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STELLUNGNAHME/037: Zu den Einwändungen gegen den jW-Artikel "Strippenzieher Andreotti?" (Gerhard Feldbauer)


Zu den Einwändungen gegen den jW-Artikel "Strippenzieher Andreotti?"(*)

Gründer der Roten Brigaden enthüllten selbst Manipulierung ihrer Organisation durch CIA und italienische Geheimdienste

von Gerhard Feldbauer, 8. Mai 2013



In seinem Leserbrief weist Wolfgang Lettow die Inszenierung des Mordkomplotts gegen den christdemokratischen Parteiführer, Aldo Moro, durch die Geheimdienste im Frühjahr 1978 (jW-Beitrag "Strippenzieher Andreotti", 4./5. Mai) zurück. Zunächst verdient Lettow Respekt für die engagierte Arbeit die er und seine Zeitschrift für die inhaftierten politischen Gefangenen leisten. Ich erinnere mich, dass er und die Zeitung vor einiger Zeit von der deutschen Justiz deswegen angeklagt wurden und dabei, wie in der Zeitung zu lesen war, auch auf das Einwirken der Geheimdienste eingegangen wurde.

Um auf das Thema konkret einzugehen, muss ich mich etwas ausführlicher äußern. Das auch deshalb, weil mein jW-Beitrag sich im Rahmen eines üblicherweise sehr begrenzten Platz-Limits nur mit einigen Aspekten der Ermordung Moros befassen konnte. In meinem Buch "Agenten, Terror, Staatskomplott. Der Mord an Aldo Moro, Rote Brigaden und CIA" (Papyrossa, Köln 2000) habe ich durchaus das revolutionäre Entstehen und Handeln der Brigate Rosse dargelegt. Das Kapitel "Die Brigadegründung" befasst sich ausführlich mit der Gründung der Vorläuferorganisation, dem am 8. September 1969 in Mailand entstandenen Collettivo Politico Metropolitano (Politisches Großstadtkollektiv), das in seiner Entschließung darauf orientierte, »die vielen sozialen Einpunkt-Kämpfe in einen homogenen sozialen Kampf zu transformieren«. Auf einem Kongress in Chiavara bei Genua im Dezember 1969 ging Brigadegründer Renato Curcio von Gramscis Begriff des »Stellungskrieges« als einer langen Periode von Klassenkämpfen aus, in denen die Revolution nicht auf der Tagesordnung steht, und erklärte: Es gehe daher »nicht so sehr darum, sofort zu siegen und alles zu erobern, sondern in einem lang andauernden Kampf zu wachsen und die mächtigen Hindernisse, die die Bewegung auf ihrem Weg antrifft, dazu zu benutzen, den Sprung von einer spontanen Massenbewegung zu einer organisierten, revolutionären Bewegung zu schaffen.«

Auch die unter Moretti agierenden Brigadisten meinten ihr Bekenntnis zur Alleintäterschaft in der Mehrzahl sicher ehrlich. An der Entführung Moros wie an anderen Operationen der BR beteiligte Brigadisten müssen auch nichts von der Beteiligung von eingeschleusten Agenten gemerkt haben. Denn Moretti führte in die BR eine geheime Struktur ein, in der die Mitglieder der verschiedenen Kolonnen kaum noch etwas voneinander wussten und selbst Teilnehmer an Operationen sich nicht mehr kannten. Das konnte mit der Notwendigkeit konspirativer Arbeit begründet werden, ermöglichte aber auch (wie im Fall Moro später bekannt wurde), Agenten in solche Operationen einzuschleusen, ohne dass die Brigadisten das erkannten. Moretti war der einzige Vertreter im Exekutivkomitee der BR, dem die strategische Leitung, die über die bewaffneten Aktionen entschied, unterstand.

