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STANDPUNKT/452: "Es gibt noch Richter..." (Uri Avnery)


"Es gibt noch Richter..."

von Uri Avnery, 18. April 2015


IN DIESER Woche erhielt ich eine zweifelhafte Auszeichnung: Ein bahnbrechendes Urteil des Obersten Gerichtshofes ist nach mir genannt worden.

Es ist eine Ehre, auf die ich gern verzichtet hätte.


MEIN NAME erschien ganz oben, als erstes auf einer Liste von Antragstellern, Vereinigungen und Einzelpersonen, die das Gericht gebeten haben, ein Gesetz zu streichen, das von der Knesset erlassen worden war.

Israel hat keine schriftliche Verfassung. Diese ungewöhnliche Situation wurde von Beginn des Staates an geschaffen, weil David Ben Gurion, ein leidenschaftlicher Säkularist, keinen Kompromiss mit den orthodoxen Parteien erreichen konnte, die darauf bestanden, dass die Torah schon eine Verfassung sei.

Anstelle einer Verfassung haben wir also eine Anzahl von Grundgesetzen, die nur einen Teil der Rechtsfragen abdecken, und eine Menge von Präzedenzfällen des Obersten Gerichtes. Dieses Gericht maßte sich langsam das Recht an, Gesetze, die der nicht existenten Verfassung widersprechen, aber von der Knesset verabschiedet wurden, aufzuheben.


BEGINNEN WIR mit der letzten Knesset: rechts extreme Likud-Mitglieder wetteifern in ihren Bemühungen darum, in der einen oder anderen Weise den Obersten Gerichtshof zu kastrieren. Einige würden das Gericht mit Richtern vom rechten Flügel füllen; andere würden seine Gerichtsbarkeit radikal begrenzen. Dies ist eine Schlacht, die schon seit Jahren geführt wird.

Die Dinge spitzten sich zu, als eine Gruppe von extrem rechten Likud-Mitgliedern damit begann, eine wahre Lawine von Gesetzesentwürfen vom Stapel zu lassen, die eindeutig nicht verfassungsgemäß waren. Eines von ihnen - das gefährlichste - war ein Gesetz, das Leuten verbot, zu einem Boykott des Staates Israel aufzurufen - und das die unheilverkündenden Worte enthielt "und der Gebiete, die von ihm besetzt sind".

Dies enthüllte das wirkliche Ziel der Operation. Einige Jahre zuvor hatte unsere Gush Shalom-Friedensorganisation die Öffentlichkeit dazu aufgerufen, die Waren aus den Siedlungen in den besetzten Gebieten zu boykottieren. Wir veröffentlichten auch auf unserer Website eine Liste von Produkten. Mehrere andere Friedens-Organisationen schlossen sich der Kampagne an.

Gleichzeitig versuchten wir, die Europäische Union zu überzeugen, Ähnliches zu tun. Israels Abkommen mit der EU, die Israels Waren von Steuern befreit, schließt die Siedlungen nicht ein. Aber die EU pflegte die Augen zu schließen. Wir benötigten eine Menge Zeit und Mühe, um sie wieder zu öffnen. In den letzten Jahren hat die EU diese Waren ausgeschlossen. Sie forderten, dass auf allen Waren "Made in Israel", der wirkliche Ursprungsort, klar angegeben wird.

Das von der Knesset verabschiedete Gesetz hat nicht nur strafrechtliche, sondern auch zivilrechtliche Aspekte. Personen, die zu einem Boykott aufrufen, könnten nicht nur ins Gefängnis gebracht werden. Sie könnten auch dazu verurteilt werden, eine Riesensumme Schadenersatz zu zahlen, ohne dass der Kläger beweisen muss, dass ihm durch den Aufruf tatsächlich ein Schaden entstanden ist.

Auch Vereinigungen, die Regierungs-Hilfsgelder oder andere Regierungshilfen nach dem bestehenden Gesetz erhielten, würden von jetzt an davon benachteiligt sein, was ihre Arbeit für Frieden und soziale Gerechtigkeit noch schwieriger machen würde.


INNERHALB VON Minuten nach der Verabschiedung dieses Gesetzes reichten wir unsere Anträge beim Obersten Gerichtshof ein. Sie waren im Voraus von der Anwältin Gabi Lasky, einer talentierten jungen Rechtsanwältin und engagierten Friedensaktivistin, gut vorbereitet worden. Mein Name war der erste auf der Liste der Antragsteller - und so wird der Fall "Avnery versus den Staat Israel" genannt.

