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STANDPUNKT/489: Der Zauberlehrling (Uri Avnery)


Der Zauberlehrling

von Uri Avnery, 22. August 2015


MAN KANN es sich aussuchen: Ist Benjamin Netanjahu unglaublich gewitzt oder unglaublich töricht.

Nehmen wir seine Iranpolitik. Tatsächlich gibt es da wenig auszuwählen. Netanjahu hat keine andere Politik, über die man reden kann.

Ihm zufolge stellt der Iran eine tödliche Gefahr für Israel dar. Falls er, Gott bewahre, eine nukleare Waffe erhält, würde er sie dazu benutzen, Israel zu vernichten. Das muss mit allen Mitteln verhindert werden, am besten durch eine bewaffnete Intervention Amerikas.

Das mag falsch sein (wie ich glaube), aber es macht Sinn.

Was hat Netanjahu also getan?


SEIT JAHREN beunruhigt er die Welt. Jeden Tag hörte man den Schrei: Rettet Israel! Verhindert die Zerstörung des jüdischen Staates! Verhindert einen zweiten Holocaust! Hindert den Iran daran, DIE BOMBE zu bauen!

Die Welt nahm keinerlei Notiz davon. Sie war mit vielen anderen Dingen beschäftigt. Es gibt jederzeit überall haufenweise Krisen: Wirtschaftsdepressionen. Seuchen. Erderwärmung.

Aber Netanjahu gab nicht auf. Er nutzte jede Rednertribüne, von der Knesset bis zum US-Kongress, um seine Botschaft hinauszuschreien. Endlich wurde eine müde Welt darauf aufmerksam. OK, die Juden warnen vor der iranischen Bombe. Also lasst uns etwas tun, um dies zu verhindern. Nicht irgendetwas. Nein. Rufen wir alle Großmächte der Welt zusammen, um den Iran zu zwingen, mit diesem Unsinn aufzuhören.

Und das taten sie. Die USA, Russland, China, England, Frankreich und Deutschland - praktisch, die ganze Welt - befahl dem Iran, mit Verhandlungen zu beginnen.

Es gab nur ein einziges Thema: den Iran daran hindern, DIE Bombe zu bekommen. Nichts anderes spielte eine Rolle. Im Vergleich mit diesem riesigen Thema war alles andere unbedeutend.

Und dann geschah etwas Unerwartetes. Irans politisches System ersetzte seinen großmäuligen Präsidenten durch einen völlig anderen: einen Mann der leisen Töne, einen überaus vernünftigen Politiker. Die Verhandlungen begannen, und der Iran sandte einen mit noch leiserer Stimme, einen besonders vernünftigen Diplomaten, um sie zu leiten. Die Außenminister der Welt waren begeistert.

Nach schwierigen Verhandlungen akzeptierte der Iran. Die Welt bekam mehr oder weniger alles, was sie wollte. Lange Zeit keine Bombe. Sehr wirksame Inspektionen. (Sie wären eigentlich nicht nötig. Neueste Spionagetechniken können schnell jede Bewegung in Richtung Bombe beizeiten aufdecken.)


JEDER WAR glücklich. Jeder, das heißt, jeder außer Netanjahu. Er war wütend.

Welche Art von Abkommen ist das?

Die Iraner werden die Bombe bekommen. Wenn nicht jetzt, dann in 15 Jahren. Oder in 25. Oder in 50.

Die Iraner werden betrügen! Die Perser betrügen immer. Sie können nicht anders. Es liegt ihnen im Blut! (Sie sind nicht wie wir, die wir Dutzende von Atombomben im Geheimen gebaut haben. Aber nach dem Holocaust haben wir das Recht, so etwas zu tun.)

Und überhaupt, selbst wenn die Iraner die Bombe nicht erhalten, so bekommen sie die Legitimierung. Und Geld. Sie werden damit die anti-israelischen Terroristen wie die Hisbollah und die Hamas unterstützen. (Das klingt nicht sehr überzeugend, nachdem Netanjahu verlangt hatte, sich auf die Bombe - und auf nichts anderes - zu konzentrieren.)

