Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → MEINUNGEN

STANDPUNKT/142: Rechtsextremismus in der BRD - "Der Schoß ist fruchtbar noch..." (Hans Fricke)


"Der Schoß ist fruchtbar noch..."

von Hans Fricke, 20. November 2011


Der gegenwärtige Aktionismus der Politik als Reaktion des Staates auf die neonazistische Blutspur und eine Art Gesinnungsgemeinschaft zwischen ihr, dem Verfassungsschutz, der Polizei und den Konzernmedien sollen den Eindruck erwecken, als handele es sich beim "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) um eine eine kleine Gruppe rechter Einzeltäter, die infolge von Fahndungspannen und mangelnder Zusammenarbeit von Verfassungsschutz und Polizei dreizehn Jahre lang unbehelligt bombend und mordend quer durch Deutschland ziehen konnte. Dabei wird großer Wert darauf gelegt, dem Eindruck entgegen zu treten, der Verfassungsschutz sei darin verstrickt gewesen oder hätte gar mit ihr zusammengearbeitet. Deshalb sollten wir hellhörig sein, wenn Harald Runge nichts Besseres zu tun hatte, als am Tage seiner Amtseinführung als neuer Generalbundesanwalt zu betonen, "keine Anhaltspunkte dafür zu haben, dass der Verfassungsschutz mit Mitgliedern der Zwickauer Zelle zusammengearbeitet" habe und damit jeder Prüfung entsprechender Vorwürfe pro forma eine Absage zu erteilen.

In seinem Leitartikel "Staatsversagen" in der "Süddeutschen Zeitung" vom 17.11.2011 erklärt der bekannte Journalist Heribert Prantl zu Recht:

"Aufklärung beginnt mit dem Mut zur Wahrheit. Die Basis der CDU, die sogenannte Mitte der deutschen Gesellschaft, war von Anfang an nicht demokratisch. Eine demokratische Kultur hat es in breiter Form in der CDU nie gegeben. Rechtsstaatlichkeit war niemals ein hohes Gut der CDU. Die Gesellschaft interessiert sich nicht dafür und versteht nicht ein Jota davon. Dieser bedauerliche Zustand wird aber von den Bundes- und Landesinnenministern völlig ignoriert, ebenso von den Führungen der Parteien CDU/CSU/FDP, weil sie alle selbst gegenüber sozialistisch-fortschrittlich oder kommunistisch orientierten Bürgern in Vorurteilen befangen sind. Das Interview [1] von Heribert Prantl und Susanne Höll stellt meisterhaft die Schwäche des CSU-Bundesinnenministers bloß. Er ist einfach nicht bereit, seinen Irrtum und den Irrtum seiner Vorgänger einzusehen, als ob die Versäumnisse nicht klar in die irrende offizielle Richtung zeigten. Skandalös ist, von ihm zu erfahren, dass es ein Zentrum gegen angeblichen "Islamistischen Terror" gibt, aber keines gegen Rechtsextremismus, dessen Existenz und Gefahr schon vor Jahren offenbart wurden, und zwar von einer höchsten Justiz-Stelle, nämlich von Generalbundesanwalt Kay Nehm...

Auf den Trümmern von Faschismus und Krieg entstand die CDU - nicht als klassische Partei mit klaren programmatischen Aussagen, sondern als Konglomerat mit nebulösen Formulierungen, die für alle und jeden akzeptabel sein sollten. Zwei Attribute kennzeichnen die Identität der CDU: Christlicher Konservatismus und hysterischer Antikommunismus. Daraus ergeben sich Verfolgung und Hass gegen Andersdenkende sowohl in der CDU als auch in der alten bundesdeutschen Gesellschaft als akzeptierte Geisteshaltung und Verhaltensweise. Anti-Stimmungen sind in diesem rückständigen Milieu salonfähig geworden."