Curcio und Mauro Rostagno, ebenfalls ein Mitbegründer der BR, wiesen auch die damals unter der radikalen Linken gern gebrauchte Losung »Fascisti, Borghesi, ancora pochi Mesi« (Faschisten, Bourgeois, Ihr habt nur noch wenige Monate) zurück und wandten sich überhaupt gegen »Abenteurertum« in jeglicher Form und betonten: »Es wird ein schwieriger und langwieriger Prozess sein«. Die Gründergeneration der BR, zu der auch Alberto Francheschini gehörte, lehnte die schon in dieser Zeit versuchte Einflussnahme von Geheimdienstagenten, darunter der spätere BR-Chef Mario Moretti und der CIA-Agent Corrado Simioni, ab. Erst nach ihrer Verhaftung, die in die BR eingeschleuste Agenten bewerkstelligten, wurde die Organisation Werkzeug der CIA und ihres Komplotts gegen Moro.

Das wird in einer Vielzahl von Quellen belegt. Zu den sehr zahlreichen und als seriös einzuschätzenden italienischen Quellen darf ich auf mein erwähntes Buch verweisen. Hier einige der in Deutsch veröffentlichten: Giorgio Galli »Staatsgeschäfte, Affären, Skandale, Verschwörungen. Das unterirdische Italien«, Giovanni Ruggeri und Mario Guarino »Berlusconi - Showmaster der Macht«, in dem das angezweifelte Wirken der P2 analysiert wurde. Ihrem Dreierdirektorium gehörte bekanntlich Silvio Berlusconi an, der von der Putschloge 1994 das erste Mal an die Macht gehievt wurde. Gino Doni hat die Briefe, die Moro während der Geiselhaft an seine Familie und Politiker schrieb, sowie die Kommuniqués der BR nach der Entführung herausgebracht. Francesco Biscione hat die »Aufzeichnungen Aldo Moros«, die der DC-Vorsitzende im »Volksgefängnis« der BR verfasste (soweit sie bekannt wurden), im italienischen Sprachraum veröffentlicht. Aus den zur BR-Geschichte bzw. zur radikalen Linken und ihrem bewaffneten Kampf erschienenen Publikationen, sind zu erwähnen: Primo Moroni und Nanni Balestrini »Die goldene Horde«, Peio Aierbe, »Bewaffneter Kampf in Europa« und »Zwischenberichte«. Von Stefan Seifert liegt eine Abhandlung »Bewaffneter Kampf in Italien« über »Die Geschichte der Roten Brigaden« vor. Beachtenswert an der Arbeit sind 280 Anmerkungen und ein Literaturverzeichnis mit über 230 Publikationen, die für eine tiefgründigere Beschäftigung mit dem Thema eine Fülle von Quellen anführen.

Vor allem aber kann man nicht vorbeigehen an den Büchern des ersten Brigadechefs Curcio (Mit offenem Blick) und Franceschini (Das Herz des Staates treffen). Beide haben dargelegt, dass die Geheimdienste die BR manipulierten. In der »Repubblica« schätzte Francheschini am 31. Dezember 1990 ein, dass in den BR »andere Kräfte mitmischten«, und erklärte: »Für mich gibt es heute keine Zweifel mehr: die Brigate Rosse wurden instrumentalisiert, nur ein Teil 'unserer Aktionen' waren wirklich 'unsere'«. Er nannte »ein geheimes Leitungszentrum« zur Steuerung des Linksradikalismus, das Hyperion-Institut in Paris, in dem sich eine CIA-Station für Europa befand. Moretti charakterisierte er als einen Brigadechef, der sich aufführte, als wenn »die Organisation ihm gehöre, ihm allein«, und verweist auf »seine Irrtümer, seine Doppelzüngigkeit, seinen schäbigen Ehrgeiz«.

Unter Curcio plante die BR-Leitung, eine herausragende Persönlichkeit der regierenden Democrazia Cristiana zu entführen, um einen entscheidenden Schlag gegen »das Herz des Staates«, wie Franceschini es nannte, zu führen. Zielperson war Giulio Andreotti. Franceschini charakterisierte ihn als »Schlüsselfigur des neogaullistischen Planes« einer »reaktionären Wende«. Nachdem Moretti die Führung übernommen hatte, wechselte mit dem Beginn der Tötungsaktionen nicht nur der Brigade-Kurs, sondern auch die Zielperson, die nun der linksliberale bürgerliche Reformer und Gegner der rücksichtslosen Einmischung der USA in Italien, Aldo Moro, laut Henry Kissinger der »Allende Italiens« und »gefährlicher als Castro«, wurde. Man habe Andreotti und Moro als »Zwillinge« gesehen, erklärte Moretti und offenbarte damit, dass die Führungsbrigadisten der »zweiten Generation« nicht in der Lage gewesen sein wollen, innerhalb der politisch herrschenden Klasse zu differenzieren.