Die riesige israelische Propagandamaschinerie wurde in Gang gesetzt. Das schreckliche Abkommen wird von jedem Dach herunter beschimpft. Natürlich wussten wir die ganze Zeit, dass Barack Obama ein Antisemit ist und John Kerry auch. Nun haben wir den Beweis.

Eigentlich ist das Spiel vorüber. Eine von der ganzen Welt unterzeichnete Vereinbarung kann Bibi nicht einfach wegpusten. Sie ist da, selbst wenn der US-Kongress dagegen stimmen und das Veto des Präsidenten außer Kraft setzen wird. Die Welt hat Netanjahus Launen satt. Der Mann bekam, was er wollte, was will er denn jetzt noch?

Ich glaube, dass die Iraner die Bombe gar nicht so sehr wollten. Allem verfügbaren Anschein nach löste die Vereinbarung in den Straßen von Teheran großen Jubel aus. Die vorherrschende Stimmung scheint folgende zu sein: "Dankt Allah, endlich sind wir diesen ganzen Unsinn los!"


ABER DIE nicht vorhandene Bombe hat in Israel riesigen Schaden angerichtet. Viel größeren, als wenn sie in irgendeinem unterirdischen Versteck existieren würde.

Alle Israelis stimmen darin überein, dass das höchste Gut, das Israel hat, seine besondere, beispiellose Beziehung zu den USA ist. Sie ist einzigartig.

Einzigartig und kostenlos. Militärisch ausgedrückt: Israel bekommt die neuesten Waffensysteme praktisch für nichts. Nicht weniger bedeutsam ist, dass Israel keinen Krieg länger als ein paar Tage führen kann, ohne über eine Luftbrücke mit Munition und besonderen Ersatzeilen aus den USA versorgt zu werden.

Aber das ist nur ein kleiner Teil unserer nationalen Sicherheit. Noch wichtiger ist das Wissen, dass man Israel nicht bedrohen kann, ohne sich mit der gesamten Macht der Vereinigten Staaten anzulegen. Dies ist ein wunderbarer Schutzschirm - der Neid der ganzen Welt.

Außerdem weiß jedes Land der Welt, dass, wenn es etwas aus Washington DC will - und besonders vom US-Kongress - es am besten über Jerusalem geht und einen Preis zahlt. Was ist das wert?

Und dann ist da noch das Veto. Nicht das kleine Veto, das Obama benutzen wird, um ein Votum des Kongresses gegen die Vereinbarung mit dem Iran aufzuheben, sondern das große Veto, das Veto, das jede einzelne Resolution des UN-Sicherheitsrates blockiert, selbst die Resolutionen, in denen Israel für zum Himmel schreiende Aktionen getadelt wird: eine 49 Jahre währende Besetzung. Hunderttausende, die als Siedler gegen internationales Recht verstoßen. Fast tägliches Töten.

Israel verurteilen? Vergiss es! Sanktionen gegen Israel? Dass wir nicht lachen. So lange, wie die allmächtigen USA Israel schützen, kann es tun, was es will.

All dies wird jetzt in Frage gestellt. Vielleicht hat sich der Schaden schon eingestellt, wie verborgene Risse in den Grundmauern eines Gebäudes. Der Schadensgrad kann erst im Laufe der kommenden Jahre sichtbar werden.

Ein anderer Riss ist die Kluft zwischen Israel und einem großen Teil der Juden in aller Welt, besonders in den USA. Israel behauptet, der "Nationalstaat des jüdischen Volkes" zu sein. Alle Juden in aller Welt schulden ihm bedingungslosen Gehorsam. Ein mächtiger Apparat der "Jüdischen Organisationen" kontrolliert die Untertanen. Weh dem Juden, der es wagt, dagegen zu sein.

Nun nicht mehr. Eine Kluft innerhalb des Weltjudentums hat sich aufgetan, die wahrscheinlich nicht überbrückt werden kann. Wenn die amerikanischen Juden zwischen ihrem Präsidenten und Israel wählen müssten, zögen viele von ihnen ihren Präsidenten vor oder würden gar nicht erst mitmachen.


