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STANDPUNKT/428: Über Flaschen (Uri Avnery)


Über Flaschen

von Uri Avnery, 7. Februar 2015


JEDER WEISS, worum es in den israelischen Wahlen geht.

Die Entscheidung ist heftig: auf der einen Seite steht der Traum von Groß-Israel "vom Meer bis zum Fluss", was in der Praxis ein Apartheidstaat werden würde; auf der anderen Seite ein Ende der Besatzung und Frieden.

Einige würden es auch eine soziale Entscheidung nennen: auf der einen Seite der bestehende neo-liberale Staat mit der weitestreichenden Ungleichheit in der industrialisierten Welt; auf der anderen Seite, ein sozialer, demokratischer Staat mit sozialer Solidarität.

Ist das Land also voller Plakate über Krieg und Frieden, Besatzung und Siedlungen, Arbeitslohn und Lebenshaltungskosten? Sind auch die Fernsehprogramme voll davon? Beschäftigen sich die Titelseiten der Zeitungen damit?

Überhaupt nicht. Noch fünf Wochen sind es bis zum Wahltag - und all diese Themen sind praktisch verschwunden.

Krieg, Frieden, soziale Gerechtigkeit - sie verursachen nur ein kollektives Gähnen. Es gibt viel interessantere Sachen, die die öffentliche Meinung mitreißen.

Zum Beispiel Flaschen.



FLASCHEN, UM Himmels willen? Wahlen um Flaschen?

Das ganze Land konzentriert sich ganz auf etwas, das Sherlock Holmes das Rätsel der Flaschen nennen würde.

Israel ist eine ökologisch denkende Gesellschaft. Sie fühlt sich von weggeworfenen Plastik- und Glasflaschen bedroht. Es wurde also ein Gesetz erlassen, das Supermärkte und andere Einzelhandelsläden verpflichtet, ein Pfand zu verlangen - ein paar Cent - etwa 13 Cent für eine Plastikflasche, etwa 30 Cent für ein Weinflasche. Das wird zurück gezahlt, wenn die leere Flasche zurückgegeben wird. Viele Leute, wie ich, kümmern sich nicht darum.

Aber kleine Summen können zu großen Summen werden. Viele arme ältere Leute verdienen eine Art Lebensunterhalt, wenn sie leere Flaschen aus Abfallbehältern auf den Straßen sammeln, meistens für Familien des organisierten Verbrechens.

Alle zurückgegebenen Flaschen werden wieder verwendet. Die Umwelt ist gerettet. Jeder ist damit einverstanden. Wie kommt es, dass dies ein heißes Wahlkampfthema wird, das alles andere von der nationalen Tagesordnung verdrängt?


BEFASSEN WIR uns mit der First Family: mit Benjamin Netanjahu, seiner Frau Sarah und den beiden erwachsenen Söhnen.

Die Familie ist vom Staat in der offiziellen Residenz des Ministerpräsidenten im Zentrum Jerusalems untergebracht. Sie besitzt zwei weitere private Wohnsitze - eine Wohnung in einem guten Jerusalemer Stadtteil und eine prächtige Villa in Cäsarea, in einer Wohngegend der sehr Reichen.

Nach dem Gesetz werden all diese Wohnungen vom Staat unterhalten. Aus öffentlichen Mitteln werden alle Lebenshaltungskosten wie Lebensmittel und Getränke bezahlt, ebenso das Personal, das die Familie bedient.

Seit Beginn der Amtszeit von Netanjahu gibt es Gerüchte und Gemunkel über die Dinge, die sich in den drei Wohnungen abspielen. Es scheint, dass Sarah Netanjahu, die Möchte-gern-Königin, eine schwierige Person ist, besonders für die Hausangestellten. Einige von ihnen haben sie wegen Misshandlung verklagt. Häufig findet ein Wechsel bei den Hausangestellten statt. Das entlassene Personal beklagt sich.

Eine Enthüllung war, dass Sarah'le (wie jeder sie - nicht immer liebevoll - nennt), Gartenmöbel vom Regierungssitz zur privaten Villa bringen ließ. Eine andere war, dass der Personalchef mitten in der Nacht in seiner Wohnung aufgeweckt und ihm befohlen wurde, sofort eine heiße Suppe ins Schlafzimmer der Herrin zu bringen. Es scheint, dass sie das Personal wegen kleiner Versäumnisse häufig anschreit. All dies wurde bei diversen Rechtsfällen vorgebracht - zum großen Vergnügen der Massen.

So wurde zum Beispiel bekannt, dass die Residenz des Ministerpräsidenten im Laufe des Jahres für hunderttausend Dollar Eiskrem bestellt hat. Immer Pistazieneis.