Dann gibt es das im Leserbrief angeführte Interview-Buch von Mario Moretti »Brigate Rosse. Eine italienische Geschichte«, das man schon etwas sorgfältiger analysieren muss. Das Interview führten die bekannte Rossana Rossanda und Carla Mosca, die ich in Italien kennenlernte. Das hochinteressante daran ist, dass Moretti konsequent die These von der Alleintäterschaft der BR vertritt und diese selbst an Hand derart konfuser wichtiger Details gleichzeitig widerlegt und seine Behauptung von der Alleintäterschaft geradezu ad absurdum führt. Man kann daraus nur schlussfolgern, dass er sich bewusst im Kreis dieser Widersprüche äußerte, weil es für ihn anders nicht möglich war. Zur Gegenüberstellung die Aussage des Gladio-Chefs, General Serravalle, dass das Kommando Moros von einem in die BR eingeschleusten Militärspezialisten liquidiert wurde, und dass dies unmöglich ein nicht dazu langjährig ausgebildeter Mann getan haben konnte. Gefragt, wo die Brigadisten »mit solcher Präzision zu schießen« gelernt haben, antwortete Moretti: »Mit unseren hochgelobten Fähigkeiten und der militärischen Präzision war es nicht so weit her«. Schießübungen habe es »nur gelegentlich« gegeben. Für »die Entführung von Moro machten wir noch nicht einmal das« und fügte hinzu: »in zehn Jahren habe ich nur ein paar Mal mit der Maschinenpistole geschossen. Ich kenne bei den BR keine herausragenden Schützen.« Laut Moretti haben vier Brigadisten geschossen: Fiore, Gallinari, Morruci und Bonisoli. Als die Brigadisten das Feuer eröffneten, hatten »sowohl die Maschinenpistole von Morruci als auch die von Bonisoli Ladehemmung«. Eine der beiden Waffen sei eine Zerbino gewesen, die noch aus Mussolinis Salò-Republik stammte. Also 35 Jahre alt war. Bonisoli stand nach Morettis Schilderung im Augenblick der Ladehemmung dem Polizisten Iozzino gegenüber, dem es als einzigem gelungen war, seine Waffe zu ziehen. Während Moretti vorher behauptete, »das Spiel«, wie er den Überfall nennt, werde »in einigen Zehntelsekunden entschieden«, sagt er nun, »Bonisolo ließ die Maschinenpistole los, holte seine Pistole raus und traf ihn«. Auch Morruci traf, so Moretti weiter, seine »Zielperson« wegen der Ladehemmung zunächst nicht. Er wechselte »das verklemmte Magazin seiner Maschinenpistole, schoss eine zweite Salve und konnte ihn (den Polizisten) treffen«. Dann fasste der BR-Chef zusammen: »In nur wenigen Sekunden war die Schießerei vorbei und die Eskorte neutralisiert«.

Moretti verteidigt den in die BR eingeschleusten Agenten Silvano Girotto, der im September 1974 Curcios und Franceschini ans Messer lieferte. Dieser Topagent war als Fremdenlegionär in Algerien, arbeitete danach als Franziskanermönch getarnt in Südamerika für die CIA, die ihn in die Guerillabewegung einschleuste. Unter anderem denunzierte er den bolivianischen Guerillaführer Jaime Paz Zamora, der daraufhin 1972 in La Paz festgenommen werden konnte. Nach dem Militärputsch in Chile leistete er der Pinochet-Junta Spitzeldienste. Seine Reiseroute zurück nach Italien führte über die Schweiz, wo in der CIA-Station in Bern Frederico D'Amato vom Spionagebüro des Innenministeriums in Rom für die Einschleusung von Agenten in die BR zuständig war. In Italien angekommen, wurde Girotto ein begehrter Interviewpartner großbürgerlicher Zeitungen, in denen er als »Fratello Mitra« (Bruder Maschinenpistole) vorgestellt wurde, mit seinen Guerillaerfahrungen prahlen und seine Bewunderung für die Brigate Rosse propagieren durfte. Trotz dieser verdächtigen Lancierungskampagne habe man in der BR-Führung »keine Anhaltspunkte, ihn zu verdächtigen«, gesehen, da er »in allen Szenen der Linken die Runde« machte und »mit großer Wertschätzung aufgenommen« worden sei, so Moretti.

