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STANDPUNKT/507: Quo vadis Israel? - Quo vadis Palästina? (Standpunkte - Rosa-Luxemburg-Stiftung)


Rosa-Luxemburg-Stiftung
Standpunkt 20 / 2015

Quo vadis Israel? Quo vadis Palästina?

Zur aktuellen Krise in Israel und Palästina und möglichen Lösungsansätzen

von Tsafrir Cohen und Katja Hermann, November 2015


Seit Wochen eskaliert die Gewalt in den Palästinensischen Gebieten und in Israel. Seit Anfang Oktober sind mindestens 64 PalästinenserInnen und neun Israelis getötet worden, viele Hundert wurden verletzt und verhaftet. Menschen auf beiden Seiten der Mauern und Zäune leben in Angst und fragen sich, ob eine dritte Intifada bevorsteht. Deeskalation ist das Gebot der Stunde, doch die Wiederherstellung des Status quo wird kaum aus der Krise führen. Denn solange keine gerechte Lösung für den palästinensisch-israelischen Konflikt gefunden wird, die ein Ende der Besatzung, Freiheit und Selbstbestimmung der PalästinenserInnen zur Grundlage hat und die Sicherheit aller Menschen in Israel und Palästina gewährleistet, sind Gewalt und die Erosion demokratischer Grundwerte auf beiden Seiten vorprogrammiert. Katja Hermann, Leiterin des Regionalbüros Palästina der Rosa-Luxemburg-Stiftung, und Tsafrir Cohen, Leiter des Israel-Büros der Stiftung, zeichnen die innerisraelischen und - palästinensischen Diskurse nach und fragen nach Lösungsansätzen.

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Quo vadis Palästina?

Von Katja Hermann


Wenn von der dramatischen eskalierenden Gewalt im palästinensisch-israelischen Konflikt die Rede ist, dann fehlen in der Darstellung oft Hinweise auf die Hintergründe. Die tagtägliche Gewalt, der die palästinensische Bevölkerung ausgesetzt ist, bleibt meist unbeachtet, ebenso die jahrzehntelange Besatzung, deren Strukturen und Auswirkungen bekannt sind: Entrechtung und Enteignung, gewalttätige Übergriffe, Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren sowie weitreichende Einschränkungen der Bewegungsfreiheit im Westjordanland bis hin zum kompletten Einschluss im Gazastreifen, um nur einige Aspekte zu nennen.

Ein halbes Jahrhundert unter Besatzung

Insbesondere die Siedlerbewegung hat sich in den letzten Jahren stark radikalisiert und führt immer brutalere Angriffe auf PalästinenserInnen durch. Die BewohnerInnen Jerusalems sowie der ländlichen Gebiete sind diesen Attacken schutzlos ausgeliefert. Die Siedlerbewegung kann seit Jahrzehnten nicht nur auf die Unterstützung aller israelischen Regierungen bauen, sie weiß sich auch durch den gesellschaftlichen Mainstream legitimiert. Seit dem Sommer häufen sich die Aktivitäten radikaler SiedlerInnen im Umfeld des Haram Al-Scharif (Tempelberg) in Jerusalem, was die ohnehin angespannte Lage in diesem Teil der Stadt weiter angeheizt hat. Wegen der großen religiösen Bedeutung, die der Ort für viele PalästinenserInnen hat, spielt die Auseinandersetzung um Jerusalem in der derzeitigen Eskalation eine wichtige mobilisierende Rolle. Doch ist der Konflikt im Kern kein religiöser Konflikt. In seinem Zentrum steht die seit einem halben Jahrhundert andauernde Besatzung von Westjordanland, Gazastreifen und Ost-Jerusalem. Obwohl die Besatzungssituation auf israelischer Seite in «ruhigen» Zeiten verdrängt wird, und obwohl die internationale Gemeinschaft die politische Bearbeitung des israelisch-palästinensischen Konfliktes scheinbar aufgegeben und Palästina im Wesentlichen zu einer entwicklungspolitischen Herausforderung degradiert hat - das Leiden unter der Besatzung und die Suche nach einem Weg, diese zu beenden, bleibt das zentrale Momentum in der palästinensischen Gesellschaft. Die derzeit täglichen Proteste palästinensischer Jugendlicher und junger Erwachsener sind der Aufschrei einer Generation, die tief frustriert und ohne Hoffnung ist. Das Gleiche gilt für die zumeist jugendlichen PalästinenserInnen, die im Alleingang und mit Messern bewaffnet Israelis angreifen. Angesichts der Übermacht Israels, gescheiterter Verhandlungen, einer schwachen palästinensischen Führung sowie des Fehlens jeder realistischen Aussicht auf Veränderung sehen sie keine andere Option als den Kampf auf der Straße und an den Checkpoints.