Klagen über des Ministerpräsidenten Vorliebe für Luxus sind nicht neu. Seit Jahren führt der Staatsanwalt Ermittlungen über die "Bibi-Reisen" durch, die Gewohnheit Netanjahus und seiner Familie, erster Klasse zu fliegen und in aller Welt in Luxushotels abzusteigen, ohne einen Schekel dafür zu bezahlen - alle Ausgaben zahlten ausländische Milliardäre. Da Netanjahu damals Finanzminister war, war das gegen das Gesetz.

Und nun kommen die Flaschen.


EINE ENTLASSENE Angestellte verriet den Medien, dass Sarah'le für gewöhnlich zwei Regierungsangestellte in einem offiziellen Wagen zur Flaschensammelstelle schickt, um leere Flaschen zurückzugeben und das Pfandgeld zu kassieren. Statt das Geld der Regierung zurückzugeben, wie es das Gesetz verlangt, steckt sie es für den privaten Gebrauch in die eigene Tasche.

Ein großes Geschäft? Es scheint so. Als sie das erste Mal deswegen erwischt wurde, zahlte die Familie 4000 Schekel - fast 1000 Euro - an die Regierung zurück. Jetzt scheint es, dass die Summen viel größer sind und Sarah'le seither mit dieser Praxis fortfährt.

Dies mag eine kriminelle Straftat sein. Der Justizminister und der Staatsanwalt - beide von Netanjahu ernannt - warfen einander die Akte zu. Jetzt können sie verpflichtet werden, vor den Wahlen diesbezüglich etwas zu tun.

Wie viele Flaschen? Es wurde bekannt, dass die Familie im Durchschnitt eine Flasche teuren Weines pro Tag konsumiert. In einem Land wie Israel, in dem viele Leute überhaupt keinen Alkohol trinken, ist das eine ganze Menge. Als man sich danach erkundigte, brachte der Familienanwalt das Land ins Staunen, denn er behauptete im Fernsehen, dass Wein kein "Alkohol" sei.

Der Gedanke, dass unser Ministerpräsident betrunken sein könnte, wenn er schicksalshafte schnelle Entscheidungen für das Land treffen muß - eine Militäraktion z.B. - ist nicht gerade angenehm.

Ein jiddischer Ausdruck fällt mir ein. Lange bevor Alois Alzheimer, der deutsche Arzt, der vor 100 Jahren diese nach ihm benannte Krankheit entdeckte, wurden die von ihm beschriebenen Symptome auf Jiddisch "over-bottles" genannt. Dies ist vom Hebräischen "Over battel" (Faulenzer) abgeleitet -, ein nutzloser alter Kerl.

Auf Englisch heißen Flaschen "bottles". Über die Netanjahus könnte man jetzt im buchstäblichen Sinn sagen, dass sie over-bottled, nutzlos sind.



SEIT WOCHEN ist dies das heißeste Thema in Israel.

Bibi-Hasser, von denen das Land eine Menge hat, sind glücklich. Dies wird Netanjahu und den Likud sicher ernsthaft schaden. Geschieht dies?

Wie wir wissen, überhaupt nicht. Im Gegenteil - nach mehreren Tagen, in denen das "Zionistische Lager" (auch als Labor-Partei bekannt) den Likud bei Umfragen um ein oder zwei Sitze überholte, hat der Likud sich erholt und den Vorsprung von zwei oder drei Sitzen übernommen. Kein Labor-Dschinn ist aus den Flaschen aufgetaucht.

Das Land hat sich amüsiert. Die Flaschen lieferten den Stoff für grenzenloses Geschwätz, für Karikaturen und Satire, veränderte jedoch nicht die politische Einstellung der Wähler.

Und mit dem "Zionistischen Lager" ist natürlich etwas falsch gelaufen.


MILITÄRISCH GESPROCHEN: Wenn es einem Feldherrn gelingt, die feindliche Linie zu durchbrechen, wäre das Letzte, was er tun sollte, anzuhalten und sich selbst zu gratulieren. Er sollte alle seine Kräfte sofort in die Bresche werfen und das Hinterland des Gegners erobern.

Jitzhak Herzog ist kein Feldherr und hat diese Lektion nicht gelernt.

Er hat seine Wahlkampagne recht gut begonnen. Seine politische "Heirat" mit Zipi Livni war ein Meisterstück. Livni bringt zwar keine Mitgift mit - ihre Partei war eher virtuell als real. Aber die Vereinigung schuf ein Gefühl der Neuartigkeit, der Bewegung, der Dynamik. Zumal Herzog - falls er Ministerpräsident würde - damit einverstanden war, sich mit Livni im Amt abzuwechseln. Das wäre eine Geste, die als großzügiger Akt von Bescheidenheit und Selbstlosigkeit wahrgenommen würde - ungewöhnlich für einen Politiker in Israel (oder auch anderswo, vermute ich). Gewöhnlich sind Politiker Egomanen.