Alle die vielen derzeitigen Erklärungen, Vermutungen, neuen Erkenntnisse und geplanten Projekte zum Rechtsextremismus, die täglich von Politikern, Vertretern der Staatsanwaltschaften, des Verfassungsschutzes und der Polizei über die Medien verbreitet werden, haben eines gemeinsam: Sie gehen am Kern des Problems vorbei! Sie klammern aus, dass die Geschichte der Bundesrepublik vom ersten Tage ihres Bestehens an gekennzeichnet war von großzügiger Förderung und wirksamer Einflussnahme vieltausendfacher ehemaliger Nazis, ja sogar nicht weniger Kriegsverbrecher, auf allen relevanten Gebieten des gesellschaftlichen Lebens und einem gnadenlosen Kampf gegen alle, die im Verdacht standen, zum linken Spektrum der Gesellschaft zu gehören oder mit ihm zu sympathisieren.

Die Namen der Bewahrer des nazistischen Gedankengutes in der Bundesrepublik Deutschland füllten in der DDR über fünf Kilometer Akten. Sowohl von der Bundesregierung als auch von den Medien der BRD wurden diese ihnen immer wieder aufs Neue angebotenen Erkenntisse gebetsmühlenartig als "der Sache nicht dienlich" negiert.

Diese von der Adenauer-Regierung und den ihr folgenden Bundesregierungen betriebene Restauration des Verwaltungs-, Justiz-, Geheimdienst-, Polizei- und sonstigen Behördenapparates unter nahezu restloser Einbeziehung des "bewährten Fachpersonals" der untergegangenen Nazidiktatur, auch vieler aufs Schwerste Belasteter, hatte zur Folge, dass das öffentliche Bewusstsein in der BRD planmäßig und systematisch antikommunistisch geprägt wurde - ein schlimmer Zustand, der bis heute anhält.

Parallel zur Hätschelung und Förderung der antikommunistischen Kräfte und Vereinigungen durch den Bonner Staat, übte dieser sich fast zwei Jahrzehnte lang in "Vorneverteidigung" gegen "Staatsfeinde" - vor allem Kommunisten, aber auch des Leninismus unverdächtige, pazifistische Christen oder zur nationalen Einheit willige Gewerkschaftler.

Mit 1951 verabschiedeten Paragraphen und damals gebildeten siebzehn übers Land verteilten speziellen "Staatsschutzkammern" wurde gegen rund hundertfünfzigtausend Westdeutsche wegen "Staatsgefährdung", "Geheimbündelei", "Rädelsführerschaft" und weiterer schwammiger "Delikte" ermittelt, wo statt der Tat die Gesinnung zählte. Rund sechzigtausend Leute landeten in Gefängnissen - "Zahlen, die einem ausgewachsenen Polizeistaat alle Ehre machen", wie Staatsrechtsprofessor Werner Maihofer, später Bundesinnenminister, schon 1965 konstatierte.

Aber nicht nur die Zahlen taten das, auch die Methoden und die Urteile. Die fielen manchmal allein dank "Zeugen vom Hörensagen" - Beamte der politischen Polizeikommissariate gaben Aussagen ihrer V-Leute wieder, die weder benannt noch auf ihre Glaubwürdigkeit hinterfragt werden konnten.

Nicht wenige FDJ-ler wurden 1953 allein für die bloße Mitgliedschaft in der Organisation hinter Gitter gesteckt. In dieser Zeit saßen auch Menschen in Haft, weil sie "staatsgefährdenden Nachrichtendienst" und "landesverräterische Beziehungen" betrieben hatten, indem sie ab 1954 Zehntausende Kinder preiswert in DDR-Ferienlager schickten. Mit Sonderzügen der Bundesbahn, die sich die Aktion jährlich von der Bundesregierung genehmigen ließ. 1961 - noch vor dem Mauerbau - drehte sich der Wind. Bonn verbot "Frohe Ferien für alle Kinder", die Justiz verknackte die Initiatoren für ihre Arbeit v o r dem Verbot. Ein elementarer Verstoß gegen Rechtsstaatsprinzipien, den auch Tausende KPD-Mitglieder ab 1956 zu spüren bekamen und den der Bundesgerichtshof damals mit der abenteuerlichen Begründung rechtfertigte, Tätigkeit für die KPD sei schon immer strafbar, jetzt aber mit dem Parteiverbot verfolgbar gewesen (womit sich auch Fragen nach der Raffinesse bei der rechtswidrigen Aburteilung ehemaliger "staatsnaher" DDR-Bürger nach 1989 erübrigen - einschlägige Erfahrungen lagen ja vor).