Ein weiterer in die BR eingeschleuster Agent war Francesco Marra, genannt Rocco. Es handelte sich um einen Fallschirmjäger, der auf Sardinien eine Spezialausbildung in der Handhabung mit Sprengstoff und des »Schießens in die Beine« (eine später unter Moretti gegenüber Personen des Repressionsapparates praktizierte Methode) erhalten hatte. Das war eine Ausbildung, die für Gladio-Angehörige, bevor sie in die BR eingeschleust wurden, typisch war. Um das Vertrauen der BR zu gewinnen, hatte er in Mailand in dem von den Neofaschisten beherrschten Viertel Quarto Oggiaro das Auto des dortigen MSI-Chefs in Brand gesteckt und ein Flugblatt mit der Bezeichnung »Francesco Marra, Avanguardia Comunista di Quarto Oggiaro« hinterlassen.

Belegt ist auch die von mir angeführte Tätigkeit des Corrado Simioni, der alle Merkmale eines zur Einflussnahme eingeschleusten Agenten aufwies. Von Beruf Lehrer war er bis 1965 ISP-Mitglied und persönlich eng mit Bettino Craxi befreundet, der neben Berlusconi dem Dreierdirektorium der P2 angehörte und den die Loge als einen »neuen Duce« an die Macht bringen wollte, wozu sie ihm auch Millionen Dollar an Bestechungsgeldern zukommen ließ. Ab 1965 arbeitete er beim amerikanischen Kulturinstitut United States Information Service und danach bis Anfang 1968 in München bei Radio Free Europe, bekanntermaßen ein CIA-Sender. Bei Ausbruch der Studentenunruhen tauchte er in Italien auf und versuchte zunächst zu Lotta Continua und anderen linksradikalen Gruppen Kontakt aufzunehmen, wurde aber wegen seiner abenteuerlichen Pläne abgewiesen. Lotta Continua enttarnte ihn schon Anfang der 1970er Jahre als CIA-Agenten.

Im Telefonbuch des zum Entführungskommando von Moro gehörenden Valerio Morruci, der 1979 verhaftet wurde, standen folgende Telefonnummern: Die des am Tage der Entführung im Polizeipräsidium von Rom diensthabenden Polizeikommissars Antonio Esposito, Mitglied der P2, die des Geheimdienstgenerals Giovanni Romeo, langjähriger Verantwortlicher für die Gladio-Division, des Erzbischofs Casimir Marcinkus, langjähriger Leiter der Bank des Vatikans und wichtige Bezugsperson im Beziehungsgeflecht von P2-Mafia-Vatikan, schließlich die von Pater Felix Andrew Morlion, Gründer und langjähriger Leiter des Geheimdienstes »Pro Deo« des Vatikans, Mitbegründer des erwähnten Sprachinstituts »Hyperion« in Paris. Von Marcinkus hatte Morruci außerdem die Adresse von dessen Residenz in der Via Massimi notiert, die sich kaum einen Kilometer von der Via Fani entfernt befand und an der der Fluchtweg der Entführer mit Moro vorbeiführte.

Die Kommuniques der BR wurden auf einer Maschine vom Typ AB Dik 360 gedruckt, die aus dem Bestand einer Abteilung des Geheimdienstes SISMI stammte. Es handelte sich um eine voll funktionsfähige, drei Jahre alte Maschine, die die BR nach Angaben von Moretti auf einem Flohmarkt an der Porta Portese unter »Schrott« erworben haben wollten. Zur Sache befragt, hielt es General Serravalle für ausgeschlossen, dass die Maschine als Schrott veräußert wurde. In der Geheimdienstabteilung (Gruppe der Spezialeinheiten), habe eine besonders strenge Geheimhaltung geherrscht, da zu ihr auch einige Gladio-Einheiten gehörten. Wenn dort etwas auszusondern war, sei das tatsächlich auf dem Schrott und nicht auf dem Flohmarkt gelandet.

