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KRIEG/1556: Neofeudale Kolonialherrenmentalität fällt Besatzern auf die Füße (SB)



Wer wie die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten geostrategische Kriegszüge zum Kampf der Kulturen erklärt und den Islam zum Feindbild der westlichen Welt hochstilisiert, muß sich nicht wundern, wenn ihm die eigene Doktrin auf die Füße fällt. Die Afghanen haben viele Gründe, die Besatzer samt deren Marionetten in Kabul zum Teufel zu wünschen. Armut und Hunger, Lebensgefahr und Vertreibung, Perspektivlosigkeit und Entwürdigung haben im Laufe des mehr als zehnjährigen Besatzungsregimes für die Mehrheit der Bevölkerung zugenommen, während sich eine Minderheit von Profiteuren an den fließenden Geldern mästet und folglich nichts sehnlicher wünscht, als die Fortschreibung des Kriegszustands. Die Woge des Aufbegehrens bricht sich zum Entsetzen der westlichen Mächte an jenen Schnittstellen Bahn, wo die Erniedrigung und Verhöhnung der eigenen Identität für die Menschen unerträgliche Züge annimmt. War die Verbrennung des Korans, dessen verkohlte Exemplare afghanische Arbeiter auf einer Müllhalde des US-Stützpunkts Bagram bei Kabul fanden, in ihrer nicht zu überbietenden Ignoranz und Verachtung eine Ausgeburt der neofeudalen Kolonialherrenmentalität, so zahlen die Besatzer nun den Preis, daß das fadenscheinige Lügengebäude ihres geordneten Abzugs samt einer Übergabe der Verantwortung an die einheimischen Sicherheitskräfte vollends zusammenbricht.

Auf dem NATO-Gipfel, der im Mai in Chicago über die Bühne gehen soll, wollen die Kriegsherren des nordatlantischen Militärbündnisses gemeinsam mit ihrem Statthalter Hamid Karsai ein neues Kapitel der alten Farce schreiben und den Abschluß des fiktiven Transformationsprozesses bis Ende 2014 proklamieren. Durch enge Zusammenarbeit mit Polizei und Militär Afghanistans im Zuge der Ausbildung, Finanzierung und Bewaffnung soll ein Vertrauensverhältnis wachsen, dem es freilich schlecht zu Gesicht steht, wenn Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte allenthalben Hand an ihre ausländischen "Partner" legen. Seit Monaten häufen sich Zwischenfälle, bei denen NATO-Soldaten von uniformierten Afghanen erschossen oder verwundet werden, was die Regierung in Paris im Januar bewog, nach dem Tod von vier französischen Soldaten ihr militärisches Ausbildungsprogramm zu suspendieren. Erst vor wenigen Tagen wurden zwei US-Soldaten in einem Stützpunkt im Osten des Landes von einem Angehörigen der afghanischen Streitkräfte tödlich getroffen.

Mit dem gewaltsamen Ende von zwei US-Offizieren mitten im afghanischen Innenministerium ist nun eine Qualität des Widerstands erreicht, der den Besatzern offensichtlich den Angstschweiß auf die Stirn treibt. Die beiden aus nächster Nähe erschossenen Berater wurden tot in einem Zimmer des streng bewachten Ministeriums gefunden, womit der flüchtige Täter über Zugang zu Bereichen mit höchster Sicherheitsstufe verfügt haben mußte, da er Überwachungskameras und spezielle Schlösser passieren konnte. Das Innenministerium verdächtigt einer seiner Mitarbeiter der Tat, die Taliban bekannten sich umgehend zu dem Anschlag und reklamierten den 25jährigen Polizisten als Helden für sich und die Vergeltung der Koran-Schändung durch US-Truppen. [1]

Wie tief der jüngste Gegenschlag die westlichen Okkupationsmächte ins Mark flüchtiger Sicherheit trifft, unterstreicht die postwendende Reaktion der NATO, ihr gesamtes Personal aus den Ministerien der Hauptstadt abzuziehen. Das Bündnis wolle mit dieser Maßnahme ihre Mitarbeiter schützen, erklärte der Kommandeur der ISAF-Truppen, John Allen. Mit dieser Bankrotterklärung räumen die Besatzer ein, daß den einheimischen Sicherheitskräften nicht zu trauen ist und die Taliban vermutlich sämtliche Behörden des Landes unterwandert haben. Solange nur einfache Soldaten bei derartigen Anschlägen starben, spielte man Ausmaß und Bedeutung derartiger Vorfälle herunter und sprach von Einzelfällen, die nichts am Fahrplan der Übergabe an die einheimischen Sicherheitskräfte ändern könnten. Wenn aber selbst US-Offiziere in Ministerien mit der höchsten Sicherheitsstufe erfahren, wie es zahllosen Afghanen seit Jahr und Tag ergeht, greift Panik um sich.