Erst seit August 1968, als die Aufhebung der 1951 eingeführten Gummiparagraphen in Kraft trat, war die strafrechtliche Hatz wegen derartiger "Delikte" zu Ende. Bekanntlich fand sie seit 1972 mit den Berufsverboten eine arbeitsrechtliche Fortsetzung. Die Richter, welche bis Ende der sechziger Jahre diese Urteile "im Namen des Volkes" sprachen, waren zum größten Teil noch die aus der Nazi-Zeit. Jene, die später Kernkraftgegner verurteilten beziehungsweise Klagen von Hinterbliebenen der Opfer faschistischer Terrorjustiz gegen noch lebende Täter mit der Begründung ablehnten, es liege "kein hinreichender Tatverdacht vor", waren bereits der Nachwuchs. Ihre Sozialisation erfuhren sie sowohl in ihrer Ausbildung als auch im Beruf durch diese alten Richter.

Wem nach dem Anschluss der DDR an die BRD die rücksichts- und verständnisvolle Behandlung neofaschistischer Gewalttäter durch Polizei und Justiz, damals besonders augenscheinlich bis Spätherbst 1992, unbegreiflich war, hatte eigentlich gar keinen Grund, sich darüber zu wundern. Er hätte sich nur daran zu erinnern brauchen, wie rigoros die gleiche Polizei und Justiz in den fünfziger und sechziger Jahren gegen all jene vorgegangen waren, die auch nur im Verdacht standen, eine linke Gesinnung zu haben, oder die bis in die siebziger Jahre wagten, von ihren Bürgerrechten Gebrauch zu machen, indem sie gegen den Bau von Kernkraftwerken protestierten.
(siehe dazu: Hans Fricke, "Davor-Dabei-Danach", GNN-Verlag 1999, 2., überarb. Auflage, ISBN 3-932725-85-9)

Kein Wunder, dass von dieser Vorgeschichte des heutigen Neonazismus und rechten Terrorismus weder in den Sonntagsreden der Politiker noch in den Hochglanz-Broschüren aus Anlass des 60. Jahrestages der Bundesrepublik zu hören bzw. zu lesen ist. Darum fordert Heribert Prantl, "die Verstrickung zwischen Politik und Rechtsextremismus" zu entlarven und erklärt dazu in besagtem Leitartikel:

"Sie geht auf Zeiten zurück, die weit vor dem kalten Krieg liegen, nämlich auf die Kaiserzeit und den Beginn der Weimarer Republik, als nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von einer rechten extremistischen Clique ermordet wurden, sondern viele andere Menschen, die zur herrschenden militärischen Willkür in Opposition standen, einfach getötet wurden. Ein Bundesminister sollte sich nicht weigern, diesen langen politischen geschichtlichen Hintergrund des Rechtsextremismus anzusprechen. Die Linke und die Grünen sollten viel offensiver in die Öffentlichkeit gehen, um den korrupten Zustand der etablierten Parteien bloßzustellen. Lediglich eine Katharsis kann notwendige Korrekturen in einem undemokratischen Deutschland ermöglichen. Die SPD hat sich bisher nicht ehrlich ihrer Vergangenheit gestellt, um ihre Schuld zu bekennen, dass sie die Einheit aller fortschrittlichen Kräfte Deutschlands damals verhinderte, um dem Rechtsextremismus und Militarismus die Stirn zu bieten und zu überwinden. Auch heute kann sie sich nicht zu einem Schulterschluss mit allen humanistischen fortschrittlichen Kräften entscheiden."

