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STELLUNGNAHME/053: Zur Frage, ob der Koalitionsvertrag Zukunftsvorstellungen bietet - und warum er es nicht tut (spw)


spw - Ausgabe 1/2018 - Heft 224
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Where is my mind? Zur Frage, ob der Koalitionsvertrag Zukunftsvorstellungen bietet - und warum er es nicht tut

von Jan Dieren, Matthias Glomb und Jessica Rosenthal


Vier Monate, eine Woche und sechs Tage oder 136 Tage - so lange hat es gedauert, von den Bundestagswahlen am 24. September über die Jamaika-Verhandlungen und deren Abbruch, bis zum Vorliegen eines Koalitionsvertrages zwischen Union und SPD. Das ist ungewöhnlich lange. 2013 lagen zwischen den Wahlen und der Bildung der Regierung 86 Tage, das war so lange wie noch nie zuvor.[1] Heute sind es also 136 Tage von den Wahlen bis zum fertigen Koalitionsvertrag. Koalitionsverhandlungen dienen dem Zweck, dass verschiedene Parteien ihre Zukunftsvorstellungen und politischen Programme für die kommenden vier Jahre übereinanderlegen und daraus einen Kompromiss schließen. Macht man sich das klar, könnte man auf den Gedanken kommen, seit der Bundestagswahl wäre zwischen den Parteien ein flammender Streit um konkurrierende Entwürfe für die Zukunft unserer Gesellschaft entbrannt. Das Gegenteil ist der Fall. Die Trägheit der Koalitionsverhandlungen zeugt von einem krassen Mangel an Zukunftsvorstellungen. Und auch im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD sucht man die aufeinanderprallenden Gesellschaftsentwürfe vergeblich. Der Vertrag macht eher den Eindruck, als ob sich dort VertragspartnerInnen zusammengefunden hätten, die sich zwar um die richtigen Mittel streiten, sich im Ziel aber einig sind.[2] Ob es auf Grundlage des jetzt ausgehandelten Koalitionsvertrages aber überhaupt zu einer Regierungsbildung kommt, ist zum Zeitpunkt, zu dem wir diesen Text schreiben, nicht klar und hängt noch von einem Votum der SPD-Mitglieder ab. Wenn es nach uns geht, sollten die SPD-Mitglieder den Koalitionsvertrag in diesem Votum ablehnen. Warum? Das möchten wir im Folgenden darstellen.

Um einem häufig geäußerten Punkt gleich zuvorzukommen: Ja, es gibt auch gute Punkte und Erfolge im Koalitionsvertrag. Niemand bestreitet das. Was dem Koalitionsvertrag fehlt, sind nicht die einzelnen guten Punkte. Was ihm fehlt, ist der Blick für das Ganze. Nehmen wir ein Beispiel: Kein Mensch kann etwas dagegen haben, dass es 8.000 neue Pflegestellen geben soll. Bedenkt man aber, dass diese 8.000 Pflegestellen auf etwas mehr als 13.000 Pflegeeinrichtungen aufgeteilt werden müssen, wird klar, dass das lange nicht reichen kann. Bezieht man dann noch mit ein, dass die Gewerkschaften bei derzeit über einer Million in Pflegeeinrichtungen beschäftigten Fachkräften den Pflegenotstand ausrufen, sind die 8000 neuen Pflegestellen kaum ein Tropfen auf den heißen Stein.[3] Dem Beispiel der Pflegekräfte folgend, könnten wir nun den gesamten Koalitionsvertrag durchgehen und anhand der Erfolge in den einzelnen Bereichen aufzeigen, warum auch das nicht ausreicht.

Wollen wir aber nicht. Denn es geht uns um etwas anderes. Uns geht es nicht nur darum, dass der Koalitionsvertrag nicht an jeder Stelle die richtigen Antworten liefert. Er stellt nicht einmal die richtigen Fragen. Um das noch einmal am Beispiel der Pflege darzustellen: Es geht nicht darum, ob es nun 8.000, 10.000 oder 100.000 neue Pflegestellen braucht. Es geht um eine grundsätzliche Wende in der Pflege: Pflegeeinrichtungen, die an der Gesundheit und den Bedürfnissen der PflegerInnen und der Pflegebedürftigen orientiert sind, nicht an Profitinteressen. Einen Personalbemessungsschlüssel, der es PflegerInnen ermöglicht, sich genügend Zeit für jedeN PflegebedürftigeN zu nehmen. Gute Rahmenbedingungen für die PflegerInnen (das schließt eine angemessene Bezahlung ein) und Arbeitsbedingungen, die es ihnen ermöglichen, ihrem eigenen Anspruch an eine gute Pflege gerecht zu werden. Eine fachlich gute und gut ausgestattete Ausbildung der PflegerInnen. Natürlich auch genügend Personal - aber eben noch so viel mehr. Um all das sicherzustellen, braucht es eine grundsätzliche Wende in der Pflege. Ohne den Umbau der Pflegeversicherung in eine Vollversicherung wird das bspw. nicht möglich sein. 8.000 neue Pflegestellen sind keine schlechte Sache. Aber sie werden der eigentlichen Frage nicht im Ansatz gerecht.