Der von Lasky vorbereitete Fall war logisch und vernünftig. Das Recht der Redefreiheit wird in Israel nicht durch ein besonderes Gesetz geregelt, es wird aber von mehreren Grundgesetzen abgeleitet. Ein Boykott ist eine legitime demokratische Aktion. Jeder kann sich entscheiden, ob er etwas kauft oder nicht kauft. Tatsächlich ist Israel voller Boykotts, Geschäfte die z.B. nicht-koschere Lebensmittel verkaufen, werden routinemäßig von den Religiösen boykottiert, und Poster, die zum Boykott eines speziellen Ladens aufrufen, sind in religiösen Stadtteilen weit verbreitet.

Das neue Gesetz verbietet nicht Boykotts im Allgemeinen. Es greift besonders politische Boykotts einer gewissen Art heraus. Doch politische Boykotts sind in jeder Demokratie üblich. Sie sind ein Teil der Ausübung der Redefreiheit.

Der berühmteste moderne Boykott wurde 1933 von der jüdischen Gemeinde in den USA begonnen, nachdem die Nazis in Deutschland an die Macht kamen. Als Antwort darauf riefen die Nazis zu einem Boykott aller jüdischen Unternehmen in Deutschland auf. Ich entsinne mich noch an das Datum: der 1. April, weil mein Vater mir an diesem Tag nicht erlaubte, zur Schule zu gehen. (Ich war 9 Jahre alt und der einzige jüdische Schüler in meiner Schule.)

Später schlossen sich alle progressiven Länder einem Boykott des rassistischen Regimes in Südafrika an. Dieser Boykott spielte eine große (wenn auch nicht entscheidende Rolle) beim Sturz desselben.

Ein Gesetz kann eine Person für gewöhnlich nicht zwingen, eine normale Ware zu kaufen, noch kann es verbieten, sie zu kaufen. Selbst die Gestalter dieses neuen israelischen Gesetzes verstanden dies. Deshalb strafen diese Gesetze niemanden fürs Kaufen oder Nicht-Kaufen. Es bestraft jene, die andere dazu aufrufen, vom Kauf Abstand zu nehmen.

So ist das Gesetz ein Angriff auf die Redefreiheit und auf gewaltfreie demokratische Aktionen. Kurz gesagt, es ist grundsätzlich ein anti-demokratisches Gesetz voller Fehler.


DER GERICHTSHOF, der unseren Fall beurteilte, besteht aus neun Richtern, fast das ganze Oberste Gericht. Solch eine Zusammenstellung ist sehr selten und wird nur dann zusammengerufen, wenn eine schicksalhafte Entscheidung getroffen werden muss.

An der Spitze des Gerichtes stand sein Präsident, Richter Asher Gronis. Das war an sich schon bezeichnend, da Gronis schon das Gericht verlassen hatte und im Januar in den gesetzlichen Ruhestand ging, als er das Alter von 70 Jahren erreichte. Als der Platz leer wurde, war Gronis schon zu alt, um noch Gerichtspräsident zu werden. Nach dem bestehenden israelischen Gesetz, kann ein Richter des Obersten Gerichtes nicht Präsident des Gerichts werden, wenn die Zeit seines Ruhestandes zu nahe ist. Aber der Likud war so darauf versessen, ihn als Präsidenten zu haben, dass ein spezielles Gesetz verabschiedet wurde, das es ihm ermöglichte, Präsident zu werden.

Außerdem werden einem Richter, der mit einem Fall beschäftigt gewesen ist, den er vor seiner Pensionierung nicht abgeschlossen hat, weitere drei Monate zugestanden, um seinen Job zu beenden. Es scheint, dass sogar Gronis, der Protégé von Likud, bei dieser besonderen Entscheidung Bedenken hatte. Er unterzeichnete es buchstäblich im allerletzten Augenblick - um 17 Uhr 30 am letzten Tag, gerade kurz bevor Israel am Holocausttag zu trauern begann.

Seine Unterschrift war entscheidend. Das Gericht war gespalten - 4 zu 4 - zwischen denen, die das Gesetz annullieren und denen, die es aufrecht erhalten wollten. Gronis schloss sich der pro-Gesetz-Gruppe an, und das Gesetz wurde bestätigt. Jetzt ist es ein Landesgesetz.