Die Suche nach Strategien

Die PalästinenserInnen haben in den Jahrzehnten seit Beginn der Besatzung 1967 viele unterschiedliche Widerstandsstrategien eingesetzt. Nach Jahren des zunächst militanten Kampfes und später des gewaltfreien Widerstandes haben sie mehr als 20 Jahre lang an politischen Verhandlungen, allen voran am Oslo-Prozess, teilgenommen. Ihr Ziel war die Gründung eines eigenen, unabhängigen Staates neben Israel. Keine der Strategien hat es vermocht, dieses Ziel zu erreichen. Ganz im Gegenteil: Ungeachtet sämtlicher Vereinbarungen hat Israel den Oslo-Prozess genutzt, um Abkommen und Zeitpläne zu ignorieren und zu blockieren. Während dieser Zeit hat es systematisch weiter Land enteignet und den Bau von Siedlungen, Straßennetzen und Sperranlagen auf palästinensischem Gebiet fortgesetzt. Israel hat damit Fakten geschaffen, die mittlerweile der Entwicklung eines palästinensischen Staates - und damit der Zwei-Staaten-Lösung - buchstäblich im Wege stehen. Angesichts blockierter politischer Verhandlungen haben Teile der palästinensischen Zivilgesellschaft ihren Schwerpunkt auf den gewaltfreien Widerstand verlagert. Lokale Komitees organisieren vor allem in den Dörfern regelmäßig Veranstaltungen und Demonstrationen. Zudem gewann die international vernetzte Boykottbewegung, die sich an dem Vorbild des südafrikanischen Widerstands orientiert, an Unterstützung. Dort hatte seinerzeit der African National Congress (ANC) zum Boykott politischer, ökonomischer, kultureller und akademischer südafrikanischer Einrichtungen aufgerufen, um ein Ende der Apartheid zu erwirken. Auf der offiziellen Ebene versucht die palästinensische Führung in den letzten Jahren mit der «Internationalisierung des Konflikts», ihren Druck auf Israel zu erhöhen. Die Aufwertung Palästinas zum UN-Beobachterstaat (2012), die formelle Anerkennung des Staates Palästina durch zahlreiche Staaten sowie der Beitritt zum Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (2015) sind Beispiele für politische Erfolge - Auswirkungen auf das Leben der Menschen in Palästina haben sie nicht.

Die Autonomiebehörde - ein Teil des Problems

So wichtig die Bemühungen um eine Internationalisierung des Konfliktes sind, sie sind der einzige Ansatz, den die palästinensische Führung in Ramallah verfolgt, um Bewegung in die Lage zu bringen. Selbst ein Ergebnis des Oslo-Prozesses, ist die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) in hohem Maße von Israel sowie von internationalen Gebern abhängig; ihre Autorität und auch ihr Handlungsspielraum sind minimal. Über diverse Abkommen ist sie eng mit Israel verwoben. Insbesondere in den Bereichen Wirtschaft und Sicherheit hat sich die PA über die Jahre zu einer technokratischen Behörde mit komplexem Eigenleben und Eigeninteressen entwickelt. Vor dem Hintergrund der fehlenden demokratischen Verfasstheit der PA - seit Jahren regiert der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas praktisch im Alleingang, ohne demokratisches Mandat, ohne Parlament und ohne Wahlen - ist in ihrem Umfeld ein System von Klientelismus und Korruption entstanden, das bestimmten Gruppen Zugang zu Privilegien verschafft, den allermeisten Menschen aber keine Perspektive bietet. Die früher so starke und kritische palästinensische Zivilgesellschaft ist größtenteils in geberfinanzierten NGOs kooptiert. Die verbleibenden unabhängigen Stimmen müssen mit harten Restriktionen rechnen, sowohl von israelischer als auch palästinensischer Seite. Während die palästinensische Straße und viele KritikerInnen schon lange fordern, die Oslo-Abkommen für null und nichtig zu erklären und vor allem die Sicherheitskoordination mit Israel zu beenden, hat sich Abbas jahrelang auf die Rolle des verlässlichen Partners konzentriert und an Verhandlungen mit Israel festgehalten, als die Mehrheit der PalästinenserInnen und der internationalen BeobachterInnen diese längst für gescheitert erklärt hat. Wenn Abbas in seiner Rede vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Ende September nun erstmalig erklärte, sich nicht länger an die Osloer Verträge gebunden zu fühlen, ist das ein deutliches Signal, dass seine und die Geduld der PalästinenserInnen zu Ende gehen.

