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STANDPUNKT/247: Kalte Rache (Uri Avnery)


Kalte Rache

von Uri Avnery, 8. Dezember 2012



"RACHE IST ein Menü, das man am besten kalt zu sich nimmt," sagt eine Redensart, die Stalin zugeschrieben wird. Ich weiß wirklich nicht, ob er es so gesagt hat. Alle möglichen Zeugen wurden schon vor langer Zeit exekutiert.

Auf jeden Fall ist verzögerte Rache kein israelischer Zug. Israelis sind impulsiver, unmittelbarer. Sie planen nicht. Sie improvisieren.

Auch in dieser Hinsicht ist Avigdor Lieberman kein Israeli. Er ist Russe.


ALS "EVET", wie er auf russisch genannt wird, vor vier Jahren seine Knessetfraktion auswählte, handelte er wie immer aus dem Bauch heraus. Keinen Unsinn über Demokratie, Vorwahlen oder Ähnliches. Es gibt einen Führer, und der Führer entscheidet.

Da gab es diese wunderschöne, junge Frau aus Petersburg, Anastasia Michaeli. Nicht sehr intelligent, vielleicht, aber während langweiliger Knessetsitzungen gut zum Ansehen.

Dann gab es noch diesen netten Mann mit einem sehr russischen Namen, Stas Misezhnikov, den kein Israeli aussprechen kann. Er ist unter den russischen Immigranten sehr bekannt. Los, nehmen wir ihn also!

Und dieser israelische Diplomat, Danny Ayalon, könnte nützlich sein, wenn ich Außenminister werde.

Aber Stimmungen vergehen, und gewählte Leute bleiben vier Jahre lang gewählt.

Die Schönheit entpuppte sich als Rabauke, außerdem ist sie dumm. Bei einem öffentlichen Treffen eines Knessetkomitees stand sie auf und goss ein Glas Wasser über ein arabisches Mitglied. Bei einer anderen Gelegenheit griff sie ein weibliches arabisches Mitglied auf der Knessetbühne körperlich an.

Der nette Russe war eher zu nett. Er war regelmäßig betrunken und organisierte Partys für seine Geliebte im Ausland, wobei die Unkosten von seinem Ministerium bezahlt wurden. Selbst seine Leibwächter beschwerten sich, dass er von Zeit zu Zeit verschwindet.

Und der Diplomat übertrumpfte alle, als er Journalisten einlud, um Zeugen seiner Demütigung des türkischen Botschafters zu sein, den er während eines offiziellen Gespräches auf einen sehr niedrigen Sitz sich setzen ließ. Dies führte weiter zu dem berühmt-berüchtigten Vorfall mit der türkischen Flotilla und fügte - und fügt auch noch - israelischen strategischen Interessen unermesslichen Schaden zu. Außerdem musste er zwanghaft Geheimnisse preisgeben.

Auf all dies reagierte Lieberman nicht. Er verteidigte seine Leute und kritisierte ihre Kritiker, die ja sowieso linkes Gesindel waren.

Aber jetzt ist die Zeit gekommen, um Liebermans Fraktion zur nächsten Knesset zu ernennen, natürlich ohne den demokratischen Unsinn. Zu ihrer äußersten Bestürzung wurden diese drei oben Genannten innerhalb von fünf Minuten entlassen. Alles, ohne dass Lieberman Gefühle zeigte. Ganz kalt. Gib dich mit Lieberman und seinesgleichen nicht ab! Genau so wenig wie mit Vladimir Putin und Co.


WENN ICH Binjamin Netanjahu wäre, würde ich keine Angst haben vor Abbas, Ahmadinejad, Obama, Mursi und vor der kombinierten Opposition in der Knesset. Wovor ich Angst haben würde, wäre Lieberman, irgendwo hinter meinem Rücken. Ich würde sehr viel Angst haben jede Minute, ja, jede Sekunde.

Vor zwei Wochen geschahen zwei verhängnisvolle Dinge, die das politische Ende von "König Bibi" sein könnten. Das eine war nicht sein Werk - das andere ja.