Wer ist der Antisemit, der es fertigbrachte, all dies Üble zu verursachen? Kein anderer als der Ministerpräsident von Israel selbst.



BEUNRUHIGT das die Welt? Eigentlich nicht.

Wir Israeli glauben, dass wir der Mittelpunkt der Welt seien. Aber es ist nicht so.

Während Israel von der iranischen Bombe besessen war, hat sich in der Region ein großer Wandel vollzogen. Die fast vergessene 13 Jahrhunderte alte Kluft zwischen den sunnitischen und den schiitischen Muslimen ist plötzlich wieder überall aufgebrochen. Diese Kluft, fast so alt wie der Islam selbst, war durch die künstliche Ordnung, die das berüchtigte kolonialistische Sykes-Picot-Abkommen während des Ersten Weltkrieges errichtet hatte, zugeschüttet worden.

Was jetzt geschieht, ist ein politisches Erdbeben. Die Landschaft verändert sich dramatisch. Berge verschwinden, neue bilden sich. Die schiitische Achse von Iran über den Irak und Syrien bis zur Hisbollah im Libanon übernimmt den sunnitischen Block von Saudi-Arabien und den Golfstaaten. In Libyen und dem Jemen herrscht Chaos. Ägypten sehnt sich zurück zu seiner glorreichen pharaonischen Vergangenheit und in der Mitte von allem erhebt eine neue Macht ihren Kopf - das islamische Kalifat von Daesh (IS), das junge Muslime aus aller Welt anzieht.

Inmitten dieses wütenden Sturms befindet sich Netanjahu, ein Mann der Vergangenheit, eine Person, deren Sichtweise sich vor Jahrzehnten in einer anderen Welt bildete. Statt sich dieser neuen Welt mit ihren neuen Gefahren und großen Möglichkeiten zuzuwenden, tappt er mit einer nicht existierenden Bombe herum.

Die USA und andere westliche Mächte ändern vorsichtig ihre Einstellung. Sie fürchten sich vor Daesh, wie es angebracht ist. Sie erkennen, dass ihre Interessen sich eher denen des Iran nähern und sich von denen Saudi Arabiens entfernen. Das neue Nuklear-Abkommen passt zu diesem Bild. Netanjahu, der permanente Unruhestifter passt nicht in dieses Bild.


WIRD DIES in Israel diskutiert? Natürlich nicht. Es geht immer um die Bombe, die Bombe, die Bombe. Die kleinen Streitigkeiten zwischen den Muslimen werden mehr oder weniger ignoriert.

Sunniten, Schiiten - sie sind alle gleich. Antisemiten. Holocaust-Leugner. Israel-Hasser.

Doch gibt es gute Möglichkeiten. Saudi Arabien und seine Verbündeten vom Golf, deuten wie auch Ägypten an, dass sie mit Israel zusammenarbeiten könnten - natürlich vollkommen im Geheimen. Keiner kann Israel öffentlich die Hand reichen, solange die arabischen Massen im Fernsehen täglich die Untaten der Siedler, die Tötungen der Besatzungsarmee, die Demütigung der palästinensischen Brüder miterleben. Wie ein schweres Gewicht, das am Fuß eines Schwimmers hängt, so hindert die Besatzung uns daran, auf einen Wandel in der Region zu reagieren.

In letzter Zeit gab es zunehmend lauter werdende Gerüchte über geheime Verhandlungen zwischen Netanjahu und der Hamas wegen eines acht bis zehn Jahre langen Waffenstillstands, der zu einem inoffiziellen Friedensabkommens führen könnte. Er würde einen winzigen palästinensischen Ministaat schaffen und Mahmoud Abbas und den größten Teil der Palästinenser, die sich für den arabischen Friedensplan engagieren, noch mehr isolieren.

Und wozu das alles? Um die Siedlungen zu vergrößern und womöglich einen weiteren Teil der Westbank (Zone C) zu annektieren.

Ist der Mann also gewitzt oder töricht? Ein Zauberer oder nur ein Zauberlehrling?



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 22.08.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. August 2015

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