Die von Staatsorganen des einheitlichen Deutschlands tolerierte, verharmloste und, wie Meldungen über den NSU zeigen bzw. nahelegen, geschützte fortschreitende Faschisierung Deutschlands losgelöst von der oben geschilderten historischen Entwicklung betrachten und bewerten zu wollen, wie das gegenwärtig der Fall ist, käme einer Fehleinschätzung der Ursachen des heutigen Neonazismus gleich, wie sie größer nicht sein sein kann.

Darum gehen auch Vorwürfe wie die von Thomas Oppermann (SPD), Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums: "Man sieht überall Fahrlässigkeit, man sieht Unentschlossenheit und Pflichtvergessenheit", die von der Grünen-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Renate Kühnast, die eine erschreckende Ignoranz sowie Desinteresse bei den zuständigen Behörden beklagt, oder die vom Grünen-Rechtsexperten Jerzy Montag, der den zuständigen Behörden anlastet, die Gefahren des Rechtsradikalismus "zum Teil nachlässig und teils systematisch" unterschätzt zu haben, am Kern des Problems vorbei.

Die Sicherheitsorgane jedes Staates handeln nach dem politischen Willen und den politischen Vorgaben ihrer Regierung, und es lässt sich durch noch so viele anderslautende Erklärungen und Ablenkungsmanöver nicht ungeschehen machen, dass die von den Bundesregierungen dem Verfassungsschutz, der Polizei und den zuständigen Justizorganen vorgegebene Hauptstoßrichtung ihres Wirkens das linke Spektrum unserer Gesellschaft war und noch immer ist. Darum hat der TV-Sender Phoenix ebenso Recht, wenn er erklärt, der Verfassungsschutz sei in Deutschland seit dem Kalten Krieg "historisch auf die sogenannte linke kommunistische Gefahr gepolt", wie diejenigen, die dem Staat BRD seit seiner Gründung vorwerfen, auf dem rechten Auge blind zu sein.

Die dieser Tage bei einem "Krisengipfel" der Innen- und Justizminister von Bund und Ländern in Berlin beschlossenen Maßnahmen im Bereich des Rechtsextremismus, nämlich neben einem "Abwehrzentrum Rechts" eine neue Verbunddatei zu schaffen, in der die bestehenden Dateien der Polizeibehörden und Verfassungsschutzämter zusammengefasst werden, können zwar die Effektivität von Maßnahmen gegen Rechtsextremismus erhöhen, nicht aber die dringend notwendige Bündelung der Kräfte und Anstrengungen der Sicherheitsorgane gegen die immer größer werdende rechte Gefahr in unserem Land erreichen.

Dazu bedarf es eines grundlegenden Umdenkens der Regierenden in Bund und Ländern, einer anderen Sicherheitsstrategie als die bisherige und einer völlig anderen Prioritätenliste für das Handeln der Sicherheitsorgane, wozu neben anderen politischen Entscheidungen auch eine Beendigung der absurden realitätsfremden Gleichsetzung von "Links- und Rechtsextremismus" notwendig wäre. Das aber ist unter den gegenwärtigen Machtverhältnissen nicht zu erwarten.

So werden wir trotz allen Geredes von Politik und Medien weiterhin mit einem sich von Jahr zu Jahr ausbreitenden Neonazismus leben müssen, und zwar solange, bis es unserer Gesellschaft gelingt, die Machtverhältnisse zu verändern und solche politischen und ökonomischen Bedingungen zu schaffen, unter denen weder neonazistische, noch rassistische und fremdenfeindliche Kräfte und Vereinigungen existieren können.

Bis dahin aber bleibt der Satz aus dem Theaterstück von Bertold Brecht "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui": "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch." von ebenso bedrückender wie gefährlicher Aktualität.


[1] "Tun alles Menschenmögliche, um die Verbrechen aufzuklären", Donnerstag 17.11.2011
Interview mit Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich, von Susanne Höll und Heribert Prantl
http://www.bundesregierung.de/nn_1272/Content/DE/Interview/2011/11/2011-11-17-friedrich-sueddeutsche-zeitung-rechtsextremismus.html


*


Quelle:
© 2011 Hans Fricke, Rostock
mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. November 2011