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KRIEG/1753: Rojava - von Mißgunst umgeben ... (SB)



Von Verrat durch die USA zu sprechen, wie in der bürgerlichen Presse zu lesen, ist ebenso unangebracht wie den nordsyrischen Kurden Verrat am antiimperialistischen Konsens anzulasten. Sich darüber zu echauffieren, daß die nordsyrischen KurdInnen als diejenigen, die im Kampf gegen den IS die Hauptlast getragen und rund 11.000 Gefallene zu beklagen haben, nun von den USA im Stich gelassen werden, kann nur vor dem Glauben an eine Staatenordnung verfangen, die im Sinne der Menschenrechte und des internationalen Rechtes prinzipiell funktional und akzeptabel sei. Der vermeintlich ausgleichenden Wirkung des Rechtes ist die Herrschaft einer Eigentumsordnung synonym, die nicht danach fragt, warum der relative Wohlstand der BundesbürgerInnen eine Vielzahl versklavter Existenzen in aller Welt bedarf. Unrecht ist die Basis eines Rechtes, dessen materialistische Bedingungen nicht in Frage gestellt werden, denn es soll die Gesellschaft befrieden, ohne deren konstitutive Widersprüche zuvor beseitigen zu müssen.

Die US-Regierung konnte die KurdInnen nicht verraten, weil aus den Reihen der PYD und YPG/YPJ nie etwas anderes zu vernehmen war, als daß es sich um ein Zweckbündnis handelt, das voraussichtlich so enden wird, wie es nun geschehen ist. Wenn die SachwalterInnen globalen Hegemonialstrebens mit allen Krokodilstränen, die zu vergießen sie in der Lage sind, den wiederholten Verrat an den KurdInnen beweinen, bleiben die sozialen und emanzipatorischen Errungenschaften Rojavas weitgehend ausgeklammert. Die herrschenden Verhältnisse sollen trotz ihrer Unvereinbarkeit mit einem menschenwürdigen Dasein fortdauern, so bedient man sich der paternalistischen Sicht, die KurdInnen einmal mehr zu ohnmächtigen Opfern des ihnen vorenthaltenen historischen Rechtes auf einen eigenen Staat zu erklären. Sich statt dessen darüber klarzuwerden, daß der Primat des in Anspruch genommenen internationalen Rechtes praktisch keine Auswirkungen auf seinen Bruch durch das Erdogan-Regime hat, hieße auch, Rechenschaft für die Konsequenz imperialistischen Regierungshandelns der NATO-Staaten abzulegen. Sie zeigt sich in der Angst vor der Ankunft flüchtender Menschen und dem Eindringen neuer Terroristen in die EU, als handle es sich dabei um ein Naturereignis und nicht die zumindest mittelbare Folge eigener Politik. Auch von daher kann von solidarischer Unterstützung Rojavas keine Rede sein.

Eine Gesellschaft zu entwickeln, die nicht eines international anerkannten Staates bedarf, um dennoch lebenswerte Verhältnisse zu schaffen, ist im kapitalistischen Weltsystem nur mit Hilfe des geschickten Taktierens mit möglichen Bündnispartnern, unter deren Schutz sich überhaupt befristete Freiräume etablieren lassen, möglich. Nun empfiehlt die staatsaffine Linke den syrischen KurdInnen, sich wieder dem Regime Assads zu unterwerfen, als hätten sie nicht genug unter seiner Repression zu leiden gehabt. Die Mißachtung der Bedeutung Rojavas als progressive, multiethnische, geschlechtergerechte und sozialökologisch suffiziente Ausnahmeerscheinung unter den von Kriegen zerrissenen und Umweltproblemen verwüsteten, von islamistischem Rigorismus und patriarchalem Stammesdenken autoritär unterdrückten Gesellschaften durch die staatsaffine Linke ist im Zweifelsfall Wasser auf die Mühlen des rassistischen und antifeministischen Ressentiments, mit dem politisch rechtsstehende Menschen reflexartig auf die kurdische Freiheitsbewegung reagieren.

Wenn Ankara, Moskau, Washington und Damaskus nun eine Übereinkunft über die Zukunft der Region treffen, dann wollen sie das Ende des Projektes Rojava auch deshalb herbeiführen, weil es keine Freiräume für emanzipatorische und sozialrevolutionäre Gegenentwürfe in dieser, vermeintlich ihrer Welt geben soll. Wie erfolgreich die Schaffung einer basisdemokratisch und selbstorganisierten Region innerhalb Syriens auch immer ist, die Fans von Assad und Putin, von Trump und Erdogan haben für Experimente, die den Durchgriff autoritärer Staatlichkeit unterminieren, nichts übrig. Sie empfinden alles, was sich aus einer Position der Schwäche aufmacht, grundstürzende Fragen zu stellen und die daraus resultierenden Ziele streitbar zu vertreten, als Bedrohung eigener Aktien im Geschäft autoritärer Staatlichkeit.

13. Oktober 2019


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