Der Aufstand der Jugend

Trotz teils vehementer Kritik an der Autonomiebehörde und am Präsidenten scheut die Mehrheit der PalästinenserInnen eine offene Konfrontation. Sie weiß um die Abhängigkeit ihrer politischen Führung und unterscheidet klar zwischen dem Kern des Problems, der israelischen Besatzung, und den Folgeerscheinungen. In der Konsequenz bedeutet das aber, dass seit Jahren keine politische Partei, Bewegung oder Organisation für einen wirklichen Wandel zur Verfügung steht, die linken Kräfte eingeschlossen. Die Eliten des Landes haben sich in der Situation eingerichtet, für sie steht viel auf dem Spiel, und gerade die ältere Generation, die zwei Aufstände miterlebt habt, weiß um den Preis des aktiven Widerstands. Ganz anders verhält es sich mit der palästinensischen Jugend. Sie leidet am meisten unter den leeren Versprechungen von Oslo. Sie kann sich weder innerhalb der Palästinensischen Gebiete frei bewegen, noch kann sie nach Israel oder ins Ausland reisen. Ihre Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten sind begrenzt, die Jugendarbeitslosigkeit beträgt in der Altersklasse der 20-24-Jährigen 42 Prozent. Es sind die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die die Perspektivlosigkeit und Frustration der ganzen Gesellschaft nun auf die Straße tragen. Ihre Aktionen sind weder zentral organisiert noch gesteuert, und die Jugendlichen sind sehr darauf bedacht, sich nicht vom politischen Establishment vereinnahmen zu lassen. Dieser «Aufstand der Jugend» trifft gesellschaftsübergreifend und quer durch alle palästinensischen politischen Strömungen auf großes Verständnis und Unterstützung. Doch so nachvollziehbar der Aufstand der Jugend im Kontext von Besatzung und Stagnation ist, er ist keine politische Strategie und kann auch kein Ersatz für eine politische Lösung sein.

Signale in unterschiedliche Richtungen

Die gegenwärtige Eskalation zeigt, wie zugespitzt die Situation der Besatzung ist. Das sollte ein Signal für Israel sein, dass die PalästinenserInnen nicht länger bereit sind, diese hinzunehmen. Sie ist ein ebenso deutliches Signal an die internationale Gemeinschaft, sich umgehend für eine gerechte und nachhaltige Lösung einzusetzen, die ein Ende der Besatzung sowie Freiheit und Selbstbestimmung der PalästinenserInnen zur Grundlage hat. Die Eskalation auf den Straßen und an den Checkpoints ist aber auch als Appell an die palästinensische Führung sowie an die gesamte palästinensische politische Szene zu verstehen, dass die Zeit der Stagnation und des Abwartens vorbei sein muss. Aufgaben gibt es viele: die Überwindung der langjährigen und unproduktiven Spaltung zwischen Fatah und Hamas, die von vielen Seiten geforderte demokratische Reform von Autonomiebehörde und PLO, die Auseinandersetzung mit innergesellschaftlichen Herausforderungen wie der wachsenden sozioökonomischen Fragmentierung und Entsolidarisierung. Damit wäre die Grundlage geschaffen, um sich mit Fragen von Strategiebildung, Formen des Widerstandes und Prozessen des Wandels zu beschäftigen. Eine schwierige Herausforderung, aber notwendig, um den Kampf für Befreiung und Selbstbestimmung nicht der Jugend zu überlassen.

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Quo vadis Israel?

