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LESERBRIEFE/016: Widerspruch! Uri Avnery relativiert die Nakba! (Arn Strohmeyer)


Widerspruch! Uri Avnery relativiert die Nakba!

von Arn Strohmeyer, 20. Mai 2014



In seiner letzten Kolumne "Lieber Salman"(*) relativiert der sonst zumeist so famose Uri Avnery die Nakba in unverständlicher und bedenklicher Weise. Er schreibt da: "Der Krieg von 1948 war eine schreckliche menschliche Tragödie. Beide Seiten glaubten, es sei eine existentielle Schlacht, dass ihr Leben an einem Faden hing. Es wird oft vergessen, dass ethnische Säuberung (den Terminus gab es damals noch nicht) von beiden Seiten praktiziert wurde. Unsere Seite besetzte große Gebiete und schuf so ein riesiges Flüchtlingsproblem; während es der palästinensischen Seite nur gelang, ein kleines Gebiet zu besetzen, wie die Altstadt von Jerusalem und den jüdischen Ezion-Siedlungsblock bei Bethlehem. Aber kein einziger Jude blieb dort."

Und weiter: "Der Krieg war, wie später der bosnische Krieg, ein ethnischer Krieg, in dem beide Seiten versuchten, ein größtmögliches Stück Land zu erobern - ohne Bevölkerung. Als Augenzeuge und Teilnehmer kann ich die Tatsache bezeugen, dass die Ursprünge des Flüchtlingsproblems extrem kompliziert sind. Während der ersten sieben Monate des Krieges waren die Angriffe auf die arabischen Dörfer militärisch absolut notwendig. Zu dieser Zeit waren wir die schwächere Seite. Nach einer Anzahl sehr grausamer Schlachten drehte sich das Rad, und ich glaube, dass eine absichtliche Politik der Vertreibung von der zionistischen Führung ergriffen wurde."

Auch wenn Avnery selbst in diesem Krieg mitgekämpft hat, seine Darstellung klingt sehr einseitig. Die Verfasser zweier Standardwerke dieses Abschnitts der israelischen Geschichte - die beiden Israelis Ilan Pappe und Simcha Flappan - schildern die Vorgänge der Jahre 1947/48 in ihren Werken "Die ethnische Säuberung Palästinas" und "Die Geburt Israels" ganz anders. Da finden sich nirgendwo Angaben, dass auch die palästinensische Seite "ethnisch gesäubert" habe. Das konnte sie auch gar nicht, weil sie außer ein paar Guerillaverbänden gar nicht über eine ernstzunehmende Armee verfügte wie die Zionisten. Die sogenannte "Arabische Befreiungsarmee" - eine Truppe von Freiwilligen aus verschiedenen arabischen Staaten - war für die Hagana kein wirklicher Gegner.

Die Zionisten schlugen schon bald nach dem UNO-Teilungsbeschluss im November 1947 los, um zusätzliche Gebiete zu erobern und die Bildung eines palästinensischen Staates mit allen Mitteln zu verhindern. Die ethnische Säuberung war bestens vorbereitet und erfolgte nach dem Plan D (Dalet). Darin hieß es: "Die Operationen lassen sich folgendermaßen durchführen: entweder durch die Zerstörung von Dörfern (indem man sie in Brand setzt, sprengt und die Trümmer vermint) und insbesondere von Wohngebieten, die auf die Dauer schwer zu kontrollieren sind, oder durch Durchsuchungs- und Kontrolloperationen nach folgenden Richtlinien: Umstellen und Durchkämmen der Dörfer. Im Fall von Widerstand sind die bewaffneten Kräfte auszuschalten und über die Landesgrenzen zu vertreiben." Diese Zitat stammt von Israel Pappe, der sich in seinem Buch immer wieder fragt, wie jüdische Soldaten drei Jahre nach dem Ende des Holocaust so gewalttätig gegen eine wehrlose Zivilbevölkerung vorgehen konnten. Mit Massakern wie dem von Deir Yassin versuchten die Zionisten die Palästinenser in Panik zu versetzen und zur Flucht zu bewegen.

Bis Ende März 1948 konnten die zionistischen Verbände fast alle wichtigen palästinensischen Städte erobern. Bis zum 15. Mai waren schon unzählige Dörfer zerstört und rund 250 000 Palästinenser vertrieben worden. Außerdem hatten die Zionisten ihr Ziel erreicht und große Gebiete besetzt, die für den palästinensischen Staat vorgesehen waren - also noch vor der Gründung des Staates Israel am 18. Mai. Erst in dieser Situation beschlossen die arabischen Staaten, eine Armee nach Palästina zu schicken, die aber so schlecht ausgerüstet war, nicht einmal über ein gemeinsames Oberkommando und eine Koordination untereinander verfügte, dass die Zionisten, die viel besser bewaffnet und motiviert waren, kein Problem mit diesem Gegner hatten. Zudem nahm die stärkste arabische Armee - Jordaniens "Arabische Legion" - an den Kämpfen nur am Rande teil, weil der jordanische König Abdallah ein Geheimabkommen mit den Zionisten geschlossen hatte. Der Mufti von Jerusalem rief zum "heiligen Krieg" gegen die Zionisten auf, aber so gut wie niemand folgte ihm.

Die Israelis fühlten sich in dieser Zeit militärisch so stark, dass ihr Anführer und erster Ministerpräsident Ben Gurion schon von weiteren Eroberungen arabischen Landes träumte. Die Palästinenser verhielten sich in den kriegerischen Auseinandersetzungen weitgehend passiv. Der israelische Geheimdienstmann Ezra Danin meldete: "Die Dorfbewohner lassen keinen Kampfeswillen erkennen." Aus einer Sitzung von Ben Gurions Beratergruppe verlautete, "dass das ländliche Palästina keinerlei Kampfes- oder Angriffswillen zeigte und wehrlos war." Ben Gurion zog daraus die Schlussfolgerung; "dass es am besten sei, die ländlichen Gebiete weiter durch eine Serie von Offensiven zu terrorisieren, damit die gemeldete passive Stimmung anhält." Das Alles ist bei Simcha Flapan und Ilan Pappe gut belegt nachzulesen. Warum - so muss man Uri Avnery fragen - waren die Angriffe auf arabische Dörfer "absolut notwendig"? Im Grunde rechtfertigt er hier die grausame Nakba.

Der sonst so geschätzte Uri Avnery übertreibt also ganz heftig, wenn er behauptet, dass auch die Palästinenser eine ethnische Säuberung durchzuführen versuchten. Dazu waren sie militärisch gar nicht in der Lage. Außerdem gibt es schließlich noch einen kleinen Unterschied zwischen dem Vorgehen beider Seiten: Die Zionisten waren Eindringlinge, eroberten fremdes Land und vertrieben die Menschen daraus. Die Palästinenser wehrten sich mit schwachen Kräften, denn schließlich verteidigten sie ihre Heimat. Das war ihr gutes Recht.


(*) siehe im Schattenblick unter:

www.schattenblick.de → Infopool → Politik → Meinung

STANDPUNKT/372: Lieber Salman (Uri Avnery)

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Quelle:
© 2014 Arn Strohmeyer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Mai 2014