Dieser Befund trifft den gesamten Koalitionsvertrag: Er greift die wichtigen Fragen unserer Zeit nicht einmal auf. Wir erleben gerade tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzungen. Gesellschaftlicher Wandel an sich ist dabei natürlich nichts Neues, sondern hat immer stattgefunden und wird immer stattfinden. Doch der Wandel, den wir gerade erleben, ist ein tiefgreifender. Er verändert nicht bloß einzelne gesellschaftliche Bereiche, sondern wälzt unsere Gesellschaft im Ganzen um, erfasst alle Lebensbereiche.

Der Wandel der Arbeitswelt eröffnet uns durch eine Entwicklung neuer produktiver Kräfte, neuer Arbeitsorganisationsformen und der Digitalisierung auf der einen Seite ganz neue Möglichkeiten, unsere Wirtschaftstätigkeit gemeinsam und bewusst zu organisieren.[4] Auf der anderen Seite belasten die Unternehmensleitungen mit ihrem Profitinteresse die Beschäftigten und üben durch indirekte Steuerung Druck auf sie aus. Versuche, diesen Wandel einzudämmen oder seine Auswirkungen zu begrenzen, müssen scheitern. Auch die Digitalisierung bspw. bietet Möglichkeiten, die zu wirklichem gesellschaftlichen Fortschritt genutzt werden können, wenn wir sie bewusst entwickeln. Wir brauchen hierauf Antworten, die es uns ermöglichen, unsere Wirtschaftstätigkeit demokratisch zu organisieren und an unseren Bedürfnissen auszurichten - nur so schaffen wir es, dass wir unsere neu erlernten Fähigkeiten nicht gegen uns selber richten. Der Klimawandel schreitet weiter voran und bedroht mittlerweile unsere natürliche Lebensgrundlage. Kleinteilige Fragen, wann welche nachhaltigere Technologie eingeführt und welche abgeschafft werden können, sind hier völlig fehl am Platz. Ändern wir unser Verhältnis zu unserer Umwelt nicht bald radikal, werden die Auswirkungen verheerend sein - und diejenigen, für die es heute schon ungerecht zugeht, werden die zuerst Betroffenen sein. Das Ausmaß an Ungerechtigkeit sowohl weltweit als auch innerhalb Europas ist himmelschreiend. Über eine Reform Europas zu sprechen und dabei nur an den Sitz des Europaparlamentes, nicht aber an Armut in Süd- und Südosteuropa zu denken, ist blanker Hohn. Und für die Ungeheuerlichkeit, angesichts Tausender Toter im Mittelmeer noch darüber zu sprechen, ob es ertragbar sei, dass mehr als 1.000 Geflüchtete monatlich im Familiennachzug nach Deutschland kommen, fallen uns keine Worte mehr ein.

Alle diese gesellschaftlichen Lebensbereiche hängen miteinander zusammen. Global agierende Konzerne sorgen dafür, dass sich der Wandel der Arbeitswelt global rasant verbreitet und Nationalstaaten können mit ihren Instrumenten neue Technologien längst nicht mehr kontrollieren. Der Klimawandel zwingt schon heute Menschen, aus ihrer Heimat zu fliehen. Fliehen sie nach Südeuropa, werden sie dort bald Opfer der Auswirkungen der europäischen Austeritätspolitik - und des Vormarsches rechter und rassistischer Parteien. Wollen wir die Umwälzungen in unserer Gegenwart fortschrittlich und in unserem Sinne gestalten, reichen Antworten in einzelnen Bereichen nicht aus. Was wir brauchen, ist ein fortschrittlicher Gesellschaftsentwurf, der sich mit den Fragen unserer Zeit grundsätzlich auseinandersetzt und einen radikalen Aufbruch als Antwort darauf formuliert. Das ist die geschichtliche Aufgabe, die die Sozialdemokratie annehmen kann.