Von Tsafrir Cohen


Die Angst geht um in Israel. Diesmal ist es nicht die Angst vor Raketen aus dem Gazastreifen, sondern eine Angst, die an die Zweite Intifada 2000-2005 erinnert. Zwar sind es diesmal nicht in erster Linie Bomben, sondern Messerangriffe, doch genauso wie Bomben entfalten diese ihre Wirkung, denn sie können jeden treffen, auf dem Markt, auf dem Weg zur Schule oder von der Arbeit. Die Angst lässt die Menschen zweimal überlegen, ob sie einkaufen gehen. Restaurants und Geschäfte vermelden bereits sinkende Umsätze. Diese Angst eint heute alle Israelis. Denn zu der Angst der jüdischen Israelis, angegriffen zu werden, gesellt sich die Angst der palästinensisch-arabischen Minderheit und der MigrantInnen vor allem aus den Ländern südlich der Sahara, nicht nur beschimpft, sondern fälschlicherweise für einen Täter gehalten und von aufgebrachten Menschen getötet zu werden. Da die Gefahr überall im öffentlichen Raum lauert, suchen viele die Gemeinschaft in den sozialen Medien. Doch die sozialen Medien erweisen sich auch als ideale Plattformen für die Folgen der Angst. In Zehntausenden Chats leben Menschen ihre Hass- und Rachefantasien aus, fordern Selbstjustiz und Bewaffnung von ZivilistInnen. Den Worten folgen Taten. Arabische Geschäfte werden boykottiert, der Verkauf von Kleinwaffen erreicht Rekordhöhen, arabische ArbeiterInnen und Angestellte werden von ihren Arbeitsplätzen entfernt. Und dann kommt es tatsächlich zu einer Lynch-Tat: Als ein israelischer Beduine in der Negev-Metropole Be'er Scheva einen Soldaten erschießt, verletzen Sicherheitskräfte einen unbeteiligten eritreischen Flüchtling, die herbeigeeilte Menschenmenge schlägt auf den am Boden liegenden Verletzten ein. An einem anderen Ort sucht ein jüdischer Israeli einen Araber, um ihn zu töten, und greift einen orientalisch aussehenden Mann an. Später stellt sich heraus, dass der Verletze jüdischer Israeli ist.

Netanjahus Politik: Eindämmung und Hurra-Patriotismus

Die Grundannahme der Regierungskoalition des Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahus ist, dass der israelisch-palästinensische Konflikt nicht lösbar ist, da eine Einigung für die israelische Regierung inakzeptable Kompromisse notwendig machen würde: ein Ende der Kontrolle über die PalästinenserInnen und den Rückbau der jüdischen Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten. Deshalb möchte sie an ihrer bisherigen Politik festhalten, sprich der Ausweitung der Siedlungen und der vertieften Kontrolle über die PalästinenserInnen. Jede Verschärfung des Konflikts würde jedoch unberechenbare Folgen haben und den internationalen Druck auf Israel erhöhen, Kompromisse einzugehen. Deshalb ist die Netanjahu-Regierung bemüht, die Krise nicht durch übermäßig gewaltsame Reaktionen der israelischen Sicherheitskräfte zu verschärfen. Gleichzeitig möchte sie verhindern, dass eine alternative Politik, die einen Kompromiss mit den PalästinenserInnen für möglich hält, an Unterstützung gewinnt. Deshalb verfolgt Netanjahu neben der Eindämmungspolitik gegenüber den PalästinenserInnen eine nach innen und ans Ausland gerichtete Politik der Angst. Sie dient dazu, einen solchen Kompromiss als Chimäre darzustellen. Zu diesem Zweck spricht Israels Regierung der palästinensischen Seite jegliches nachvollziehbare Handeln ab. Die PalästinenserInnen würden aus purem Hass und völlig irrational agieren. Dieses Denken gipfelte in Premier Netanjahus abstruser These, die PalästinenserInnen seien die treibende Kraft bei der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden gewesen. Nach dieser Logik hat die israelische Politik keine Möglichkeit, die Situation grundlegend zu verändern, denn auch ein Rückzug aus den besetzten Gebieten würde den irrationalen Hass gegen Israel nicht beenden. Parallel dazu schürt die Koalition den jüdischen Nationalismus und den Hurra-Patriotismus als bewährte Mittel gegen die Vision einer friedlichen Koexistenz: So ruft etwa Jerusalems Bürgermeister die Zivilbevölkerung dazu auf, Waffen zu tragen. Andere regierungsnahe Kreise geben die Devise aus, bei Verdacht sofort zu schießen und erst nachher die tatsächlichen Sachverhalte zu eruieren.

