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STANDPUNKT/317: Gestohlene Kriege (Uri Avnery)


Gestohlene Kriege

von Uri Avnery, 21. September 2013



WENN DIR jemand etwas Kostbares stiehlt, sagen wir einen Diamanten, wirst du ärgerlich sein.

Selbst Gott sagt so etwas. Als Er einen Wurm sandte, um die Rhizinusstaude, die dem Propheten Jona in der Wüste Schatten spendete, verdorren zu lassen, fragte er ihn boshaft: "Meinst du, dass du mit Recht zürnst um der Staude willen?" (Jona 4,9)

Und nun ist da jemand, der uns etwas viel Kostbareres als einen Diamanten oder eine Staude gestohlen hat.

Einen Krieg, vielleicht sogar zwei Kriege.

Also haben wir jedes Recht, wütend zu sein.


KRIEG NUMMER EINS sollte in Syrien stattfinden. Die USA sollten das Regime von Bashar al-Assad angreifen. Eine medizinische Operation: kurz, sauber, chirurgisch.

Als der Kongress zögerte, wurden die Hunde der Hölle losgelassen. AIPAC sandte seine Rottweiler auf den Kapitolhügel, um jeden Senator oder Kongressmann, der dagegen war, in Stücke zu reißen. In Israel wurde gesagt, dass Benjamin Netanjahu sie auf ausdrücklichen Wunsch Barack Obamas dorthin sandte.

Aber die ganze Übung war von Anfang an unsinnig. Die Amerikaner sagten, sie würden das Assad-Regime nicht stürzen. Gott bewahre! Im Gegenteil. Assad sollte bleiben. Nicht nur, dass der bekannte Teufel dem unbekannten Teufel vorgezogen würde - es war klar, dass der andere Teufel viel schlimmer wäre.

Als ich sagte, dass die USA, Russland, der Iran und Israel ein gemeinsames Interesse hätten, Assad zu stützen, sah ich einige Augenbrauen hochgehen. Aber es war einfach logisch. Keiner in diesem ungehörigen Gespann hatte ein Interesse, in Syrien eine bunte Menge gewalttätiger Islamisten an die Macht zu bringen, die die einzige Alternative zu sein schienen, wenn der Kampf weiterging.

Bekämpft man also jemanden, von dem man wünscht, dass er bleibt? Das gibt nicht viel Sinn. Also, kein Krieg.


DIE ISRAELISCHE Wut über den dreisten Diebstahl eines guten Krieges war sogar noch größer.

Wenn die Amerikaner schon nicht ganz bei Sinnen sind, dann sind wir praktisch schizophren.

Assad ist ein Araber, ein böser Araber. Es ist noch schlimmer: er ist der Verbündete des großen, bösen Wolfs - des Iran. Assad stellt den Korridor für den Transfer von Waffen vom Iran zur Hisbollah im Libanon zur Verfügung. Wahrlich, das Zentrum der Achse des Bösen.

Stimmt, aber die Assads - Vater und Sohn und ihr unheiliger Geist - haben an ihrer Grenze zu Israel Ruhe bewahrt. Seit Jahrzehnten kein einziger Schuss. Wenn er stürzt und sein Platz von verrückten Islamisten übernommen wird - was wird dann geschehen?

Das israelische Herz sagt zwar: schlagt ihn, schlagt ihn hart. Aber der israelische Verstand - ja, den gibt es auch irgendwo - sagt, lass ihn, wo er ist. Es ist ein wirkliches Dilemma.

Aber für Netanyahu und Co. gibt es noch eine andere Sorge, eine sehr viel ernstere: den Iran.


ES IST eine Sache, eines kleinen chirurgischen Eingriffs bestohlen zu werden. Etwas ganz anderes ist es, einer wirklich großen Operation beraubt zu werden.

Ein israelischer Cartoon zeigte kürzlich den Präsidenten des Iran, wie er vor dem Fernsehschirm sitzt, sein Popcorn isst und mit Gefallen beobachtet, wie Obama in Syrien geschlagen wird.

