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STANDPUNKT/378: Sisyphus wird erlöst (Uri Avnery)


Sisyphus wird erlöst

von Uri Avnery, 21. Juni 2014



WENN ES einen Gott gibt, hat er sicher eine Menge Humor. Die Karriere von Shimon Peres, der gerade seine Regierungszeit als Präsident von Israel beendet, ist ein klarer Beweis.

Er ist sein Leben lang Politiker gewesen und hat nie eine Wahl gewonnen. Er ist in aller Welt als Mann des Friedens bekannt, obwohl er mehrere Kriege begonnen und nie etwas für den Frieden getan hat. Er ist die populärste politische Person, die den größten Teil ihres Lebens gehasst und verachtet wurde.

Einmal, vor mehreren Jahrzehnten, schrieb ich über ihn einen Artikel mit dem Titel "Mister Sisyphus". Sisyphus - man erinnere sich - war in alle Ewigkeit dazu verdammt, einen schweren Felsbrocken auf die Spitze eines Hügels zu rollen, und jedes Mal, wenn er beinahe sein Ziel erreicht hatte, rutschte ihm der Felsbrocken aus den Händen und rollte wieder hinab.

Genau das ist Peres' Lebensgeschichte - bis jetzt - gewesen. Gott oder wer auch immer, hat offensichtlich entschieden: genug ist genug.


ES BEGANN damit, dass er als Junge in einem kleinen polnischen Städtchen lebte. Viele Male beklagte er sich bei seiner Mutter, dass die anderen Schüler in der (jüdischen) Schule ihn ohne Grund schlugen. Sein jüngerer Bruder Gigi musste ihn verteidigen.

Er kam 1934, ein Jahr nach mir, als 11-Jähriger in Palästina an. (Er ist fünf Wochen älter als ich). Sein Vater sandte ihn auf die landwirtschaftliche Schule in Ben Shemen, ein Kinderdorf, das ein Zentrum für zionistische Indoktrination war. Dort wurde aus dem polnischen Persky der hebräische Peres, der sich der Noar Oved (arbeitende Jugend), der Hauptjugendorganisation der herrschenden Mapai-Partei anschloss. Wie es damals üblich war, wurde er in einen Kibbuz geschickt.

Dort begann seine politische Karriere. Mapai teilte sich in zwei Teile, so auch die Jugendbewegung. Die Jungen und Aktiven schlossen sich der "Fraktion 2" an, der linken Abteilung. Peres, ab jetzt ein Ausbilder, war unter den paar, die so klug waren, bei der Mapai zu bleiben. Und damit zog er die Aufmerksamkeit der Parteiführer auf sich.

Die Belohnung kam bald. Der Krieg von 1948 brach aus. Jeder in unserm Alter eilte, sich der Kampftruppe anzuschließen. Der Krieg war buchstäblich ein Kampf auf Leben und Tod. Peres wurde von Ben-Gurion ins Ausland geschickt, um Waffen zu kaufen. Zweifellos eine bedeutende Aufgabe, aber eine, die auch von einem 70-Jährigen hätte getan werden können.

Die Tatsache, dass Peres in diesem schicksalhaften kritischen Augenblick nicht in der Armee diente, wurde nicht vergessen und brachte ihm die jahrzehntelange Verachtung unserer Generation ein.


ICH TRAF ihn zum ersten Mal, als wir 30 waren - er war schon Generaldirektor des Verteidigungsministeriums und der Liebling von Ben Gurion; ich war der Herausgeber eines populären Oppositions-Magazins. Es war keine Liebe auf den ersten Blick.

In seiner einflussreichen Position war der junge Peres ein entschiedener Kriegstreiber. Während der frühen 50er-Jahre ordnete sein Ministerium eine unendliche Kette von "Vergeltungsschlägen" an, um das Land in einem Kriegszustand zu halten. Arabische Flüchtlinge, die nachts zu ihren Dörfern schlichen, wurden getötet; dafür wurden Juden getötet, und inoffizielle Einheiten der Armee überquerten die Waffenstillstandslinie zur Westbank und zum Gazastreifen, um Zivilisten und Soldaten aus Rache zu töten.

Als die Situation reif war, begannen Ben-Gurion und Peres 1956 den Suez-Krieg. Das algerische Volk erhob sich gegen seine französischen Kolonialherren. Unfähig zuzugeben, dass es sich um einen echten Befreiungskrieg handelte, gaben die Franzosen dem jungen ägyptischen Führer Gamal Abd-al-Nasser die Schuld. In geheimer Absprache mit der ebenfalls absteigenden Kolonialmacht Großbritannien, machten die Franzosen mit Israel aus, Nasser anzugreifen. Dies endete in einem Chaos. Aber Peres und der Stabschef Moshe Dayan wurden in Israel wie Helden gefeiert: die Männer der Zukunft.

Die Franzosen zeigten ihre Dankbarkeit. Für seine Dienste erhielt Peres einen militärischen Atomreaktor in Dimona. Peres rühmt sich noch immer, der Vater von Israels Nuklearbewaffnung zu sein.