US-Verteidigungsminister Leon Panetta forderte seinen afghanischen Kollegen Abdul Rahim Wardak in einem Telefongespräch auf, den Schutz der NATO-Truppen zu verbessern. Wenngleich beiden völlig schleierhaft sein dürfte, wie das zu bewerkstelligen sei, wo man doch als Besatzer gerade jenen Afghanen nicht trauen kann, die zum Schutz abgestellt werden, entschuldigte sich Wardak eilfertig und versicherte, Präsident Hamid Karsai habe bereits führende Vertreter aus Religion, Politik und Justiz einbestellt, um dringende Schritte zur Eindämmung der Gewalt einzuleiten. Diesen Aufruf zu Ruhe und Dialog begrüßte wiederum Präsident Barack Obama, der behauptete, die Vereinigten Staaten stünden weiter zur Partnerschaft mit der afghanischen Regierung und dem afghanischen Volk.

Was dem afghanischen Volk zugedacht ist, unterstreicht der Tod jener 28 Menschen, die im Zuge der aktuellen Protestwelle gegen die Verbrennung der heiligen Schriften erschossen worden sind. In verschiedenen Landesteilen zogen am Wochenende erneut Tausende auf die Straße, wobei vier Afghanen von einheimischen Sicherheitskräften getötet und Dutzende verletzt wurden. Drei Menschen starben in der nördlichen Provinz Kundus, wo die Bundeswehr im Einsatz ist, als Hunderte Menschen versuchten, ein UN-Gebäude zu stürmen. Südlich der Hauptstadt Kabul kam es in der Provinz Logar zu einer Schießerei, als wütende Demonstranten, die "Tod für Amerika" skandierten, mit den Sicherheitskräften zusammenstießen. [2]

Wenn in hiesigen Medien unisono das Mantra wiedergekäut wird, die Ereignisse zeugten von der tiefen kulturellen Kluft zwischen den USA und Afghanistan auch mehr als zehn Jahre nach dem Einmarsch der US-Truppen zum Sturz der islamistischen Taliban, können sich die Bundesbürger getrost an die eigene Nase fassen. Wer den Krieg der Kulturen als Vorwand für die Durchsetzung der neuen Weltordnung vom Zaun bricht oder der alltäglichen Islamfeindlichkeit huldigt, zieht am selben Strang neoimperialistischer und sozialrassistischer Suprematie.

Als Barack Obama nach der Koranverbrennung um Entschuldigung bat und von einem schrecklichen Fehler sprach, meinte er weder den Angriffskrieg noch das endlos anmutende Besatzungsregime, nicht die zahllosen getöteten Afghanen oder die Verelendung des ohnehin armen Landes. Der US-Präsident bedauert allenfalls den Umstand, daß sich der Unmut der afghanischen Bevölkerung um einen neuen Kulminationskern sammelt und zum Ausbruch drängt, der das Schmierentheater des geordneten Übergangs bloßstellt. Einer CNN-Umfrage vom letzten Oktober zufolge hatte die Zustimmung zum Afghanistankrieg in den USA mit nur noch 34 Prozent den tiefsten Wert seit 2001 erreicht. Besser dürfte er derzeit kaum sein, wenn US-Offiziere im afghanischen Innenministerium von einem einheimischen Polizisten erschossen werden, dessen Waffe und Munition der US-amerikanische Steuerzahler finanziert hat.

Ein Trost bleibt den Besatzern immerhin: Niemand muß fürchten, zu enden wie seinerzeit General William George Keith Elphinstone. Der britische Befehlshaber mußte sich im Januar 1842 fluchtartig aus Kabul zurückziehen, worauf seine rund 16.500 Menschen zählende Kolonne britischer und indischer Soldaten samt einem beträchtlichen Troß von Kollaborateuren über eine Woche lang von afghanischen Kämpfern verfolgt und schließlich am Gandamak-Paß bis auf einen einzigen Überlebenden abgeschlachtet wurde. Geschichte wiederholt sich nicht, weiß man in Washington und den europäischen Hauptstädten, sofern man wie im Irak das angerichtete Desaster rechtzeitig sich selbst überläßt.

Fußnoten:

[1] http://de.reuters.com/article/worldNews/idDEBEE81P03O20120226

[2] http://www.stern.de/politik/ausland/nach-koran-protesten-in-afghanistan-nato-reagiert-mit-abzug-auf-toedliche-schiesserei-1791694.html

26. Februar 2012