Wie kann Obama auf den Iran Druck ausüben, fragen die israelischen Kommentatoren und Politiker, wenn er den Druck auf Syrien aufgegeben hat? Nachdem er Assad die dünne rote Linie ungestraft hat überschreiten lassen, wie will er die Iraner daran hindern, die viel dickere rote Linie zu überqueren, die er dort gezogen hat?

Wo ist die amerikanische Abschreckung? Wo ist die furchteinflößende Weltmacht? Warum sollten die Ayatollahs sich davon abhalten lassen, ihre Atombombe zu bauen, nachdem der amerikanische Präsident, nach Ansicht der Israelis, in die primitive Falle gelaufen ist, die ihm die Russen gestellt haben?


UM EHRLICH zu sein, kann ich ein bisschen Schadenfreude über die traurige Lage unserer Kommentatoren nicht unterdrücken.

Als ich kategorisch feststellte, dass es weder einen amerikanischen noch einen israelischen Militärschlag gegen den Iran geben wird, dachten einige meiner Bekannten, ich sei übergeschnappt.

Kein Krieg? Nachdem Netanyahu ihn versprochen hatte? Nachdem Obama seinem Beispiel gefolgt ist. Es muss einen Krieg geben!

Und siehe da, der Krieg verschwindet in der Ferne.

In Israels Augen wird der Iran von einer verrückten Bande religiöser Fanatiker beherrscht, deren einziges Ziel es ist, Israel zu vernichten. Sie sind voll damit beschäftigt, die Bombe zu bauen, mit der sie genau das tun wollen. Es kümmert sie nicht, dass von Israel mit Sicherheit ein Zweitschlag käme, der den Iran auf immer zerstören würde. So sind sie nun einmal. Deshalb muss die Herstellung der Bombe um jeden Preis verhindert werden. Auch wenn dabei die Weltwirtschaft als Ergebnis der Schließung der Straße von Hormus zusammenbricht.

Das ist ein klares Bild, jeder Teil ist in sich evident. Leider hat es keine Verbindung zur Realität.


DIE EREIGNISSE der letzten Zeit zeichnen ein völlig anderes Bild.

Es begann mit den Wahlen im Iran. Der leicht verwirrte Ahmadinejad, der pathologische Holocaustleugner, ist verschwunden. An seine Stelle wurde der zurückhaltend wirkende, moderate Hassan Rouhani gewählt. Solch eine Wahl wäre ohne die Zustimmung des obersten Führers Ali Khamenei unmöglich gewesen. Offensichtlich war Rouhani seine persönliche Wahl.

Was bedeutet dies? Für israelische Kommentatoren ist es ganz offensichtlich: die verschlagenen, trickreichen Perser betrügen wieder die ganze Welt. Sie werden natürlich fortfahren, ihre Bombe zu bauen. Aber die naiven Amerikaner fallen auf ihre Lügen herein, kostbare Zeit wird verloren gehen, und eines Tages werden die Iraner sagen. Jetzt haben wir die Bombe! Von jetzt an können wir tun, was wir wollen! Vor allem die zionistische Entität zerstören!

All dies entspringt der puren Phantasie. Die Iraner sind weit davon entfernt, ein primitives, selbstzerstörerisches Volk zu sein. Es ist ihnen sehr bewusst, dass sie die Erben einer glorreichen Zivilisation sind, wenigstens so alt und so reich wie die jüdische Vergangenheit. Die Idee, die Königinnen auszutauschen - wir zerstören euch, ihr zerstört uns - ist lächerlich, zumal Schach ein persisches Spiel ist. (Das Wort "Schach", so meint man, leitet sich vom persischen Schah, König, ab.)

Tatsächlich sind die iranischen Führer eine sehr vorsichtige und bedachtsame Gruppe. Sie haben nie ihre Nachbarn angegriffen. Der schreckliche, acht Jahre lange Krieg mit dem Irak war von dem leichtsinnigen Saddam Hussain begonnen worden.

