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KRIEG/1471: Afghanistan ... das Zerrbild des Terrorkriegs durch naheliegendere Motive ersetzen (SB)



Apropos Terror - laut dem Ergebnis einer im November veröffentlichten Umfrage des Instituts International Council on Security and Development (ICOS) haben 92 Prozent der Bewohner der südafghanischen Provinzen Helmand und Kandahar noch niemals von den Anschlägen des 11. September 2001 gehört [1]. Sie wissen nicht, warum USA und NATO ihr Land mit Krieg überziehen und ihr Leben in eine noch größere Hölle verwandeln, als es zuvor schon war. Niemand befand es offensichtlich für nötig, den Afghanen zu erklären, weswegen ihr Bürgerkrieg endlos verlängert wird. Der seit dem 7. Oktober 2001, also seit mehr als neun Jahren, in Afghanistan geführte Krieg richtet sich gegen Menschen, die nicht wissen, welchem Umstand sie die mörderische Feindseligkeit zu verdanken haben, der sie seitens der Invasoren ausgesetzt sind.

Wenn sie es denn wüßten, dann fragten sie sich zu Recht, was sie denn damit zu tun haben, daß angeblich 19 mehrheitlich aus Saudi-Arabien stammende Attentäter mit zwei entführten Flugzeugen Anschläge in den USA durchgeführt hätten. Es macht also gar keinen Sinn, sie darüber aufzuklären, daß sie für die Anwesenheit des angeblich dafür verantwortlichen Osama bin Laden und seiner Organisation Al Qaida in Afghanistan zu jener Zeit verantwortlich gemacht werden. Auch dürfte ihnen nicht einleuchten, warum die damals dafür zuständige Regierung der Taliban zum Feind erklärt wurde, obwohl sie den USA das Angebot unterbreitete, Osama bin Laden bei Vorlage von Beweisen für seine Täterschaft an ein Drittland auszuliefern.

Die afghanische Bevölkerung hätte daher allen Anlaß, sich über die Terrorisierung ihres Lebens zu beklagen. Was geht das die Bundesbürger an, deren Sicherheit angeblich am Hindukusch durch die Bundeswehr verteidigt wird? Sehr viel, denn nach dieser offiziellen Lesart ist die deutsche Kriegführung ausschließlich kontraproduktiv. Auf dem Weihnachtsmarkt oder im Reichstag muß man Angst um sein Leben haben, wenn man die Erklärungen des Bundesinnnenministers Thomas De Maizière für bare Münze nimmt. Nach neun Jahren Präsenz der Bundeswehr in Afghanistan immer noch keine Entwarnung, nein, es soll sogar noch gefährlicher in Deutschland werden. Und zwar nicht deshalb, weil die "Vorwärtsverteidigung der Freiheit", so die euphemistische Verklärung des Terrorkriegs durch Ex-US-Präsident George W. Bush, das Problem erzeugt, das es angeblich abzuwehren gilt. Nein, sinistre Terroristen mißgönnen uns die Vergünstigungen und Freiheiten eines Lebens in relativem Frieden und Wohlstand, tönt es aus den neokonservativen PR-Zentralen, als handle es sich bei ihren Adressaten um auf hohem Niveau debil gewordene und daher für jede intellektuelle Zumutung empfängliche Menschen.

Es bedurfte nicht erst der WikiLeaks-Enthüllungen, um zu verstehen, daß zwischen öffentlicher Legitimationsproduktion und realer Machtpolitik eine erhebliche Lücke klafft, die zu brücken unter Strafe des Targeted Killing stehen könnte, wie die Mordaufrufe gegen Julian Assange nahelegen. Im Falle des Afghanistankriegs wird diese Legitimation seit jeher mit angeblich von dort ausgehender Terrorgefahr erwirtschaftet. Diese auf dem Kopf stehende Kausallogik wird seit einigen Monaten allmählich auf die Füße geostrategischer Zweckrationalität gestellt, die den Afghanistankrieg nicht legitimer, aber verstehbarer macht. Seit Bundespräsident Horst Köhler das Eis gebrochen hat und dafür schmählich abging, wandelt Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg völlig unbeschadet in dessen Spuren und propagiert eine imperiale Logik, die Kriegsgegner seit jeher als maßgeblichen Antrieb für die Ausweitung der Landesverteidigung in alle Welt anprangern. Der mit NATO-Interna bestens vertraute Deutschlandfunk-Militärexperte Rolf Clement faßte dies in einem Kommentar zum NATO-Gipfel in Lissabon und der angeblichen Absicht, die Besatzungstruppen am Hindukusch bis 2014 abzuziehen, so zusammen:

"Die Industriestaaten haben ein großes Interesse daran, in Afghanistan präsent zu bleiben. Denn geopolitisch ist die Präsenz dort von hoher Bedeutung. Diese Präsenz ist der Fuß, den die Industriestaaten im islamistischen Krisengürtel haben müssen - zwischen dem Iran und Pakistan, südlich des islamischen Gürtels, der aus der ehemaligen Sowjetunion hervorgegangen ist." [2]

Clement macht kein Hehl daraus, daß die Abzugsdebatte keineswegs den vollständigen Rückzug der NATO-Truppen vom Hindukusch zum Ziel hat. Er gibt allerdings zu bedenken, daß die NATO ein Kommunikationsproblem hat. Sie müsse "für ihr langfristiges Wirken dort werben - in der eigenen Öffentlichkeit, aber auch, um die Aufständischen dort nicht zu ermuntern, dass man bald abzieht. Die NATO macht das Richtige, aber sie verkauft es falsch." [2] Das wurde auch von Horst Köhler behauptet, der doch nur ausgesprochen habe, was in diversen strategischen Entwürfen der Bundeswehr und NATO bereits enthalten ist.

Die Ausweitung der Kriegslegitimation ist auch aus anderen Gründen erforderlich. Eine aktuelle repräsentative Umfrage von ARD, ABC, BBC und Washington Post hat ergeben, daß das Ansehen der Bundesrepublik in Afghanistan niemals niedriger und die Bereitschaft, mit militärischen Mitteln gegen sie vorzugehen, niemals höher war. Im Besatzungsgebiet der Bundeswehr haben 39 Prozent der Befragten Anschläge auf NATO-Soldaten befürwortet, während der landesweite Wert bei 27 Prozent liegt. Die Zustimmung zum bewaffneten Widerstand ist landesweit innerhalb eines Jahres um 19 Prozent gewachsen und damit wieder fast so hoch wie 2005, als sie landesweit bei 30 Prozent lag [3].

Die von der Bundesregierung ausgegebene Devise, sich mit einer baldigen Übergabe der Aufgaben der NATO an die afghanische Regierung aus der Affäre ziehen zu können, erscheint vor dem Hintergrund der langfristigen Absichten der NATO wie der anwachsenden Kampffähigkeit der Taliban und anderer bewaffneter Besatzungsgegner nicht eben glaubwürdig. Man schindet Zeit und schaut darauf, was die US-Regierung tut, deren Politik in Afghanistan für die europäischen Verbündeten maßgeblich war und ist . Auch zu dieser Erkenntnis bedurfte es nicht der WikiLeaks-Enthüllungen, denen zu entnehmen ist, daß der heutige EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy bereits im Januar 2010 gegenüber einem US-Diplomaten erklärt hat, daß man nur noch aus "Respekt den Amerikanern gegenüber" in Afghanistan ausharre.

"Respekt" war auch vor neun Jahren nicht der Grund für die Erklärung des Bündnisfalls durch die NATO, sondern schlichtes Machtkalkül. Die Europäer wollen ihre strategische Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen, wenn der Bär erlegt wird, sie wollen bei der Verteilung seines von immer größeren Kahlstellen gezeichneten Fells nicht zu kurz zu kommen. Wenn sich nun ankündigt, daß der Krieg in Afghanistan seitens der Besatzungsgegner eher härter und entschiedener geführt werden wird, dann treffen sie auf eine in ihrem ökonomischen Kern erschütterte NATO, die mehr Gründe denn je hat, ihre Zahlungsfähigkeit letztinstanzlich durch militärische Aggressivität unter Beweis zu stellen. Es dürfte in Anbetracht der fortgesetzten Umverteilung von unten nach oben nicht unmöglich sein, die durch die jüngsten Bedrohungsmeldungen bereits erfolgte Alarmierung der Bevölkerung auf dem Boden der von den Sarrazin und Broder vorbereiteten nationalen Schicksals- und Kampfgemeinschaft fruchtbar werden zu lassen. Die Bevölkerung zur Unterstützung verlustreicher Kriege zu veranlassen kann nur gelingen mit einer Feindbildproduktion, gegenüber der die bisherige Irrationalität des Terrorkriegs harmlos erscheint.

Fußnoten:

[1] http://www.google.com/hostednews/afp/article/ALeqM5iypchkBbAK-8YsNU0ACpfdON1mrg?docId=CNG.2131e15ea645682ab516941b35b82fc5.01

[2] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kommentar/1325562/

[3] http://newsticker.sueddeutsche.de/list/id/1079318

6. Dezember 2010