SEINE KARRIERE steuerte klar auf die Spitze zu. Ben Gurion ernannte ihn zum stellvertretenden Minister, und er wurde dafür bestimmt, Verteidigungsminister zu werden, die zweit-mächtigste Position in Israel, als sich eine Katastrophe ereignete. Der missmutige "Alte Mann" stritt mit seiner Partei herum und wurde hinausgeworfen. Peres folgte. Der Felsen rollte nach unten.

Ben-Gurion bestand darauf, eine neue Partei zu gründen, und zog einen unwilligen Peres hinter sich her. Mit unermüdlicher Energie durchzog Peres das Land, ging von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt, und die "Rafi"-Partei nahm Form an. Doch trotz all ihrer berühmten Führer gewann sie nur zehn Sitze in der Knesset. (Die Friedenspartei, die ich zur selben Zeit gründete, erhielt ein Siebtel ihrer Stimmenanzahl).

Als Mitglied einer kleinen Oppositionspartei, vegetierte Peres dahin. Die Zukunft schien dunkel, als Nasser zur Rettung kam. Der ägyptische Präsident sandte seine Armee in den Sinai, Kriegsfieber erreichte einen hektischen Gipfel und die Öffentlichkeit entschied, dass Ben-Gurions Nachfolger, Levy Eshkol, seine Position als Verteidigungsminister aufgeben musste. Verschiedene Namen wurden erwähnt. Ganz oben auf der Liste stand Peres.

Und dann geschah es wieder. Moshe Dayan schnappte den Preis weg und wurde Verteidigungsminister, Sieger des 1967er-Krieges und ein weltweit bekannter Held. Peres blieb ein grauer Politiker, ein kleiner Minister. Der Felsen rollte wieder hinab.

Sechs ruhmreiche Jahre lang war Moshe Dayan der Kapitän auf dem Narrenschiff, bis das Fiasko des Yom Kippur-Krieges kam. Er und Golda Meir wurden vom Tisch gewischt, und das Land brauchte einen neuen Ministerpräsidenten. Peres war der offensichtlichste Kandidat. Aber im allerletzten Augenblick erschien - praktisch aus dem Nichts - Yitzhak Rabin und schnappte den Preis weg. Peres musste sich mit dem Verteidigungsministerium zufrieden geben.

Er war es nicht. Die nächsten drei Jahre widmete er Tag und Nacht unermüdlich seinem Drang, Rabin zu unterminieren. Der Kampf wurde notorisch, und Rabin erfand einen Titel, der Peres viele Jahre lang anhing: "Unermüdlicher Intrigant".

Die Bemühung brachte jedoch Früchte. Am Ende seiner Amtszeit sah sich Rabin einem Skandal gegenüber: Nach seiner Amtszeit als Botschafter in den USA ließ er ein Bankkonto in Washington offen, was gegen das israelische Gesetz war. Er dankte mitten in der Wahlkampagne von 1977 ab, Peres übernahm das Amt. Endlich war der Weg offen.

Und dann geschah Unglaubliches. Nach 44 aufeinander folgenden Jahren an der Macht - vor und nach der Gründung Israels - verlor die Labor-Partei die Wahl. Menachim Begin kam an die Macht. Die Verantwortung hatte der Parteiführer zu tragen, Shimon Peres. Niemand gab Rabin die Schuld.


AM VORABEND des Libanonkrieges 1982 gingen Peres und Rabin zu Ministerpräsident Begin und drängten ihn dazu, anzugreifen. Das hinderte Peres nicht daran, zwei Monate später als Hauptredner der riesigen Protestkundgebung gegen das Sabra-und-Schatila-Massaker aufzutreten.

Begin trat zurück und Yitzhak Shamir nahm seinen Platz ein. Bei der folgenden Wahl erreichte Peres wenigstens ein Unentschieden. Shamir wurde wieder Ministerpräsident für zwei Jahre, denen dann Peres folgte. Während seiner zwei Jahre als Ministerpräsident tat er nichts für den Frieden. Seine Haupttätigkeit war, den Präsidenten Haim Herzog davon zu überzeugen, den Chef des Sicherheitsdienstes und eine Gruppe seiner Leute zu amnestieren, die zugaben, mit bloßen Händen zwei junge arabische Gefangene, die einen Bus entführt hatten, umgebracht zu haben.

1992 war es wieder Rabin, der ihrer Partei zur Macht verhalf. Er ernannte Peres zum Außenminister, vermutlich, weil er ihm dort nichts antun konnte. Doch die Dinge nahmen eine andere Richtung.

Yasser Arafat, mit dem ich seit 1974 in Kontakt stand und den ich 1982 im belagerten Beirut traf, entschied sich, mit Israel Frieden zu schliessen. Der Kontakt wurde im Geheimen in Oslo aufgenommen. Das Ergebnis waren die historischen Oslo-Abkommen.