Bei den Likud-Vorwahlen, bei denen hässliche Geschäftemacherei und Manipulationen herrschten, wurde eine neue Knessetfraktion zusammengestellt, die fast nur aus extremen Rechten, einschließlich totaler Faschisten besteht, viele von ihnen sind Siedler und die von ihnen Ernannten. Gegen Netanjahus Wünsche wurden alle moderaten Rechtsorientierten unfeierlich rausgeschmissen.

Natürlich ist Netanjahu selbst ein extremer Rechter. Aber er liebt es, sich als moderaten, verantwortlichen, reifen Staatsmann darzustellen. Die Moderaten dienten ihm als Alibi.

Der neue Likud hat nichts mit der ursprünglichen "revisionistischen" Partei zu tun, die ihr Vorgänger war. Der Gründer der Partei war vor 85 Jahren Vladimir (Se'ev) Jabotinsky, ein in Odessa geborener und in Italien ausgebildeter Journalist und Poet. Er war ein extremer Nationalist und ein sehr liberaler Demokrat. Er erfand ein spezielles hebräisches Wort ("Hadar") für den idealen Juden, der ihm als Vision vorschwebte: gerecht, ehrlich, zurückhaltend, ein harter Kämpfer für seine Ideale, aber auch großherzig und großzügig gegenüber seinen Feinden.

Wenn Jabotinsky seine letzten Erben sehen könnte, wäre er entsetzt. (Er riet einmal Menachem Begin, einem seiner Schüler, in die Weichsel zu springen, wenn er nicht an das Gewissen der Menschheit glauben würde.)


KURZ VOR den Likud-Vorwahlen tat Netanjahu etwas Unglaubliches: Er kam mit Lieberman überein, ihre beiden Wahllisten zu vereinigen.

Warum dies? Sein Wahlsieg schien ohne dies sicher zu sein. Aber Netanjahu ist ein neurotischer Taktiker ohne Strategie. Er ist auch ein Feigling. Er möchte auf Nummer sicher gehen. Mit Lieberman ist seine Mehrheit so sicher wie eine Festung.

Aber was geht innerhalb der Festung vor sich?

Lieberman, jetzt die Nummer zwei, wird für sich selbst das bedeutendste und mächtigste Ministerium, das der Verteidigung, herauspicken. Er wird geduldig warten, wie der Jäger auf seine Beute. Die vereinte Fraktion wird im Geist viel enger mit Lieberman verbunden sein als mit Netanjahu. Lieberman, der kalte Rechner, wird warten, bis Netanjahu durch internationalen Druck gezwungen wird, gegenüber den Palästinensern, einige Konzessionen zu machen. Dann wird er zuschlagen.

In dieser Woche sahen wir das Vorspiel. Nachdem die UN in überwältigender Weise Palästina als einen Staat (mit Beobachterstatus) anerkannt hat, "rächte" sich Netanjahu, indem er seinen Plan verkündigte, 3000 neue Wohneinheiten in den besetzten palästinensischen Gebieten zu bauen, einschließlich Ostjerusalem, der zwangsläufig zukünftigen Hauptstadt Palästinas.

Er betonte seine Entscheidung, das E-1-Gebiet aufzufüllen, den noch immer leeren Raum zwischen West-Jerusalem und der riesigen Siedlung Maaleh Adumim (die allein ein Gemeindegebiet hat, das größer als das von Tel Aviv ist). Dies würde dann tatsächlich den nördlichen Teil der Westbank vom südlichen Teil abschneiden, abgesehen von einem engen Flaschenhals bei Jericho.

Die Reaktion der Welt war stärker, als je zuvor. Zweifellos hat Präsident Obama im Geheimen die europäischen Länder ermutigt, Liebermans Botschafter zusammenzurufen, um gegen diesen Schritt zu protestieren. (Obama selbst ist zu feige, um dies selbst zu tun.) Angela Merkel, gewöhnlich eine Matte unter Netanjahus Füßen, warnte ihn, Israel riskiere, total isoliert zu werden.

Falls Merkel denkt, dies würde Netanjahu oder die Israelis allgemein einschüchtern, dann hat sie sich sehr geirrt. Die Israelis freuen sich tatsächlich über die Isolierung. Nicht, weil dies herrlich wäre, sondern weil es wieder einmal bestätigt, die ganze Welt sei antisemitisch und man könne ihr nicht trauen. Also zur Hölle mit ihr!


