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STANDPUNKT/233: Wege aus dem verlorenen Krieg am Hindukusch (Jürgen Heiducoff)


Wege aus dem verlorenen Krieg am Hindukusch - nachhaltiger Aufbau und Wechsel der Akteure

Wie geht es weiter in und mit Afghanistan?

von Jürgen Heiducoff, 15. Oktober 2012



Niemand vermag es, vorauszusagen, welche der inneren und äußeren Kräfte in diesem vielschichtigen Konflikt ihre Interessen durchsetzen werden.

Da gibt es die Vorstellung, die Afghanen könnten ihre Probleme ohne äußere Hilfe lösen. Doch dies ist eine Illusion. Das Land wird ohne äußere Unterstützung nicht auf die Beine kommen.

Die NATO ist bereit, die Afghanen auch nach 2014 zu unterstützen. Sie plant eine ISAF-Folgemission in Afghanistan, die International Training Assistance and Advisory Mission (ITAAM). Hauptaufgabe soll der weitere Aufbau und die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte sein, damit sie in die Lage versetzt werden, der Sicherheitsverantwortung für Afghanistan nachzukommen. Aber wie sollen afghanische Soldaten und Polizisten einen Auftrag erfüllen, den über elf Jahre hochgerüstete, gut ausgebildete und motivierte NATO-Verbände nicht zu bewältigen vermochten?

Nein, es geht der NATO nicht wirklich um die Sicherheit, Stabilität oder gar Demokratie in Afghanistan, sondern darum, den Fuß nicht von der Türschwelle Zentral- und Ostasiens zu nehmen.

Die Menschen in Afghanistan brauchen keinen neuen Geldtransfer vom Westen an ihre korrupte Regierung. Sie brauchen keine waffenstarrende "Stabilität" und "Sicherheit", um diese Regierung an der Macht zu halten. Sie brauchen vor allem endlich einen friedlichen Aufbau. Ein Marshallplan könnte die Dynamik der Aufstands- in die einer Aufbaubewegung überführen. Sollte es um die Lösung der gewaltigen wirtschaftlichen und sozialen Defizite des Landes gehen, bedarf es einer weit tiefgreifenderen Investitionsbereitschaft und -fähigkeit als die unverbindliche Zusage finanzieller Hilfe westlicher Staaten.

Dabei ist ein Wechsel der Akteure unausweichlich. Der Westen hat durch seine Politik und durch den Krieg das Vertrauen bei den Afghanen für Jahrzehnte verspielt. Wie sollten die Menschen positive Erwartungen Unternehmern, Investoren, Banken und Aufbauberatern aus den Staaten, die den Krieg in ihr Land brachten, entgegen bringen? Sie wissen zu gut, dass von deren "Regionalen Wiederaufbauteams" viel Gewalt ausging. Der Wiederaufbau ist hauptsächlich Nichtregierungsorganisationen überlassen worden, die allerdings damit völlig überlastet waren.

Heute geht es um den Aufbau ganzer Industriezweige, der dazugehörigen Infrastruktur und des sozialen Umfeldes. Kein einzelnes Großunternehmen, keiner der hochverschuldeten Staaten des Westens kann einen solchen Investitionsbedarf decken. Dies vermögen nur staatliche Großinvestoren zu realisieren, die eigene langfristige, über Jahrzehnte andauernde strategische Interessen in Afghanistan haben. Nachhaltiger wirtschaftlicher Aufbau statt einzelner Projekte der Entwicklungshilfe garantiert die dringend notwendige Schaffung einer selbsttragenden materiellen Basis einer modernen Wirtschaft. Dies setzt eine langfristige Investitionsbereitschaft mit allen Risiken voraus. Dazu ist kein privater Investor bereit und fähig. Chinesische Staatsunternehmen werden den Afghanen zeigen, wie durch industrielle Großprojekte langfristig Arbeitsplätze, Infrastruktur und soziale Perspektiven geschaffen werden. Davon zeugen chinesische Kupferbergbau- sowie Öl- und Gasvorhaben.

Aus dem Fortschrittsbericht Afghanistan der Bundesregierung 2011: "Die wichtigsten laufenden Bergbauprojekte sind: Aynak Kupfervorkommen: 35 km südöstlich von Kabul, gesicherte 625 Mio. Tonnen Erz ... Derzeit laufen die Erschließungsarbeiten durch die China Metallurgical Group Corporation (MCC). MCC hat vertraglich zugesagt, zur infrastrukturellen Anbindung der Mine eine Eisenbahnstrecke von der usbekischen bis an die pakistanische Grenze zu bauen..." (1)

Auch für die Erschließung der Öl- und Gasfelder im Raum Sar-e-Pul im Norden Afghanistans erhielt die China National Petroleum Corporation (CNPC) den Zuschlag und begann bereits mit den Arbeiten. In beiden Großvorhaben werden Tausende von Arbeitsplätzen geschaffen und so die Existenzgrundlagen für afghanische Familien in der Region.

Selbst wenn dieses Engagement nicht uneigennützig ist, sondern den Rohstoff- und Energiebedarf einer der größten Volkswirtschaften der Welt abdecken helfen soll - es bietet eine Perspektive für Afghanistan endlich zu Stabilität und Frieden zu kommen und die sozialen Probleme zu lösen. Und all dies ohne die Stationierung ausländischer Truppen. Wie zu erwarten war, beginnt die westliche Propaganda, das chinesische Engagement klein zu reden und zu behaupten, es ginge nur um die Ausbeutung der Reichtümer Afghanistans und um die Befriedigung regionaler Hegemonieinteressen Chinas. Diesen Behauptungen stehen die positiven Erfahrungen afrikanischer Länder mit der chinesischen Art der "Expansion" mittels wirtschaftlicher und politischer Kooperation und ohne Einmischung in die inneren Angelegenheiten entgegen.

Neben China gibt es andere Regionalmächte, die fähig und bereit sind, konstruktiv in Afghanistan zu agieren. Dazu zählen vor allem Indien und der Iran. Eines ist klar: Afghanistan, eines der ärmsten Länder der Welt, kann nicht mit eigener Kraft voran kommen. Die Menschen am Hindukusch brauchen äußere Hilfe ebenso wie den Wechsel der Akteure und vor allem der Methoden dieser Hilfe.

Nachhaltiger Aufbau, wirtschaftliche und politische Unterstützung statt militärischer Gewalt, Militärhilfe und Aufrüstung - das sind die Wege aus dem verlorenen Krieg der NATO in Afghanistan.


Anmerkung:
(1) Fortschrittsbericht Afghanistan der Bundesregierung Dezember 2011


Jürgen Heiducoff war zu Anfang des ISAF-Einsatzes über ein halbes Jahr als Soldat und in den Jahren 2006 bis 2008 als Diplomat in Afghanistan.

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Quelle:
© 2012 Jürgen Heiducoff
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Oktober 2012