Der Besitzer einer KfZ-Werkstatt, Gerardo Nucci, hatte geistesgegenwärtig von dem Überfall Fotos gemacht, auf denen die Entführer ohne Masken zu sehen und ihre Fahrzeuge gestochen scharf zu erkennen waren. Staatsanwalt Infelisi, dem die Fotos übergeben wurden, ließ diese Beweismittel verschwinden. Ebenso verschwanden die 39 am Tatort gefundenen Patronenhülsen der beim Überfall verwendeten NATO-Spezialmunition. Zu dem in Moros Hosenaufschlägen gefundenen Sand behauptete Moretti, er sei vom »Strand von Rom geholt und da reingetan« worden, um eine »falsche Spur« zu legen. Es handelt sich jedoch um Sand von den Tolfa-Hügeln nördlich von Rom, wo sich ein Gladio-Stützpunkt befand.

Nicht glaubhaft ist auch die von Moretti geschilderte Fahrt nach dem Überfall von der Via Fani in die Via Montalcini. Bei den morgendlichen Rush hours hätte das BR-Kommando wenigstens eine Stunde einplanen müssen, zumal nach etwa zwei Kilometern Fahrt auf der Piazza Madonna del Cenacolo eine, wie Moretti sagt, »schnelle Kontrolle« der Anwesenheit aller am Überfall Beteiligten durchgeführt wurde, um sich danach in drei Gruppen aufzuteilen. Ich war zur Zeit der Entführung Moros vor Ort und habe mir später den Platz noch einmal angesehen. Zunächst mussten die Entführer generell mit Verkehrsstaus rechnen, wie sie in den Morgen- und späten Nachmittagsstunden in Rom mehrmals gang und gäbe waren. Auf der Cenacolo habe dann ein Wechsel des Entführungsfahrzeuges stattgefunden, sagte Moretti. Moro sei aus dem 132er Fiat in einen alten 850er Transporter umgeladen und dazu in eine 1,20 Meter lange Holzkiste gezwängt worden. Das alles sollte auf der zentral gelegenen, von Bürohäusern, Geschäften und einer Bar umgebenen Piazza im morgendlichen Verkehr, darunter zahlreiche Fußgänger, zu einem Zeitpunkt, da bereits Fahndungsalarm ausgelöst war, stattgefunden haben? Der auf simple Erklärungen stets vorbereitete Moretti erläuterte das so: »Es reichte ein Augenblick, in dem niemand dort vorbeilief, wo wir geparkt hatten, um ihn von einem Fahrzeug in das andere zu laden. Die Sache verlief ohne Schwierigkeiten«. Darauf, wie die Geisel unter den Augen der Öffentlichkeit »ohne Schwierigkeiten« in die Kiste verfrachtet wurde, geht Moretti gar nicht ein. Moro war als ein stiller, aber ebenso geistesgegenwärtiger Mensch bekannt, der in unzähligen Situationen schnell und entschlossen reagiert hat. In den kommenden Wochen kämpfte er furchtlos mit allen Mitteln um sein Leben. Dieser Mann soll sich auf der belebten Piazza Madonna widerstandslos dem Einzwängen in eine enge Holzkiste gefügt und noch nicht einmal um Hilfe gerufen haben?

