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OFFENER BRIEF/031: An den Bundestagspräsidenten - Bundeswehreinsatz in Afghanistan (Hans Fricke)


Bundeswehreinsatz in Afghanistan

An Bundestagspräsidenten Dr. Norbert Lammert

Von Hans Fricke


From: Hans Fricke

To: praesident@bundestag.de
Sent: Friday, February 26, 2010 3:38 PM
Subject: Bundeswehreinsatz in Afghanistan



Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident,

mit großer Sorge habe ich davon Kenntnis genommen, dass der Deutsche Bundestag heute dem neuen Mandat für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan mit großer Mehrheit zugestimmt hat, welches eine Aufstockung von 4 500 auf 5 350 Soldaten vorsieht, obwohl allen Abgeordnetgen bekannt ist, dass eine Mehrheit von 60 bis 80 Prozent der Bundesbürger gegen den Afghanistankrieg ist und 69 Prozent einen schnellen Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan ohne Wenn und Aber fordern. Das beweisen nicht nur wiederholte Umfragen von Meinungsforschungsinstituten und Medien, sondern auch die vielen Tausend Demonstranten landauf, landab in den vergangenen Jahren sowie vor der heutigen Abstimmung im Bundestag. Diese Forderungen der Mehrheit unseres Volkes werden, wie auch Ihnen bekannt sein dürfte, von Monat zu Monat lauter!

Das heutige Abstimmungsergebnis wird ein weiteres Mal zur Folge haben, dass noch mehr Bundesbürger die berechtigte Frage stellen: Was ist das für eine Volksvertretung und was sind das für Volksvertreter, die sich seit Jahren über den erklärten Willen ihres Wahlvolkes bewusst hinwegsetzen und die Forderungen der US-Administration, der NATO sowie der bis ins Mark korrupten, betrügerischen und vom Volk nicht legitimierten afghanischen "Regierung" von Amerikas Gnaden nach Fortsetzung, ja sogar nach Ausweitung des Angirffskrieges, über den Willen der Mehrheit des eigenen Volkes stellen?

Vor dem Hintergrund des oben Gesagten möchte ich Sie wissen lassen, dass die Bundestagsabgeordneten der Partei DIE LINKE mit ihrem heutigen Auftreten im Bundestag ganz in meinem Sinne gehandelt haben. Deren Aufsehen erregende plakative Erinnerung an die vielen unschuldigen zivilen Opfer des vom Bundeswehroberst Georg Klein befohlenen Kriegsverbrechens in Kundus und ihre kategorische Ablehnung des neuen Mandats für den weiteren Bundeswehreinsatz gereicht allen Parlamentariern zur Ehre, die sich dem Volkswillen gegenüber verpflichtet fühlen, und darum bekunde ich ihnen auch meinen Respekt.

Leider kann ich das Gleiche nicht von Ihrer Entscheidung, sehr geehrter Herr Bundestagspräsident, sagen, die Abgeordneten der Linkspartei wegen ihres demonstrativen Hochhaltens der Namen unschuldig ermordeter afghanischer Zivilisten, darunter viele Kinder, des Saales zu verweisen, was auch für all jene Abgeordneten der Kriegsfraktionen gilt, die Ihre Entscheidung mit Beifall begrüßten.

Wie ich las, haben Sie Ihre Entscheidung, die in dieser Form in der Geschichte des Bundestages bisher einmalig ist, mit der Geschäftsordnung des Bundestages begründet. Bitte erlauben Sie mir, darauf aufmerksam zu machen, dass besagte Geschäftgsordnung meines Wissens nach für Friedenszeiten erlassen wurde, nicht aber für Zeiten, in denen sich unser Land in einem Angriffskriegt befindet, in dem schon über 30 Angehörige der Bundeswehr ihr Leben lassen mussten und Tausende in ihrer Gesundheit nachhaltig geschädigt wurden. Wir leben also in einer Ausnahmesituation, die nicht das deutsche Volk zu verantworten hat, und diese Ausnahmesituation rechtfertigt nicht nur, sondern gebietet nach meinem Dafürhalten auch Maßnahmen, die unter "normalen" Verhältnissen weder in parlamentarischen Geschäftsordnungen vorgesehen noch in der parlamentarischen Praxis üblich sind.

Für mich, als jemand, der den II. Weltkrieg miterleben musste, und deshalb weiß, was Krieg besonders für die Zivilbevölkerung bedeutet, hat die heutige folgenschwere Entscheidung eines deutschen Parlaments für Krieg nichts mit Achtung des Volkswillens durch die Parlamentsmehrheit zu tun. Und deshalb tragen für mich die Befürworter der Fortsetzung und Ausweitung des Mordens in Afghanistan auch die Verantwortung für jeden weiteren in Afghanistan getöteten oder verletzten Bundeswehrsoldaten.

Mit freundlichen Grüßen

Hans Fricke (78)
Rostock


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Quelle:
© 2010 Hans Fricke
mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Februar 2010