraftwerk Buschehr.

Stuxnet wurde in der digitalen Welt zu einem Feindbild aufgebaut wie Osama bin Laden in der Makrowelt. Diese Bedrohung wird über die bewährten Medienkanäle verbreitet. Die gleichen Kanäle berichten nun darüber, daß die NATO das Internet als Gefahr ansieht. Estland möchte sogar erreichen, daß der Bündnisfall nach Artikel 5 eintritt, wenn ein Land einem Cyber-Angriff ausgesetzt wird. Deutschland hat sich dagegen sowie gegen die Ausrufung des Bündnisfalls bei einem Angriff gegen die Energieversorgung ausgesprochen.

Am 19. November soll die neue Strategie beim NATO-Gipfel in Lissabon vorgestellt werden. Voraussichtlich werden dann nähere Einzelheiten genannt, wie die Militärs auf die in ihren Augen wachsende Gefahr zu reagieren gedenken. "Zunächst müssen wir das Internet als das erkennen, was es ist: der nächste Bereich der Kriegsführung. So wie den Luftraum, das Land, die See und den Weltraum müssen wir das Internet als einen Ort behandeln, den wir verteidigen und in dem wir frei arbeiten können", sagte der Staatssekretär im US-Verteidigungsministerium, William Lynn, der außerdem behauptet, daß täglich etwa 100 ausländische Geheimdienste in die Systeme der USA einzudringen versuchten (tagesschau.de, 14.10.2010).

Vor einigen Jahren wurde die NATO-Agentur für Kommunikations- und Informationssysteme (NCSA) zur "Abwehr" von Cyber-Attacken eingerichtet. Bekanntlich verfügen Militärs auch hinsichtlich anderer Waffengattungen (ABC-Waffen) über die entsprechenden Angriffsmittel, um die eigenen Systeme zu testen. Unvorstellbar, daß es immer nur die anderen sind, die in die Computersysteme der NATO-Staaten einzudringen versuchen, und entsprechende Anstrengungen nicht auch in die umgekehrte Richtung laufen.

Welche Folgen die neue NATO-Strategie auf Gebieten der Meinungs- und Informationsfreiheit, des außerparlamentarischen Aktivismus und der Selbstorganisation, der sozialen Netze und des Zugangs zu Quellen haben wird, ist zur Zeit noch unausgelotet. Auf dem neuen Kriegsschauplatz Internet wird zusammengeführt, was auch bei klassischen Kriegen schon immer zusammengehört hat: Innen- und Außenpolitik sind ununterscheidbar. In der digitalen Kommunikationssphäre, über die die NATO mittels ihrer Cyber-Abwehr Hegemonie erlangen will, fallen Einschränkungen der Kommunikationsmöglichkeiten und die territoriale Expansion zum Zwecke der Unterwerfung in eins, denn man muß davon ausgehen, daß die NATO ihr Arsenal an Cyber-Waffen, die gegen unliebsame Staaten eingesetzt werden, im Rahmen der neuen Strategie ausbauen wird.

14. Oktober 2010