WAS IST mit den anderen Parteien? Beinahe frage ich: was für Parteien?

In der israelischen Politik mit ihren Dutzenden von Parteien, sind es nur zwei Blöcke, die zählen: die rechts-religiöse und die andere.

Es gibt keinen "linken" Block in Israel. Keiner wagt es, sich so zu bezeichnen. Stattdessen behauptet jeder jetzt, "im Zentrum" zu sein.

Eine anscheinend kleine Sache weckte in dieser Woche viel Aufmerksamkeit. Shelly Yachimovichs Laborpartei hat ihr langjähriges Stimmen-Abkommen mit Meretz beendet und machte ein neues mit Yair Lapid's Partei "Es gibt eine Zukunft".

Im israelischen Wahlsystem, das streng proportional ist, wird sorgfältig darauf geachtet, dass keine Stimme verloren geht. Deshalb können zwei Wahllisten im Voraus einen Deal machen, der ihre nach der Sitzverteilung übrig gebliebenen Stimmen kombiniert, so dass einer von ihnen, noch einen Sitz erhält. In gewissen Situationen kann dieser zusätzliche Sitz bei der endgültigen Sitzaufteilung zwischen beiden Blöcken entscheidend sein.

Labor und Meretz hatten eine natürliche Verbindung. Beide waren Sozialisten. Man konnte für Labor stimmen und war letztlich auch damit zufrieden, wenn die Stimme einem Meretz-Mitglied dazu verhalf, gewählt zu werden - und umgekehrt. Das Verdrängen einer Partei mit einer anderen hat Bedeutung - vor allem, wenn die andere eine hohle Liste ist, ohne ernsthafte Ideen, die sich Netanjahus Regierung anschließen will.

Diese Partei, die nichts weiter als Lapids persönlichen Charme vertritt, kann etwa acht Sitze gewinnen. Dasselbe gilt für Zipi Livnis brandneue "Bewegungs"-Partei, die im letzten Augenblick zusammengeschustert wurde.

Meretz ist eine loyale alte Partei, die alles beim richtigen Namen nennt, unbescholten von Korruption. Leider hat sie das langweilige Aussehen eines alten Topfes. Keine reizvollen, neuen Gesichter in einer Zeit, wo Gesichter mehr zählen als Ideen.

Die Kommunisten (Hadash) werden als "arabische" Partei angesehen, obwohl sie einen jüdischen Kandidaten hat. Wie die anderen beiden "arabischen" Parteien hat sie wenig Schlagkraft, vor allem, weil die Hälfte der arabischen Bürger überhaupt nicht mehr wählt - aus Gleichgültigkeit oder Empörung.

Und da ist also noch Labor. Yachimovitch ist es gelungen, ihrer halbtoten Partei neues Leben einzuflößen. Frische neue Gesichter beleben die Wahlliste, obwohl einige der Kandidaten kaum mit einander reden. (Nummer zwei ist im letzten Augenblick ausgeschieden).

Aber ist dies die neue Opposition? Nicht, wenn es sich um so kleine Dinge wie um Frieden handelt (ein Wort, das nicht erwähnt wird), um das riesige Militärbudget (dasselbe), um die Besatzung, um die Siedler (Shelly liebt sie), um die Orthodoxen (Shelly liebt auch diese). Unter Druck gibt sie zu, sie sei für die Zwei-Staaten-Lösung, aber im heutigen Israel bedeutet dies so gut wie nichts. Viel wichtiger ist, dass sie sich kategorisch weigert, sich zu verpflichten, sich der Netanjahu-Lieberman-Koalition anzuschließen.

Es könnte sich sehr wohl herausstellen, dass der Sieger der Wahlen, die heute in sechs Wochen stattfinden, Avigdor Lieberman sein wird, der Mann der kalten Rache. Und das würde der Beginn eines ganz und gar neuen Kapitels der israelischen Geschichte sein.


Copyright 2012 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Quelle:
Uri Avnery, 08.12.2012
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Dezember 2012