Laut Moretti haben die Brigadisten auf der Fahrt in die Via Montalcini in der Tiefgarage eines Standa-Supermarktes bei den Colli Portuensi nochmals einen Fahrzeugwechsel vorgenommen und Moro in eine Familienlimousine umgeladen. Das hätte wieder wertvolle Minuten gekostet, wenn es auch im dichten Kundenverkehr hier weniger auffällig gewesen wäre. Gegen 9.15 Uhr ist das Kommando auf der Via Fani losgefahren. Bereits 50 Minuten später ist an mehrere Zeitungen die erste Mitteilung über die Entführung durchgegeben worden. Moretti betont, das sei erst nach Abschluss der Aktion geschehen. Die Entführer mussten folglich zu diesem Zeitpunkt bereits ein sicheres Versteck erreicht haben, das höchstens 30 bis 40 Minuten vom Tatort entfernt liegen durfte. Die Via Montalcini scheidet dabei aus, jedenfalls als erstes Versteck. Wer im Rom dieser Jahre im morgendlichen Stoßverkehr in dieser Richtung wie überhaupt in der wegen ihres Verkehrschaos bekannten Metropole gefahren ist, kommt zu keiner anderen Schlussfolgerung. Auffällig ist, dass kein Ermittler es jemals für nötig gehalten haben soll, die Fluchtstrecke, einen zweimaligen Fahrzeugwechsel und die »kurze Kontrolle« auf der Cenacolo eingeschlossen, abzufahren. Schon eine unauffällige Rekonstruktion des Tatherganges auf der Cenacolo hätte nur zu der Erkenntnis führen können, dass es absolut unwahrscheinlich war, dass eine derart entscheidende und gefährliche Operation dort durchgeführt wurde.

Moretti hat sich auch zu den nicht veröffentlichten Tonbandprotokollen geäußert: So sagte er, dass Moro »Missetaten aller Art denunzierte, Namen und Umstände offenbarte, die den ganzen Palast erschüttern mussten«. Aber diese »Skandale« sollen die BR plötzlich nicht interessiert haben, weil es ihnen nicht darum ging, »jemanden die Karriere zu versauen«. Im Klartext: Wollte Moretti plötzlich das imperialistische System, dessen Exekutivorgan der »Palast« ist, gar nicht mehr erschüttern, Andreotti, dem besten Erfüllungsgehilfen Washingtons in Italien, und seiner rechten Hand Cossiga, dem Chef der italienischen »Ledernacken« (wie Moretti ihn im Kommuniqué Nr. 1 genannt hatte), nicht »die Karriere versauen«? Weiter »begründet« Moretti, er »verstand ihn (Moro) nicht«. Wenn dieser sich ziemlich deutlich zur »Strategie der Spannungen« äußerte, zum Massaker auf der Piazza Fontana, dabei auf die »Nachsicht und stillschweigende Duldung durch Staatsorgane« verwies, die »außerhalb Italiens liegenden Verantwortlichkeiten« aufzeigte oder von einer »spezialisierten Organisation, wahrscheinlich jenseits der Grenzen« und dem »Anteil unserer Politiker daran« sprach, dann äußerte er sich für Moretti immer »in Rätseln und ertränkte das Konkrete in einem Meer von Allgemeinheiten«.

Moretti, der das alles nicht verstanden haben will, hat nach der Entführung im Kommuniqué Nr.1 die Democrazia Cristiana als »die zentrale strategische Kraft innerhalb der imperialistischen Staatsführung« charakterisiert und zu ihrer Aufgabe im internationalen Rahmen ausgeführt: »Auf der Ebene der strategischen Einheit der imperialistischen Staaten verlangen die stärksten Kräfte, die an der Spitze der hierarchischen Gliederung stehen, von der DC, dass sie als nationaler politischer Pol der Konterrevolution« und »verlässliches Glied der imperialistischen Kette« fungiert. Moretti, der erklärte, die Kommuniqués der BR immer selbst geschrieben zu haben, hat auch auf die »starken Partner innerhalb der Kette, USA und BRD«, verwiesen, die von der DC »eine offene Repression« forderten. Der das geschrieben hat, konnte also durchaus in bestimmten internationalen Kategorien denken.

Sergio Flamigni, der in jahrelanger parlamentarischer Arbeit zur Untersuchung des Falles Moro erfahrene Analytiker, nahm das zum Anlass, zu fragen, ob die Texte denn tatsächlich von Moretti geschrieben worden seien, ob er die Fragen, die er Moro stellte, selbst formuliert habe. Moro habe »klare und verständliche Antworten gegeben«. Wenn »Moretti diese nicht verstanden habe, ergebe sich daraus die These, dass er in dem 'Verhör' dem Gefangenen Fragen stellte, die andere ausgearbeitet hatten«.