Die Opposition

Den scheinbaren Widerspruch zwischen Eindämmungspolitik und Hurra-Patriotismus greifen die lautesten KritikerInnen der Regierung, die aus ultrarechten Kreisen in und außerhalb der Koalition kommen, auf. Sie verlangen als logische Konsequenz aus dem innenpolitischen Diskurs konsequentere Schritte gegen die PalästinenserInnen. Dies beginnt mit der Forderung nach dem Abriss aller ohne Genehmigung gebauten Gebäude in Ostjerusalem - wovon etwa vierzig Prozent der palästinensischen Bevölkerung der Stadt betroffen wären, da die Stadtverwaltung PalästinenserInnen kaum Baugenehmigungen erteilt - und endet mit der offenen Androhung einer zweiten Nakba (die Flucht und Vertreibung von etwa 700.000 AraberInnen aus dem heutigen Israel 19471949), also der Massenvertreibung der palästinensischen Bevölkerung. Die Hauptopposition um das Zionistische Lager, der Allianz aus Arbeitspartei und der Mitte-Links-Partei Ha-Tnu'a, war hingegen schon in friedlicheren Tagen nicht in der Lage, eine Alternative zur Koalition der Rechten und Rechtsaußen darzustellen. Einen kohärenten Vorschlag zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts macht sie nicht. Stattdessen wirft sie der Regierung mangelnde sicherheitspolitische Durchsetzungsfähigkeit vor.

Die Besatzung - kein Thema in Israel

Auch in den israelischen Massenmedien spiegelt sich das Fehlen einer politischen Alternative wider. In endlosen Nachrichtensendungen und Talkrunden diskutieren die Beteiligtendie Einzelheiten der Angriffe, erörtern ExpertInnen und PolitikerInnen - oft mit militärischem Fachwissen angereichert - Schritte zur Überwindung der Lage. Dabei verschwindet der Unterschied zwischen Berichterstattung und Kommentar völlig. In diesen patriotischen Zeiten wird Dissens komplett vermieden. VertreterInnen der vor allem vom jüdischen Bildungsbürgertum gewählten Partei Meretz, die die fortwährende Besatzung als den Grund für den jetzigen Gewaltausbruch benennen, sowie die wenigen VertreterInnen des linken Flügels der Arbeitspartei werden von den Massenmedien boykottiert. Damit entsteht in der israelischen Öffentlichkeit keine Diskussion über die tatsächlichen Verantwortlichkeiten für die jetzige Lage. Die Besatzung kommt in keiner der Analysen vor, die der Öffentlichkeit präsentiert werden. Auch die schleichende Verdrängung der PalästinenserInnen aus Ost-Jerusalem ist kein Thema, obwohl sie der unmittelbare Beweggrund für die aktuellen Angriffe ist. Die Eskalation wirkt so auf die israelischen BürgerInnen fast zwangsläufig als Ausbruch irrationalen Hasses der PalästinenserInnen, die lediglich mit Gegenmaßnahmen sicherheitstechnischer Art beantwortet werden kann. Eine dissonante Stimme gibt es jedoch im israelischen Diskurs, und zwar die der palästinensisch-arabischen Minderheit in Israel, die etwa zwanzig Prozent der israelischen Bevölkerung ausmacht. Ihre Mitglieder sind gleichberechtigte StaatsbürgerInnen Israels, werden aber zugleich stark benachteiligt. Diese Minderheit wird vor allem von der Gemeinsamen Liste vertreten, ein Zusammenschluss der linken, sozialistischen Chadasch mit Balad, einer palästinensischen nationalen Partei, sowie einem Parteienbündnisses. Die Gemeinsame Liste erhielt bei den Wahlen 13 der 120 Mandate in der Knesset und wurde damit drittstärkste Partei Israels. Vor allem ihr Vorsitzender Ayman Odeh von Chadasch vermag es, seine Empathie für alle Opfer zum Ausdruck zu bringen. Gleichzeitig stellt er fest, dass es unmöglich sei, ein Volk unter Besatzung zu halten, und dass der Weg zu mehr Sicherheit für alle nur über die Lösung des Konflikts führt. Dennoch, so linke BeobachterInnen wie der Historiker Gadi Algazi, kommt seine Botschaft nicht an. Im Kontext des gegenwärtigen israelischen Diskurses nimmt die jüdische Mehrheitsgesellschaft ihn nicht als einen linken Politiker mit einer alternativen Vision wahr, sondern als palästinensische Stimme, der jede Glaubwürdigkeit abgesprochen wird. Die Gemeinsame Liste wollte jedoch nicht allein Israels arabisch-palästinensische Minderheit vertreten, sondern - auch wenn sie nur von wenigen Tausend jüdischen Israelis, die an Chadasch angebunden sind, gewählt wurde, darunter radikale, anti- und postzionistische Linke - ausdrücklich ein politisches Angebot für die gesamte israelische Gesellschaft, für ein Ende der Besatzung und für mehr soziale Gerechtigkeit anbieten. Auch diese Botschaft kommt heute kaum an. Offizieller Ausdruck dafür, dass Israels palästinensisch-arabische Minderheit nicht zum Staatsvolk gehört, war Premier Netanjahus Entschluss, den Vorsitzenden der drittgrößten Partei in der Knesset nicht zu Beratungen mit den Oppositionsparteien einzuladen. Damit droht die fragile, kostbare arabisch-jüdische Koexistenz innerhalb Israels, langfristig der Eskalation zum Opfer zu fallen. Dies ist umso schmerzhafter, als die arabisch-palästinensische Minderheit gerade in den letzten Jahren eine sich vertiefende Integration in allen Bereichen der Gesellschaft erlebt, gepaart mit einem wachsenden Selbstbewusstsein als indigene Minderheit. Damit wuchs auch ihr Potenzial, eine Brückenfunktion zwischen den PalästinenserInnen unter Besatzung in der Westbank und dem Gazastreifen und den jüdischen Israelis wahrzunehmen. Doch je stärker sich die arabisch-palästinensische Minderheit emanzipierte, desto vehementer wurde sie von reaktionären Kräften als «Fremdkörper» angefeindet. Als Reaktion hierauf und auf die fortwährende Benachteiligung sowie mitunter auch als Folge ihres gestärkten Bewusstseins als PalästinenserInnen greifen nun zum ersten Mal gewaltbereite, junge israelische PalästinenserInnen jüdische MitbürgerInnen, zumeist mit Messern bewaffnet, an. Umso kostbarer sind die wenigen Momente, in denen jüdisch-palästinensische Solidarität zum Vorschein kommt, etwa bei einer Demonstration in Jerusalem für eine andere Zukunftsvision Mitte Oktober. Dort standen zweitausend Menschen, vereint unter den Slogans «Ohne Hass und Angst - gemeinsam demonstrieren!» und «Araber und Juden weigern sich, Feinde zu sein!», und lauschten den Worten eines palästinensischen Rappers, eines ultraorthodoxen Juden und von Eltern einer jüdisch-arabischen Grundschule, die alle auf ihre Weise für die Möglichkeit der Koexistenz plädierten. Dennoch: Die Ereignisse der letzten Wochen und Monate sind untrügliche Zeichen für eine besorgniserregende Erosion der demokratischen und zivilen Strukturen der israelischen Gesellschaft.

