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KOLLATERAL/003: Libyen - Europas Wächter (german-foreign-policy.com)



www.german-foreign-policy.com - 22.02.2012

Europas Wächter

TRIPOLIS/BERLIN - Ein Jahr nach dem Beginn der Revolte in Libyen erheben Menschenrechtsorganisationen schwere Vorwürfe gegen das vom Westen in Tripolis an die Macht gebombte Regime. Der Nationale Übergangsrat und seine westlichen Partner unternähmen nichts, um die unzähligen Milizen im Land zu entwaffnen und Folter und Mord Einhalt zu gebieten, heißt es in Stellungnahmen. Die Médecins Sans Frontières berichten, Milizionäre hätten zuletzt versucht, ihre ärztliche Tätigkeit in illegalen Haftzentren zu missbrauchen, um Folteropfer für weitere Folter fit zu machen. Während erbitterte Kämpfe zwischen rivalisierenden Milizen fortdauern, bemüht sich Berlin um neuen Einfluss in dem kriegszerstörten Land. Als Instrument dient nicht zuletzt die Friedrich-Naumann-Stiftung (FDP), die Zugänge zu liberalen Kreisen in den Großstädten Libyens zu schaffen sucht. Die BASF-Tochter Wintershall kämpft weiter darum, ihre Ölproduktion wieder auf Vorkriegsniveau hochfahren zu können - bislang ohne Erfolg. Lediglich die Migrationsabwehr schreitet merklich voran: Bewaffnete libysche Kräfte haben Schritte eingeleitet, um unerwünschte Migranten von der Reise nach Europa abzuhalten - in Abstimmung mit der EU.


Folter mit Todesfolge

Wie unterschiedliche Menschenrechtsorganisationen unabhängig voneinander schildern, dauern in Libyen brutale Kämpfe zwischen den zahllosen Milizen, aber auch Folter und Mord ungebrochen an. Demnach existieren beispielsweise rund 60 illegale Haftzentren im Land, die von Milizen vor Ort betrieben werden und keinerlei Kontrolle unterliegen. Dort würden, heißt es in verschiedenen Berichten, rund 8.500 Menschen festgehalten. Zahlreiche Fälle von Folter sind belegt; so fand die Menschenrechtsorganisation Amnesty International in zehn der elf Haftzentren, die sie inspizierte, Folteropfer vor. Mehrere Fälle von Folter mit Todesfolge sind dokumentiert. Kürzlich berichtete die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, ein ehemaliger libyscher Diplomat, der zuletzt für das Übergangsregime tätig gewesen sei, sei von einer Miliz verschleppt und offenbar zu Tode gefoltert worden. Sein Leichnam habe typische Folterverletzungen aufgewiesen; so seien etwa die Zehennägel des Mannes ausgerissen worden. Die Vereinigung Médecins Sans Frontières hat Ende Januar ihre Tätigkeit in den Haftzentren eingestellt, da sie missbraucht wurde, um Folteropfer für erneute Folter fit zu machen. Der Übergangsrat "und seine internationalen Unterstützer", verlangt Human Rights Watch, müssten dem Aufbau eines funktionierenden Justizsystems endlich Priorität einräumen, damit die Menschenrechtsverletzungen ein Ende fänden.[1]


Zugänge

In der unübersichtlichen, von brutaler Gewalt geprägten Lage bemüht sich Berlin um den Aufbau neuen Einflusses. Man unterstütze das Land "aktiv beim Staatsaufbau", heißt es beim Auswärtigen Amt; so fördere man "Projekte" etwa "für neue Medien oder im Bereich der Verfassungsberatung".[2] Auf beiden Feldern ist die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung tätig. Die Organisation hat bereits vergangenen Juli begonnen, von Kairo aus Kontakte zu libyschen Journalisten zu knüpfen und diese in Workshops weiterzubilden. Meinungsmachern kommt einige Bedeutung bei dem Versuch zu, staatliche Strukturen in Libyen neu zu errichten. Ende 2011 konnte die Stiftung zum ersten Mal im Land selbst auftreten; sie führte eine Konferenz mit mehr als hundert Teilnehmern durch, um vor allem liberale, für europäischen Einfluss offene Kräfte zu stärken. Kürzlich hat sie auch eine Kooperation mit der Universität Benghazi gestartet, die auf die Begleitung von Wahlen und Parteiaufbau zielt. Ein Zugang zumindest zu liberalen Kräften in Libyen ist somit geschaffen.


Geschäfte

Gleichzeitig bemühen sich deutsche Unternehmer, trotz der desolaten Lage neue Geschäftschancen zu eruieren oder bereits bestehende Geschäftsbeziehungen wieder in Gang zu bringen. Für nächste Woche kündigt der Afrika-Verein der deutschen Wirtschaft ein in Tripolis stattfindendes "Deutsch-Libysches Wirtschaftsforum" an, bei dem es möglich sein soll, Kontakte herzustellen oder wieder aufzunehmen. Die kriegsbedingt um 60 Prozent eingebrochene Wirtschaft könne durchaus auf das Vorkriegsniveau zunehmen und auch entsprechende Profite ermöglichen - "vorausgesetzt, dass die Sicherheitslage stabil bleibt", heißt es beim Afrika-Verein.[3] Genau dies aber steht in den Sternen. Hart um ihre Geschäfte kämpft insbesondere die BASF-Tochter Wintershall. Sie gehört bereits seit Jahrzehnten zu den größten Erdölförderern in Libyen, das seinerseits stets ein wichtiger Lieferant für die Bundesrepublik war. Im Februar 2011 musste das Unternehmen seine Produktion vorläufig einstellen, zahlreiche Angestellte wurden damals in einer spektakulären Aktion von den deutschen Streitkräften evakuiert.[4] Im Oktober nahm die Firma, die noch 2010 rund 100.000 Barrel Öl am Tag förderte, ihre Tätigkeit wieder auf und konnte ihre Ausbeute von zunächst 20.000 Barrel auf jetzt 60.000 Barrel am Tag steigern. Dennoch bestehen erhebliche Probleme mit der Infrastruktur fort; wann man in Libyen wieder Gewinne erwirtschaften könne, sei unklar, sagen Firmensprecher.