Nicht wenige Pentiti (Reuige) stehen in dem Verdacht, dass sie sich bereits als Brigadisten für die Zusicherung von Straferlass oder auch Straffreiheit zur Mitarbeit bzw. auch für regelrechte Agentendienste anwerben ließen. Ein solch wertvoller Informant war für die Geheimdienste Patricio Peci, Chef der Turiner Kolonne, einer Spitzengruppe der BR, der als Mitglied der strategischen Leitung eingehend über die Vorbereitung und Durchführung der Entführung und Ermordung Moros informiert war und wusste, dass Moretti die Operation leitete. Während Moretti die Agentenrolle Pecis abstreitet und ihn lediglich einen Pentito, wenn auch einen »Superpentito«, nennt, der erst nach seiner Verhaftung im Februar 1980 mit der Justiz zusammengearbeitet habe, meinen Franceschini und andere Brigadisten dagegen, dass er schon seit längerer Zeit ein aktiver »Infiltrant« war. Nach seiner Verhaftung sagte Peci aus, er habe acht politische Morde begangen, wurde aber nur zu zehn Jahren Haft verurteilt und durfte das Gefängnis bereits 1983 verlassen.

Nach der Ausschaltung Curcios und Francheshinis begann unter Moretti die abenteuerliche, blutige Phase der BR. Am 8. Juni 1976 startete die erste Tötungsaktion. Auf offener Straße wurden der Genueser Oberstaatsanwalt Francesco Coco und sein Fahrer sowie ein weiterer Sicherheitsbeamter erschossen. Der Ermordung Cocos folgen allein acht weitere Untersuchungsrichter. Andere Opfer waren Wirtschaftsmanager, Politiker, Journalisten. Sprunghaft stiegen auch die blutigen Aktionen anderer ultralinker Gruppen an, denen 1977, die Opfer der BR eingeschlossen, 42 Tote und 377 Verletzte angelastet wurden.

Am 16. März 1978, dem Tag der Entführung Moros, und dem Antritt einer Regierung mit kommunistischer Unterstützung, stiegen die Terrorakte weiter an. Nach den Berichten der italienischen Medien ereigneten sich bis Ende des Jahres über 2.300 Terrorakte, bei denen mehr als 30 Menschen ums Leben kamen und über 400 zum größten Teil schwer verletzt wurden. 871mal fanden bewaffnete Überfälle auf Personen statt und 45mal wurden Personen entführt. Darunter befanden sich 19 Industrielle und Manager, zwei Bankiers, sieben DC-Politiker, ebenso viele Kommunisten und Vertreter anderer linker Organisationen, zwei Mitglieder rechter Gruppen, fünf Journalisten, drei Universitätsprofessoren, sechs Angehörige der Justiz, sieben Gefängniswärter und vier Ärzte. Zwei Drittel der Überfälle wurden unter dem Zeichen der BR begangen. 333 Anschläge galten Parteibüros und Gewerkschaftssitzen, 111mal wurden Kasernen und 33mal Polizeistationen angegriffen. Der Terror diente dazu, Angst und Schrecken zu verbreiten, die öffentliche Sicherheit zu zerrütten, die parlamentarische Ordnung und ihre Exekutive als unfähig auszuweisen und so dem Ruf nach einer Regierung der »starken Hand«, die »Ordnung schafft«, Nachdruck zu verleihen. Der Gladio-Kommandeur Roberto Cavallaro sagte aus, dass ein »guter Teil dieser Anschläge auf direkte Weisungen oder Einflussnahme der Geheimdienste« zurückging.


Anmerkung des Autors, der auf weitere seiner das Thema berührende Publikationen verweist: Aldo Moro und das Bündnis von Christdemokraten und Kommunisten im Italien der 70er Jahre, Essen 2003, und Warum Aldo Moro sterben musste. Die Recherchen des Commissaro Pallotta, eine Kriminalerzählung nach Tatsachen, Berlin 2011.

(*) Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Den Leserbrief, der sich auf den jW-Artikel "Strippenzieher Andreotti?" bezieht und den jW-Artikel finden Sie im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de -> Politik -> Meinungen -> Leserbriefe
LESERBRIEFE/014: Revolutionäre Geschichte richtigstellen ... (Wolfgang Lettow/Gefangenen Info)

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Quelle:
© 2013 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Mai 2013