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STANDPUNKT/449: Ängste ernst nehmen statt Angstmacherei (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2015

Ängste ernst nehmen statt Angstmacherei

Von Thomas Meyer


"Unsere Zeit ist in der Tat gefährlich. Wie wir gesehen haben, sind viele Ängste rational, und Appelle an die Angst müssen eine Rolle in einer Gesellschaft spielen, die das Leben der Menschen ernst nimmt." S0 bilanziert die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum ihre Studie über Auswege aus der Politik der Angst (Die neue religiöse Intoleranz: Ein Ausweg aus der Politik der Angst, 2014). Sie greift damit einen epochalen Gedanken des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt auf, für den die Freiheit von Furcht eines der zentralen Grundrechte unserer Zeit werden sollte und seine Verwirklichung eine Kernaufgabe jeder ernsthaften Demokratie.

Nicht die Verleugnung also, gar Verdrängung immer wieder aufquellender Ängste hinter glitzernden Fassaden ist die Aufgabe modernen Regierens, sondern der verantwortungsvolle und offene Umgang mit ihnen. Der entscheidende erste Schritt dazu ist ihre Anerkennung, der zweite die rationale Rückführung der Angst auf konkrete Ursachen, die tatsächlich zu fürchten sind, um sie dann gemeinsam zu überwinden. Roosevelts Appell an seine Landsleute lautete daher: Ich kenne Eure Angst und wir werden sie gemeinsam bezwingen - nicht durch die Aussonderung der Schwächeren, sondern durch die Einbeziehung aller bei der Suche nach der für alle besten Lösung.

Das war die Grundlage des New Deal als einer produktiven Politik gegen die Angst und, nicht weniger wichtig, ihrer großen gesellschaftlichen Akzeptanz. Sie begründete den großen historischen Gegensatz zwischen der amerikanischen Politik zur Sicherung der Zivilisation in der Weltwirtschaftskrise und der nationalsozialistischen Politik der Instrumentalisierung der Angst durch die Vernichtung der zu Sündenböcken gestempelten gesellschaftlichen Minderheiten: der kurze Weg in die Barbarei.

Angst kann mithin ein guter oder ein schlechter politischer Ratgeber sein, je nachdem, wie mit ihr umgegangen wird: offen und inklusiv oder verdruckst und exklusiv. Verantwortungslos ist die demagogische Instrumentalisierung vorhandener Ängste, die Sündenböcke schafft, an denen sie sich abreagiert und damit dasjenige ins Irrationale verschiebt, worüber sich die Gesellschaft vernünftig verständigen müsste. Das kommt der Leugnung der wirklichen Ursachen der Angst gleich. Rational hingegen ist eine politische Bearbeitung von Ängsten, die aus ungewissen Gefahren zunächst eine begründete Furcht vor identifizierten Bedrohungen entstehen lässt und damit gemeinsame Anstrengungen zu deren Überwindung motiviert. Die Angst der Anhänger von Pegida ist real und ihre ursprünglichen Motive sind respektabel, erst ihre Ablenkung auf die pauschalen Feindbilder Islam, Medien und politische Kaste macht sie zu einer verwerflichen und gefährlichen Strategie. Niemals kann aus ihr die Überwindung der tatsächlichen Ursachen folgen, die diese Ängste hervorbringen.

Rational ist eine politische Bearbeitung von Ängsten

Zwei große, fortwirkend aktuelle Beispiele für den produktiven Umgang mit Angst sind die Sozialdemokratie der Angst von Tony Judt und die Heuristik der Furcht aus dem "Prinzip Verantwortung" von Hans Jonas. Beide appellieren an eine spezifisch definierte Angst bzw. Furcht, die als starkes Motiv für eine Politik fruchtbar gemacht werden soll, die im Interesse aller eine dringende Gefahr abwenden will, die angesichts der in unserer Gesellschaft verbreiteten Verdrängungslust keine Aufmerksamkeit findet. Sie thematisieren geradezu latente Ängste, um die Gefahren beizeiten abzuwenden und die Risiken zu überwinden, durch die wahr werden könnte, wovor sich die Menschen zu Recht fürchten. Judt geht es um die Sicherung der sozialen Grundlagen, ohne die keine moderne Demokratie Bestand hat, was aber immer mehr in Vergessenheit gerät.