Migrationsabwehr

Ungeachtet der ökonomischen Schwierigkeiten und der grassierenden Gewalt haben Berlin und die EU mittlerweile begonnen, die noch um die Herrschaft in Libyen kämpfenden Kräfte zur Abwehr unerwünschter Migration zu bewegen. Der Nationale Übergangsrat werde seine "Freunde und Partner im Norden schützen", in dem er "die illegale Einwanderung bekämpfe", teilte Abdul Rahim al Kib, der aktuelle Ministerpräsident Libyens, letzte Woche mit.[5] Schon zuvor hatte der libysche Innenminister zwar offiziell abgestritten, Handlangerdienste für die europäische Migrationsabwehr übernehmen zu wollen, und verkündet, Tripolis werde nicht als "Europas Wächter" auftreten. Doch hatte er diese Ankündigung mit der Aufforderung verknüpft, dem Nationalen Übergangsrat nun mit zusätzlicher finanzieller Unterstützung unter die Arme zu greifen, weil dieser sonst die Flüchtlinge, die nach dem Ende des offenen Bürgerkriegs wieder nach Libyen kämen, um in die EU zu reisen, nicht aufhalten könne. Insbesondere benötige man, ließ der Innenminister verlauten, Geld, um 19 noch zu Gaddafis Zeiten errichtete Haftzentren für Flüchtlinge instand zu setzen und die Grenzen des Landes mit moderner Technologie abzuschotten.[6] Mittlerweile machen erste Berichte von Migranten, die auf dem Weg in die EU von bewaffneten Libyern aufgehalten wurden, die Runde.


Söldner

Berichten zufolge leisten ehemalige libysche Aufständische dem Westen auch in Syrien exklusive Dienste. Die österreichische Tageszeitung "Die Presse" bestätigt nun, was unterschiedliche Quellen bereits zuvor vermeldet hatten: Der libysche Islamist Abd al Hakim Belhaj, der mit seinen Truppen eine wichtige Rolle bei der Eroberung von Tripolis gespielt hatte und danach zum Militärchef der libyschen Hauptstadt ernannt worden war [7], kämpft zur Zeit offenkundig gegen das Regime von Bashar al Assad. Belhaj habe bereits im vergangenen Herbst über Ägypten Waffen nach Syrien geschmuggelt, berichtet das Blatt unter Berufung auf westliche Geheimdienste. Nun hätten gut 250 Milizionäre, mittlerweile möglicherweise sogar 600, unter seiner Führung "vom türkisch-syrischen Grenzgebiet aus den Kampf gegen Assad aufgenommen". Sie würden "immer wieder nach Syrien eindringen", schreibt "Die Presse".[8] Damit leistet der militante Islamist, der im "Anti-Terror-Krieg" von der CIA festgenommen und in libysche Folterhaft verschleppt worden war, seinen neuen westlichen Verbündeten nach der Eroberung von Tripolis einen zweiten militärischen Dienst. Die Zustände in Libyen lassen dabei erahnen, welche Verhältnisse auch in Syrien nach einem möglichen Umsturz Einzug halten können.


Weitere Hintergrundinformationen zur deutschen Libyen-Politik finden Sie in folgenden Artikeln von german-foreign-policy.com:
Weniger Flüchtlinge, mehr Gas, Erfüllungsgehilfen, Der Zerfall eines Partnerregimes, Der Zerfall eines Partnerregimes (II), Die Fahne der Abhängigkeit, Der erste Alleingang, Der lachende Dritte, Abwehr vor Rettung, Anders als die Amerikaner, Arbeit für die Bauindustrie, Die Libyen-Strategie, Wichtiger als Menschenrechte, Aktionsplan Libyen und Eine Atmosphäre der Straflosigkeit.


Anmerkungen:
[1] Libya: Lagging Effort to Build Justice System; www.hrw.org 22.01.2012
[2] Libyen: Beziehungen zu Deutschland; www.auswaertiges-amt.de
[3] 13. Deutsch-Libysches Wirtschaftsforum, Tripolis; www.afrikaverein.de
[4] s. dazu Die Hohe Schule der Infanterie; http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58251
[5] Libyen will illegale Einwanderung nach Europa stoppen; www.europeonline-magazine.eu 13.02.2012
[6] Immigration: Libya "not Europe's guardian", NTC warns; www.ansamed.info, 25.01.2012
[7] s. dazu Wichtiger als Menschenrechte; http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58136
[8] Kämpft "Emir" von Tripolis gegen Assad? diepresse.com 17.02.2012


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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Februar 2012