Die Ergebnisse kamen umgehend. Die Labor-Partei, die bis dahin als beinahe erstarrt angesehen wurde, wurde bei den Meinungsumfragen lebendig. Sie überholte den Likud. Auf einmal konnten sich die Leute vorstellen, die Rechte nieder zu stimmen. Herzog, eine anspruchslose Person von kleiner Statur, erschien plötzlich als plausibler Kandidat für die Führung.

Und dabei blieb es. Im neuen "zionistischen Lager" geschah nichts. Bei den internen Vorwahlen tauchte eine eindrucksvolle Kandidatenliste auf, eine Liste von neuen, jungen und kompetenten Leuten, die bei weitem attraktiver als die auf den Listen aller anderen Parteien sind.

Aber das war es dann auch. Die Partei wurde still. Sie reagierte überhaupt nicht auf all die himmelschreienden Provokationen Netanjahus an der Nordgrenze. Sie brachte keine neuen und revolutionären Ideen, sie begann keine wirkliche Propagandakampagne. Bis jetzt ist die Parteikampagne wie Herzog selbst, anspruchslos, anständig und still, sehr still.

Der Likud andererseits ist zügellos. Seine Anhänger werfen jeden Dreck, den sie erwischen können. Sie sind schrill, skrupellos und vulgär.

Aber das Entscheidende ist, dass es keinen Schwung mehr gab. Vergeblich schlug ich in zwei Artikeln in Haaretz eine gemeinsame Wahlliste vor: den Zusammenschluss aller Mitte-Links-Parteien. Das würde den Eindruck erwecken, dass alle anti-Netanjahu-Kräfte sich vereinigen, um der Likud-Herrschaft ein Ende zu bereiten und eine neue Regierungsmehrheit mit neuer Agenda aufzubauen.

Die Idee rief keine Reaktion hervor. Herzog will Meretz nicht, aus Angst, dass seine Liste von Linken kontaminiert würde. Er war auch nicht bereit, Yair Lapids Zentrumspartei zu umwerben. (Mein Vorschlag war, beide Parteien aufzunehmen, sodass sie sich im öffentlichen Bewusstsein ausgeglichen hätten.)

Herzog war anscheinend nicht wie ich der Ansicht, dass eine große neue Verbindung Enthusiasmus schaffen und die linke Öffentlichkeit aus ihrer fatalen Apathie reißen würde.

Lapids Egomanie hinderte ihn daran, solch eine Union einzugehen, in der er nicht die Nummer eins sein würde, obwohl die Meinungsumfragen voraussagten, dass seine Partei schrumpfen würde und zwar bis zur Hälfte ihrer jetzigen Stärke. Meretz ist nicht bereit, ihre behagliche Isolation aufzugeben, sie ist eher ein Club als eine politische Kraft. Die gelehrten Professoren, denen es an politischer Einsicht fehlt, wovon die Linke im Überfluss hat, rieten unerbittlich ab.

Als der letzte Tag der Angebotsabgabe der Wahllisten kam und vorbeiging, war ich traurig. Nicht ärgerlich, nur traurig. Ich fühlte in meinen Knochen, dass eine einzigartige Gelegenheit, die Herrschaft des rechten Flügels zu beseitigen, verpasst war - mit allem, was sie für Israels Zukunft zur Folge hat.

Es könnte noch geschehen. Die Öffentlichkeit kann sich noch entscheiden, dass es genug ist. Aber die Chancen dafür sind sehr gering.


EINER MEINER Freunde, der zu verschwörerischen Theorien neigt, hat darauf hingewiesen, dass die ganze Flaschenangelegenheit vielleicht von Netanjahu selbst als Trick vorgebracht wurde, um die Öffentlichkeit von den schicksalshaften Problemen, mit denen Israel fertig werden muss und für die er keine Lösung hat, abzulenken.

Was auch immer geschieht, so haben die Flaschen die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt. Seine Bilder füllen die TV-Mattscheibe, sein Name spielt in den Nachrichten die Hauptrolle. Herzog bleibt ohne Flaschen und Pistazieneis diskret im Hintergrund. Selbst Zipi kann nicht mit Sarah'les bunter Persönlichkeit konkurrieren.

Diejenigen von uns, die fürchten, dass Netanjahu am Vorabend der Wahl einen Krieg provoziert, könnten sagen: better bottles than battles - Flaschen sind besser als Schlachten.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 07.02.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Februar 2015

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