Die Demokratie selbst ist in Gefahr, weil die Gründe in Vergessenheit geraten, die in der Weltwirtschaftskrise (in den USA und Skandinavien) und danach (in Kontinentaleuropa) zu dem sozialdemokratischen Kompromiss geführt haben, der die Demokratie überall, wo sie von Dauer ist, trägt. Heute sind die beispiellosen Vorteile dieses historischen Kompromisses zur unbewussten Gewohnheit geworden und das Gedächtnis an seine gesellschaftlichen Ursprünge in der existenziellen Krise der Demokratie verblasst. Immer sichtbarer hingegen werden seine (vergleichsweise geringen) Nachteile. Dadurch verliert er in den Augen vieler Jüngerer seinen Reiz und seine Dringlichkeit - das macht sie widerstandslos gegen die Attacken derer, die schon lange darauf gewartet hatten, seine moralischen Grundlagen zu korrumpieren.

Die Sozialdemokratie der Angst soll der ganzen Gesellschaft dramatisch in Erinnerung rufen, dass in Europa das Schicksal der Demokratie besiegelt wäre, wenn wir den Abriss des Fundaments gestatten, auf dem sie historisch ruht. Die Mobilisierung der Angst, bzw. der konkreten Furcht vor dem, was dann den meisten drohen würde, soll eine emotionale und soziale Macht hervorbringen, die jenen historischen Ängsten gleichkommt, die einst die großen Nutznießer der kapitalistischen Marktwirtschaft und die Arbeiterbewegung dazu trieb, den sozialdemokratischen Kompromiss zu schließen: Marktwirtschaft ja, aber nur mit politischer Regulierung und universellem Sozialstaat; Privateigentum an Produktionsmitteln ja, aber nur mit der starken Beschränkung durch Arbeitsrecht und Gewerkschaftsmacht (Wirtschaftsdemokratie).

Mit diesem Appell an die Furcht hofft Judt die Erfahrung nachzubilden, die einst den sozialdemokratischen Kompromiss für ganze Gesellschaften so überzeugend machte - um zu verhindern, dass sie diese Erfahrung real noch einmal wiederholen müssen.

Damit vergleichbar ist Hans Jonas Begriff der "Heuristik der Furcht" als einer Methode, die uns befähigen und motivieren soll, uns der Zerstörung der natürlichen Grundlagen der Zivilisation entgegenzustellen, bevor es dafür zu spät ist. Sie steht für den Imperativ, uns bei allen für die Integrität der natürlichen Lebensgrundlagen bedrohlichen großtechnischen Eingriffen in die Natur konkrete Vorstellungen darüber zu machen, welche Risiken und Gefahren sie im schlimmsten Falle auslösen können, damit wir - sozusagen sinnfällig - die Erfahrung imaginieren, die wir den nachkommenden Generationen mit unserem heutigen Handeln aufzwingen. Die Heuristik der Furcht soll uns Heutige nötigen, den Panzer der Verdrängung ("so schlimm wird es schon nicht werden") aufzubrechen, bevor wir handeln, um unserer Verantwortung gegenüber den nachkommenden Generationen gerecht zu werden.

Ängste sind offensichtlich, wo Menschen leben und handeln, immer da, und ihr realistischer Kern ist zumeist produktiv. Ihre Verdrängung bewirkt selten Gutes und ist nie von Dauer. Für die Risikogesellschaft der Gegenwart könnten die skizzierten Beispiele eines produktiven, sozial und ökologisch zukunftsfähigen Umgangs mit ihnen beispielgebend sein.


Thomas Meyer ist emeritierter Professor für Politikwissenschaften an der Universität Dortmund und Chefredakteur der NG/FH. Zuletzt im VS Verlag erschienen: Was ist Fundamentalismus? In Kürze erscheint: Die Unbelangbaren. Wie politische Journalisten mitregieren (edition suhrkamp).
thomas.meyer@fes.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2015, S. 43 - 45
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. April 2015

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