Ein Paragraph in der ursprünglichen Fassung des Gesetzes wurde einvernehmlich aus dem Text gestrichen. Im ursprünglichen Text hieß es, dass jede Person - d.h. Siedler - die behauptet, durch den Boykott geschädigt worden zu sein, unbegrenzt Schadenersatz von jedem, der zum Boykott aufgerufen hatte, fordern kann, ohne dass er beweisen muss, dass er tatsächlich geschädigt worden ist. Von jetzt an muss ein Kläger beweisen, dass er geschädigt wurde.

Bei der öffentlichen Anhörung in unserem Fall wurden wir von den Richtern gefragt, ob wir damit einverstanden wären, wenn sie die Wörter "und die von Israel besetzten Gebiete" streichen würden. Auf diese Weise wäre der Aufruf zum Boykott der Siedlungen straffrei geblieben. Wir antworteten, dass wir im Prinzip darauf bestehen würden, dass das Gesetz im Ganzen gestrichen würde, dass wir aber das Streichen dieser Wörter begrüßen würden. Im endgültigen Urteil wurde diese Formulierung jedoch nicht gestrichen.

Dies schafft übrigens eine absurde Situation. Wenn ein Professor der Universität in Ariel - tief in den besetzten Gebieten - behauptet, dass ich dazu aufgerufen hätte, ihn zu boykottieren, kann er mich verklagen. Dann wird mein Anwalt versuchen, zu beweisen, dass mein Aufruf ganz unbeachtet blieb und deshalb auch keinen Schaden verursachte, während der Professor beweisen muss, dass meine Stimme so einflussreich war, dass viele Leute zum Boykott gegen ihn veranlasst wurden.


VOR JAHREN, als ich noch Chefherausgeber des Nachrichtenmagazins Haolam Hazeh war, entschied ich mich, Aharon Barak als unseren Mann des Jahres zu wählen.

Als ich ihn interviewte, erzählte er mir, wie sein Leben während des Holocaust gerettet wurde. Er war ein Kind im Kovna-Ghetto, als ein litauischer Bauer sich entschied, ihn herauszuschmuggeln. Dieser einfache Mann riskierte sein Leben und das seiner Familie, als er ihn, um ihm sein Leben zu retten, unter einer Ladung Kartoffeln versteckte.

In Israel brachte er es als Jurist zu einer hohen Stellung und wurde schließlich der Präsident des Obersten Gerichtshofes. Er führte eine Revolution an, genannt "juristische Aktivität", indem er u.a. behauptete, dass das Oberste Gericht berechtigt sei, jedes Gesetz zu streichen, das der (ungeschriebenen) israelischen Verfassung widerspricht.

Es ist unmöglich, die Bedeutung dieser Doktrin zu überschätzen. Barak tat für die israelische Demokratie vielleicht mehr als irgendeine andere Person. Seine unmittelbaren Nachfolger - zwei Frauen - befolgten diese Regel. Deshalb war der Likud so eifrig, Gronis an seine Stelle zu setzen. Gronis' Doktrin könnte "juristische Passivität" genannt werden.

Während meines Interviews mit ihm sagte Barak zu mir: "Sehen Sie, der Oberste Gerichtshof hat keine Legionen, die seine Entscheidungen durchsetzen. Er ist vollkommen abhängig von der Haltung des Volkes. Er kann nicht weiter gehen, als das Volk bereit ist, dies zu akzeptieren!"

Ich erinnere mich ständig an diese Worte. Deshalb war ich über das Urteil des Obersten Gerichts in der Boykottsache nicht sonderlich überrascht.

Das Gericht hatte Angst. So einfach ist das. Und so verständlich.

Der Kampf zwischen dem Obersten Gericht und Likuds extremer Rechten nähert sich einem Scheitelpunkt. Der Likud hat gerade einen entscheidenden Wahlsieg errungen. Seine Führer verbergen ihre Absicht nicht, endlich ihre finsteren Anschläge auf die Unabhängigkeit des Gerichts auszuführen.

Sie wollen es den Politikern ermöglichen, das Ernennungskomitee für die Richter des Obersten Gerichtshofes unter ihre Herrschaft zu bringen, und sie wollen das Recht des Gerichts, von der Knesset erlassene nicht verfassungsgemäße Gesetze zu kippen, aufheben.


MENACHEM BEGIN pflegte den Müller von Potsdam zu zitieren, der mit dem König in einen privaten Streit verwickelt war und der ausrief: "Es gibt noch Richter in Berlin!"

Begin sagte: "Es gibt noch Richter in Jerusalem!"

Fragt sich nur, wie lange noch?



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 18.04.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. April 2015

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