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KRIEG/1615: Definitionsmacht der Aggressoren - In Syrien geht die Kriegsmoral auf (SB)




So erfreulich die Entscheidung des britischen Unterhauses gegen eine Beteiligung am Angriff auf Syrien ist, so sehr ebnet sie den Weg in eine beschleunigte Eskalation. Seit Bekanntwerden der Nachricht, daß der engste Verbündete der USA zumindest nicht sofort für eine militärische Aggression zur Verfügung stehen wird, ist der Tonfall der US-Regierung noch offensiver geworden. Mit der Erklärung des US-Außenministers John Kerry, laut eigener Geheimdiensterkenntnisse liege die Urheberschaft des mutmaßlichen Giftgasangriffs eindeutig bei der syrischen Regierung, greift die US-Regierung dem Ergebnis der UN-Waffeninspekteure für den Fall der Fälle vor, daß es nicht in ihrem Sinne sein könnte. So kann US-Präsident Barack Obama Tatsachen schaffen, bevor ein womöglich länger dauernder Verhandlungsprozeß im UN-Sicherheitsrat beginnt. Zudem ist ein die Regierung Assad belastender Geheimdienstbericht geeignet, die Vereinten Nationen dazu zu nötigen, die Sprachregelung des UN-Berichts mit einem größeren Interpretationsraum zu versehen.

Die scharfe Gangart Washingtons besagt, daß die Stunde der Exekutive geschlagen hat. Gerade weil sich die NATO-Verbündeten bis auf Frankreich und die Türkei zurückhaltend zeigen, will die US-Regierung die Gunst der Stunde nicht ungenutzt verstreichen lassen, läßt sich die von den Politikern und Medien der NATO-Staaten aufgebaute Bezichtigung der syrischen Regierung doch nicht sehr lange in einem Stadium halten, das angeblich nach entschiedenen Maßnahmen verlangt. So dünn der Faden der konkreten Beweislage für die Verwendung chemischer Waffen durch die syrischen Streitkräfte auch sein mag, hält er doch die moralische Empörung, die im Ruf nach einer "Bestrafung" der Regierung Assad laut wird.

Im Fall Syrien ist das Verhältnis von moralischer Symbolpolitik und machtgestützter Hegemonialpolitik auch deshalb so weit aufgespannt, weil die NATO-Staaten längst verbrochen haben, was sie ihren Gegnern auch immer vorwerfen mögen. Der bis heute tödliche Folgen zeitigende Chemiewaffeneinsatz in Vietnam, die Verwendung von weißem Phosphor bei der systematischen Zerstörung der irakischen Stadt Fallujah oder die extensive Verwendung von abgereichertem Uran in allen jüngeren Kriegen der NATO-Staaten sind nur drei Beispiele von vielen, die die moralische Korrumpiertheit eines Militärbündnisses belegen, dessen führende Staaten sich zudem zu notorischen Überschreitern des Gewaltverbots der UN-Charta entwickelt haben. Legitimation wird jedoch nicht vor Gericht erwirtschaftet, vor das die Aggressoren aus den Reihen der NATO niemals treten werden, sondern wird in einem Informationskrieg reklamiert, dessen erfolgreiche Durchführung im ultimativen Vollzug des strafenden Gewaltaktes besteht. Die Wirkung mit materieller Übermacht geschaffener Tatsachen zeitigt die Gründe, die sie legitimieren, und nicht umgekehrt.

Die Dialektik des herrschenden Gewaltverhältnisses entwickelt sich über die straflos vollzogene Aggression zur rückwirkenden Bestätigung der Triftigkeit des Zerstörungswerkes. Im Irak war schon vor Beginn des Überfalls im März 2003 klar, daß die USA und ihre Verbündeten auf Grundlage höchst fadenscheiniger Indizien handelten, deren unterstellte Relevanz sie zudem durch die Mißachtung des UN-Sicherheitsrates dementierten. Anschließend wurde in Politik und Medien der NATO-Staaten geurteilt, daß der offizielle Kriegsgrund sich zwar als falsch erwiesen habe, der Sturz Saddam Husseins den Angriff auf das Land dennoch rechtfertige. Schlußendlich wurden die USA vom UN-Sicherheitsrat mit der Sachwalterschaft für die Zukunft des von ihren Truppen besetzten Landes betraut.

Dementsprechend bestätigt der Verweis auf doppelte Standards, die sich die NATO-Staaten dadurch zuschulden kommen lassen, daß sie Menschenrechte erwirken, indem sie Menschen umbringen, daß sie die Demokratie einführen, indem sie unterdrückten Menschen die Möglichkeit nehmen, sich zu befreien, oder daß sie die Rechte von Frauen durchsetzen, indem sie deren Kinder aushungern und umbringen, die Definitionsmacht der Aggressoren. Solange die von ihnen in Anspruch genommenen universalen Werte den Nimbus unberührbarer Instanzen behalten, denen sich alle zu unterwerfen haben, die diesen Stand zivilisatorischer Entwicklung noch nicht erreicht hätten, solange wird das materialistische Fundament imperialistischer Politik leichtfertig ignoriert. Wenn doppelte Standards schließlich im Vollzug kriegerischer Aggression zum Ausweis der Handlungsfähigkeit jener geraten, die sich widersprüchliches Verhalten leisten können, weil es keine Macht der Welt gibt, die sie zur Rechenschaft ziehen könnte, dann zeigt sich, wie fatal eine Friedensforderung sein kann, die nicht daran erinnert, daß der Friede der Hütten nur gegen den der Paläste errungen werden kann.