Linke Strategien?

Die Mehrheit der ehemals Friedenswilligen glaubt heute ihren politischen FührerInnen, dass die PalästinenserInnen keinen Frieden wollen. Sie sind einer politischen Elite gefolgt, die in Friedensverhandlungen eingetreten war, vorgeblich bereit, «schmerzhafte» Kompromisse einzugehen, und Schritte wie den Rückzug aus dem Gazastreifen «gewagt» hatte. Ihre mangelnde Bereitschaft, tatsächlich eine tragfähige Zweistaatenlösung zu ermöglichen und damit die Kontrolle über die PalästinenserInnen aufzugeben, und ihre Angst, die Wut der stärksten Lobby Israels, der Siedlerbewegung, auf sich zu ziehen, kaschierten die politischen FührerInnen von Likud, Kadima oder Arbeitspartei stets mit Schuldzuweisungen an die palästinensische Seite. Israel bleibe folglich als einzige vernünftige Option die Einhegung des Konflikts in seinem jetzigen Zustand mit möglichst wenigen Opfern auf der eigenen Seite. Damit beherrscht die Politik der Angst die israelische Öffentlichkeit uneingeschränkt. Ein Teufelskreis, da die PalästinenserInnen eine fortwährende Besatzung - zumal diese mit einer schleichenden Verdrängung der PalästinenserInnen in dichtgedrängte Enklaven einhergeht - kaum akzeptieren können. Die israelische Linke hat momentan schlicht keine Strategie, um dieser hegemonialen Logik zu begegnen, eine glaubwürdige Alternative zu präsentieren und so die Dominanz der Politik der Angst im innerisraelischen Diskurs zu brechen.


Katja Hermann leitet das Regionalbüro Palästina der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah. Tsafrir Cohen ist Leiter des Israel-Büros der Stiftung in Tel Aviv.


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Standpunkte wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und erscheint unregelmäßig.

V. i. S. d. P.: Martin Beck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. November 2015

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