Der Anstoß zum Bau der Bombe war, dass die machttrunkenen Neokonservativen in Washington, die meisten von ihnen zionistische Juden, ganz offen davon sprachen, den Iran als nächstes anzugreifen, direkt nach dem kurzen, kleinen Krieg, den sie im benachbarten Irak zu führen erwarteten.

Anscheinend hat die iranische Führung entschieden, dass es jetzt weit wichtiger ist, die Wirtschaft zu fördern, als mit der Bombe zu spielen. Da sie von Natur aus Händler sind - Basar ist auch ein persisches Wort - geben sie die Bombe vielleicht auf, wenn dafür die Sanktionen aufgehoben werden und sie den Reichtum ihres Landes zum Wohl ihrer Bürger und zum Aufbau einer fortschrittlichen modernen Gesellschaft nutzen können. Aus diesem Grund haben Khamenei und das Volk einen Mann wie Rouhani gewählt.


IN DIESER Woche strahlte das israelische Fernsehen einen Dokumentarfilm über das Leben der Israelis im Iran zur Zeit des Shahs aus. Es war ein regelrechtes Paradies (auch ein persisches Wort). Die Israelis lebten wie die Made im Speck. Sie bauten die gefürchtete Geheimpolizei des Schahs auf (die Savak, nicht zu verwechseln mit Schabak, dem israelischen Vorbild). Sie nahmen sich seiner Generäle an, von denen die meisten in Israel ausgebildet wurden. Sie bauten seine Industrie auf und begannen seine nuklearen Einrichtungen zu bauen. Reine Nostalgie.

Iranisches Öl wurde nach Europa durch Israel exportiert, und zwar mittels einer Pipeline, die zwischen Elath und Askalon gelegt und vom Shah finanziert wurde. Der amerikanisch-israelisch-iranische Deal, als Iran-Gate bekannt, wurde in den frühen Tagen des Ayatollahs (wörtlich übersetzt: Zeichen des Allah) ausgeheckt.

Wer in die Geschichte zurückblicken will, wird sich an die Tatsache erinnern, dass die Juden Dank des großen persischen Kaisers Cyrus aus der babylonischen Gefangenschaft nach Jerusalem zurückkehren konnten, wie es denn auch in der Bibel (in den Büchern Ezra und Nehemia) berichtet wird.

Die heutige Allianz zwischen Israel und Iran wurde auf der gemeinsamen Feindschaft gegen die Araber errichtet und kann leicht wieder in den Vordergrund treten. Politik ist wie Pornographie eine Frage der Geografie.


DIE KRIEGSMÜDE amerikanische Bevölkerung scheint geneigt zu sein, sich mit den Iranern zu arrangieren. Businessmen werden Basarhändler treffen und hoffentlich einen Handel ausarbeiten und keinen Krieg.

Zur selben Zeit ist auch in Syrien eine positive Entwicklung möglich. Jetzt, wo die USA und Russland entdeckt haben, dass sie in dieser kritischen Region zusammen arbeiten können, werden es die beiden Seiten im Bürgerkrieg vielleicht müde, einander abzuschlachten, und mit einer politischen Lösung (die ich letzte Woche z.B. beschrieben habe) übereinstimmen.

Das würde zwei gestohlene Kriege bedeuten - denen gestohlen, die an einem primitiven Glauben festhalten und darin übereinstimmen, die einzige Lösung für jedes Problem sei die Anwendung nackter Gewalt. Eine Dame aus Pakistan sandte mir folgendes Wort von Bertrand Russell:

"Ich habe einen sehr einfachen Glauben, dass Leben und Freude und Schönheit besser als der staubige Tod sind, und ich denke, wenn wir der Musik lauschen, müssen wir alle empfinden, dass die Fähigkeit, solch eine Musik zu machen und die Fähigkeit, Musik zu hören, eine Sache ist, die sich lohnt zu erhalten und nicht durch törichte Zankerei weggeworfen werden sollte. Man mag sagen, es ist ein einfacher Glaube, aber ich denke, dass alles Bedeutsame tatsächlich sehr einfach ist."


Copyright 2013 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion.

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Quelle:
Uri Avnery, 21.09.2013
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2013