Denn wir wissen eines ganz sicher: Im Koalitionsvertrag der großen Koalition findet sich kein Entwurf, wie wir die Umwälzungen unserer Gegenwart gestalten wollen. Im Gegenteil, der Koalitionsvertrag ist der Politik gewordene Ausdruck des Abwartens und Zögerns. Statt sich der Fragen unserer Zeit anzunehmen, werden im Stückwerk-Verfahren Einzelmaßnahmen für akute Probleme zusammengeschustert, die wirklichen gesellschaftlichen Widersprüche aber ignoriert. Der Koalitionsvertrag löst diese Widersprüche nicht auf, sondern zögert bloß ein weiteres Aufbrechen der Interessengegensätze weiter heraus - und sorgt damit dafür, dass der Umbruch noch heftiger wird, sobald er einmal passiert. Wir sehen schon heute, wie sich die gesellschaftlichen Widersprüche zuspitzen. Die Reichen werden immer reicher, während Armut immer weiter wächst - heute besitzen die reichsten 45 Haushalte in Deutschland genau so viel wie die 40 Millionen der ärmeren Hälfte der Bevölkerung.[5] Ein Gesellschaftsentwurf, der keine Antwort darauf bietet, wie der Reichtum gerecht verteilt werden kann, darf sich weder gerecht noch fortschrittlich nennen. Nazis, RassistInnen und AntisemitInnen sind in Deutschland und weltweit auf dem Vormarsch und bedrohen in den letzten Jahrzehnten mühsam erkämpfte Freiheiten, bspw. bei der Geschlechtergerechtigkeit. Diese und andere Entwicklungen dürfen wir nicht hinnehmen, sondern müssen sie an der Wurzel bekämpfen. Wir sehen, dass sich die gesellschaftlichen Widersprüche heute zuspitzen, und wir sehen, dass die große Koalition sich nicht an die großen Fragen unserer Zeit heranwagt. Und sehenden Auges die gesellschaftlichen Widersprüche und ihre Auswirkungen unverändert zu lassen, das kann nicht die Zustimmung der Sozialdemokratie finden.

Aber auch andernorts sind Antworten auf die Fragen unserer Zeit heute rar gesät. Wir müssen diese Antworten also selber erarbeiten. Ganz unabhängig davon, wie das Votum der SPDMitglieder Anfang März ausgehen wird: Wir brauchen einen radikalen Aufbruch und einen fortschrittlichen Gesellschaftsentwurf. Das werden wir nicht alleine schaffen. Was es für einen radikalen Aufbruch und die Erarbeitung eines fortschrittlichen Gesellschaftsentwurfes braucht, ist eine gemeinsame Anstrengung einer breiten gesellschaftlichen Bewegung. Gewerkschaften und ökologische Organisationen, FeministInnen und AntirassistInnen, GlobalisierungskritikerInnen und viele mehr müssen sich gemeinsam mit den Fragen unserer Zeit auseinandersetzen und Antworten darauf erarbeiten.

Man hört schon den ein oder anderen Unkenruf, am Ausgang des Mitgliedervotums der SPD entscheide sich, ob die Sozialdemokratie noch eine Zukunft habe. Das ist mitnichten die Wahrheit. Ob die Sozialdemokratie eine Zukunft haben wird, entscheidet sich daran, ob sie es schafft, sich mit den Fragen unserer Zeit auseinanderzusetzen und Antworten darauf zu erarbeiten. Das kann nur unser gemeinsames Werk sein. Gemeinsam muss es uns gelingen, uns mit den Widersprüchen der Gegenwart auseinanderzusetzen und einen fortschrittlichen Gesellschaftsentwurf als Antwort auf die Fragen unserer Zeit zu erarbeiten. Daran hängt die Zukunft der Sozialdemokratie. Und der Blick auf den Klimawandel, den Wandel unserer Arbeitswelt oder den Vormarsch der politischen Rechten zeigt: Es ist weit mehr als die Sozialdemokratie, die davon abhängt.


Jan Dieren ist stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender. Er lebt zwischen Ruhrgebiet und Niederrhein, wo er Philosophie und Rechtswissenschaften studiert.

Matthias Glomb ist stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender. Er lebt in Münster und arbeitet dort an einem Forschungsprojekt zur bundesdeutschen Bildungspolitik der sechziger und siebziger Jahre.

Jessica Rosenthal ist stellvertretende Bundesvorsitzende der Jusos. Sie lebt in Bonn, wo sie Geschichte und Deutsch auf Lehramt studiert und halbtags an einer Förderschule arbeitet.


Anmerkungen

[1] Nachzuschlagen auf bundestag.de.

[2] Womit nicht gesagt sein soll, dass es in Union und SPD nicht sehr unterschiedliche Vorstellungen für die Zukunft unserer Gesellschaft gäbe.

[3] Zahlen: destatis.de (Stand 2015).

[4] Vgl. hierzu auch Stephan Siemens und Martina Frenzel: Das unternehmerische Wir (VSA-Verlag).

[5] Folgend aktuellen Berechnungen des DIW, abrufbar auf diw.de.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 1/2018, Heft 224, Seite 5-7
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. März 2018

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