Um es dazu auf keinen Fall kommen zu lassen, bedienen sich die NATO-Staaten der reaktionärsten Regimes des Nahen und Mittleren Ostens, die alles torpedieren, was den Charakter einer sozialen Revolution annehmen könnte. Auf der Agenda der regionalen Entwicklung ist die Emanzipation der Bevölkerungen, die durch die postkoloniale Ordnung in grausame, zum Nutzen lachender Dritter instrumentalisierte Fraktionskämpfe getrieben wurden und von materiellen Notlagen insbesondere bei der Versorgung mit Wasser und Nahrung gebeutelt sind, längst überfällig. Die Bruchlinien nationalstaatlicher und sozialer Widersprüche werden mit großem Erfolg dazu genutzt, die gesellschaftliche Regulation in den Händen der transnationalen Akteure aus Staat und Kapital zu belassen. So wird der Grundkonflikt zwischen einer Selbstbestimmung, die wie im Fall der Kurden oder Palästinenser dem Stand ihrer Unterdrückung gemäß internationalistisch sein muß, ohne deswegen reaktionär zu sein, wie von interessierter Seite gerne behauptet wird, und einer Fremdherrschaft, die das Interesse der westlichen Hegemonialmächte verkörpert, gewaltsam zugunsten der Fortschreibung von Verhältnissen entschieden, die nicht im Sinne der von ihnen Betroffenen sein können.

Von daher sind die NATO-Staaten alles andere als bloße Zuschauer einer von den USA und womöglich Frankreich vollzogenen Aggression. Die Abwägung zwischen momentaner Zurückhaltung und aktiver Beteiligung orientiert sich an den jeweiligen Erfordernissen einer Eskalationslogik, deren Handlungsbedarf durch jeweils neu definierte rote Linien antizipiert wird. Wie Markus Kaim, Leiter der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik, zu behaupten, die Gefahr eines regionalen Flächenbrandes drohe eher nicht, repräsentiert den Blick der Kommandohöhe, wo man - aus subjektiver Sicht durchaus berechtigt - glaubt, jeglichen Kontrollverlust noch auf irgendeine Weise in einen strategischen Vorteil verwandeln zu können. Kaims Argument, der Konflikt habe ja bereits in Nachbarländer wie den Libanon oder Irak ausgestrahlt, obwohl der Westen noch nicht interveniert habe, macht die Rechnung ohne das langjährige Schüren regionaler Spannungen durch den Überfall auf den Irak, die Isolation des Iran, die Bombardierung des Libanon und die aktive Bekämpfung der Arabellion von Libyen bis Ägypten auf.

Kaims Vermutung, man könne einen Angriff auf Syrien auch als "bewussten Versuch lesen, diesen Konflikt einzuhegen und ihn einer politischen Regelung zuzuführen" [1], stellt den Vorgriff auf eine Nachkriegsordnung dar, die die Zerschlagung der staatlichen Integrität Syriens zugunsten der leichteren Beherrschbarkeit verbleibender Partikel zum Ziel haben könnte. Dennoch entzieht sich die von Obama angekündigte Befristung eines Angriffs auf das Land jeder Kalkulierbarkeit, stellt man nur die Möglichkeit weiterer Provokationsakte in Rechnung. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hat bereits entsprechende Vorkehrungen getroffen, indem er einen Angriff Syriens auf die Türkei als Kriegsgrund für die Militärallianz ausweist.

Vor allem jedoch wird unterschlagen, daß die Bezichtigung, die Regierung Rußlands beeinträchtige die Funktionsfähigkeit des UN-Sicherheitsrates durch ihre angebliche Blockadehaltung, die Bedeutung des Landes als geostrategischer Akteur insgesamt aufheben soll. Rußland ist durch die Aggression gegen Syrien in seiner Interessensphäre so akut bedroht, daß die schlimmste Konsequenz des möglichen Flächenbrandes in einer direkten militärischen Konfrontation zwischen NATO und dem Nachfolgestaat der Sowjetunion besteht. Hier wird nicht nur mit dem Feuer gespielt. Mit der absehbaren Fortsetzung der Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens in Richtung Iran und dem dadurch bewirkten Ausmanövrieren Rußlands wird auf eine unumkehrbare Veränderung der globalen Hegemonialordnung zugunsten der NATO-Staaten und die damit einhergehende Vernichtung verbliebener Handlungsspielräume für antagonistische Kräfte aller Art gesetzt. Kein Wunder, daß moralisch so hoch gepokert wird - der Einsatz ist es allemal wert.


Fußnote:

[1] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/2232853/

30. August 2013