Zwischen Peres, seinem Assistenten Yossi Beilin und Rabin begann ein Wettstreit um den Ruhm. Peres versuchte, sich alles anzueignen. Beilin widersprach ihm wütend. Aber es war natürlich Rabin, der die schicksalhafte Entscheidung traf und dafür den Preis bezahlte.

Zuerst gab es eine Schlacht um den Nobelpreis. Das Oslo-Komitee entschied natürlich, diesen Arafat und Rabin zu geben (wie es ihn vorher Sadat und Begin verliehen hatte). Peres verlangte wütend, einen Teil davon abzubekommen und mobilisierte die halbe politische Welt. Aber wenn Peres ihn bekäme, warum dann nicht auch Mahmoud Abbas, der mit ihm unterzeichnet hatte und der jahrelang für den palästinensisch-israelischen Frieden gearbeitet hatte?

Nichts zu machen. Der Preis kann höchstens an drei Leute vergeben werden. Peres erhielt ihn - Abbas nicht.


DAS OSLO-Abkommen öffnete für Israel eine neue Straße. Peres begann, (endlos) über den neuen Nahen Osten zu sprechen, und wählte den Ausdruck zu seinem persönlichen Markenzeichen. Er und Rabin hatten die Dinge zwischen sich aufgeteilt. Und dann schlug das Unglück wieder zu.

Wenige Minuten nachdem er neben Peres gestanden und ein Friedenslied auf der Massendemonstration in Tel Aviv gesungen hatte, wurde Rabin 1995 ermordet. Peres selbst war am Mörder mit seiner geladenen Pistole vorbeigegangen, der ihm nicht mit einer Kugel schmeicheln wollte.

Das war der dramatische Höhepunkt für Peres und für Israel. Das ganze Land kochte vor Wut. Falls Peres, der einzige Nachfolger, sofortige Wahlen ausgerufen hätte, hätte er mit einem Erdrutschsieg gewonnen. Die Zukunft Israels wäre anders verlaufen.

Aber Peres wollte nicht als Rabins Erbe gewinnen. Er wollte mit seinen eigenen Verdiensten gewinnen. Also verschob er die Wahlen, begann einen neuen Libanonkrieg, der mit einer Katastrophe endete, verursachte eine andere tödliche Terror-Kampagne, indem er den Mord an einem beliebten Hamas-Führer befahl - und verlor die Wahl.

Um das Murphy-Gesetz etwas abzuwandeln: "Wenn eine Wahl verloren werden kann, wird Peres sie verlieren. Wenn eine Wahl nicht verloren werden kann, wird Peres sie trotzdem verlieren."

Bei einer erinnerungswürdigen Gelegenheit wandte sich Peres bei einem Treffen der Parteienmitglieder an diese und stellte die rhetorische Frage "Bin ich ein Verlierer?". Die ganze Zuhörerschaft brüllte zurück: "Ja!"


DAS SOLLTE das Ende der Sisyphus-Schwierigkeiten gewesen sein. Neue Leute übernahmen die Labor-Partei. Peres wurde zur Seite gedrängt. So schien es wenigstens.

Ariel Sharon, der Likudführer des extrem rechten Flügels, kam an die Macht. In der ganzen Welt wurde er als Kriegsverbrecher angesehen. Der Verursacher mehrerer Greueltaten wurde von einer israelischen Kommission als "indirekter Verantwortlicher" für die Sabra- und Shatila-Massaker getadelt, der Mann, der für das verhängnisvolle Siedlungsprojekt verantwortlich war, benötigte jemanden, der ihn in der Welt akzeptabel machte. Und wer war das? Shimon Peres, der international berühmte Mann des Friedens. Später leistete er Netanjahu denselben Dienst.

Aber sein Felsbrocken rollte ein letztes Mal hinab. Die Knesset hatte den Staatspräsidenten von Israel zu wählen. Peres war der offensichtliche Kandidat, gegen den nur ein politischer Niemand antrat, Moshe Katzav. Doch das Unmögliche geschah: Peres verlor, obwohl er sich einer Operation unterzogen hatte, die seinen zeitlebens traurigen Gesichtsausdruck in etwas Freundlicheres veränderte.

Selbst Leute, die Peres nicht liebten, stimmten darin überein, dass dies nun gerade zu viel war. Katzav wurde der Vergewaltigung angeklagt und ins Gefängnis geschickt. Endlich, endlich gewann Peres die Wahl!


SEITDEM hat sich die Tragödie in eine Farce verwandelt. Der Mann, der sein ganzes Leben verschmäht wurde, wird plötzlich die populärste Person in Israel. Als Präsident konnte er jeden Tag reden und einen endlosen Strom von Banalitäten loslassen. Die Öffentlichkeit ahm alles begierig auf.

In aller Welt wurde Peres zu einem der großen alten Männer, einer der "Weisen Alten", der Mann des Friedens, das Symbol von allem Feinen und Guten in Israel.

Sein Nachfolger ist schon gewählt worden. Eine sehr nette Person der sehr extremen Rechten.

In ein paar Wochen wird Peres endlich abdanken.

Endlich? Warum, er ist doch erst 90!



Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 21.06.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juni 2014