Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → MEINUNGEN


STANDPUNKT/525: Nahost - Geopolitik, Westen sollte nicht nur Islamischen Staat im Blick haben (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 16. Dezember 2015

Nahost: Geopolitik - Westen sollte nicht nur Islamischen Staat im Blick haben

von Baher Kamal *


Bild: © privat

Baher Kamal
Bild: © privat

MADRID (IPS) - Als die damalige nationale US-Sicherheitsberaterin und spätere Außenministerin Condoleezza Rice im Juni 2006 die neue politische Doktrin der Regierung von Präsident George W. Bush für den Nahen Osten erläuterte, vergossen Analysten viel Tinte, um das von ihr verwendete Schlagwort 'Kreatives Chaos' zu deuten.

Die meisten Nahost-Experten kamen zu dem Ergebnis, dass die neue Doktrin eine weitere Welle von Konflikten und Gewalt in der Region auslösen würde. Unabhängig davon, ob sie nun mit dieser Schlussfolgerung Recht hatten, ist die Entwicklung zumindest in diese Richtung verlaufen. Man muss nicht extra daran erinnern, was derzeit im Irak, in Syrien, im Jemen, in Libyen und selbst in Tunesien und Ägypten, den Ländern des so genannten 'Arabischen Frühlings', vor sich geht.

Erst kürzlich hat in den USA ein weiterer neoliberaler, neokonservativer republikanischer 'Falke', John R. Bolton, eine neue Vision vorgestellt, die vielleicht eine logische Erklärung für die Doktrin des 'Kreativen Chaos' liefern könnte.


Bolton plädiert für einen 'Sunnitischen Staat'

In dem am 25. November in der 'New York Times' erschienenen Artikel mit dem vielsagenden Titel 'To Defeat ISIS, Create a Sunni State' stellt der am 'American Enterprise Institute' tätige Wissenschaftler und ehemalige UN-Botschafter die Frage: "Was kommt nach dem Islamischen Staat?" Bolton fährt fort: "Bevor wir Mr. Obamas wirkungslose Bemühungen in eine energische Militärkampagne gegen den Islamische Staat verwandeln, müssen wir uns gemeinsam mit den NATO-Verbündeten und anderen darüber im Klaren sein, was an die Stelle des IS treten wird. Es ist von größter Wichtigkeit, diese Frage zu klären, bevor Militärpläne in Betracht gezogen werden (...)."

Bolton, der im Falle des Wahlsiegs eines Republikaners wie Donald Trump eine Schlüsselstellung in einer zukünftigen US-Regierung einnehmen könnte, betont, es sei inzwischen klar, dass es den Irak und Syrien, so wie man sie früher kannte, nicht mehr gebe. Den Islamischen Staat zu schlagen, würde bedeuten, in Syrien den Präsidenten Baschar al-Assad und im Irak die Marionetten des Irans wieder an die Macht zu bringen, warnt er. "Ein solches Ergebnis ist weder erreichbar noch wünschenswert (...) Statt danach zu streben, die Landkarte aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wiederherzustellen, sollte Washington die neue geopolitische Lage erkennen."

"Die beste Alternative zum Islamischen Staat im Nordosten Syriens und im Westen des Iraks ist ein neuer unabhängiger Sunniten-Staat", schreibt Bolton. "Dieses 'Sunni-stan' hat ein wirtschaftliches Potenzial als Erdölproduzent (worüber natürlich mit den Kurden verhandelt werden muss) und könnte als Bollwerk sowohl gegen Assad als auch gegen eine mit dem Iran verbündete Regierung in Bagdad dienen. Die Herrscher in den arabischen Golfstaaten, die längst wissen sollten, mit welchen Risiken ihre Finanzierung des islamischen Extremismus verbunden ist, könnten einen signifikanten finanziellen Beitrag leisten. Und in der Türkei, die immer noch mit der NATO verbündet ist, gäbe es mehr Stabilität an den südlichen Grenzen. Dies würde die Existenz eines neuen Staates zumindest erträglich machen."

Bolton ist der Auffassung, dass Monarchien wie Saudi-Arabien einem solchen Staat in der Anfangszeit nicht nur einen Großteil der benötigten Finanzmittel bereitstellen, sondern auch für seine Stabilität und Widerstandskraft gegen radikale Kräfte sorgen sollten.


Der Nahe Osten wächst

Boltons visionärer Plan für einen neuen Nahen Osten könnte also den Hintergrund der Doktrin des 'Kreativen Chaos' erklären und würde die Landkarte des Sykes-Picot-Abkommens auf den neuesten Stand bringen. Eine solche Vision wäre ein weiterer Schritt voran auf den künftigen 'Roadmaps' der USA und des Westens. Tatsächlich gab die zweite Regierung von George W. Bush der Region nach der Verbreitung der Doktrin des 'Kreativen Chaos' den neuen Namen 'Greater Middle East'. In dieses Gebiet wären auch Pakistan, Afghanistan, die Türkei, Zypern, Somalia und möglicherweise auch Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan eingeschlossen.

Das 'Kreative Chaos' ist Realität geworden. Insbesondere in den vergangenen fünf Jahren hat es in der gesamten Region gebrodelt. Gewalt, Tod und Terrorismus haben überall rapide zugenommen, im Irak, in Libyen, Syrien, im Jemen, im Sudan und sogar in Tunesien. Die Spannungen zwischen den Königreichen und Fürstentümern auf der Arabischen Halbinsel und dem Iran haben sich verschärft. All diese Staaten sind Ölproduzenten.

Söldnertruppen unter mehr als einem Dutzend zweifelhafter religiöser Flaggen haben allmählich ihre Herrschaft über die Region ausgedehnt, hin und wieder tragischerweise auch mit Hilfe einiger westlicher Länder. Kurz gesagt, das Szenario könnte nicht 'chaotischer' sein. Auch wenn Boltons Vision nicht als 'biblisch' verstanden werden sollte, könnten sich die Dinge durchaus in diese Richtung entwickeln.


Libyen könnte neue IS-Hochburg werden

Zunächst einmal hat der von Schiiten regierte Iran die sunnitische Türkei davor gewarnt, Truppen in die vom IS kontrollierte Region Mossul im Irak zu entsenden. Washington bereitet unterdessen gemeinsam mit der Achse Paris-London den Weg für weitere Militäraktionen. Das sunnitisch-wahhabitische Saudi-Arabien arbeitet intensiv mit dem sunnitischen Ägypten an einer gemeinsamen militärischen Interventionsstreitmacht, die den Terrorismus bekämpfen soll. Und der schiitische Iran hat klargestellt, dass ein jeglicher Versuch, Assad aus dem Amt zu entfernen, an eine rote Linie stoßen würde.

Eine letzte Frage bleibt: Wohin würde die IS-Miliz gehen, wenn sie militärisch geschlagen wäre? Libyen könnte ihre nächste Hochburg werden. Dem Land fehlt es an Stabilität, zugleich befinden sich dort bis zu 25 Millionen Waffen, über die die Regierung keine Kontrolle hat. Zudem ist der Staat ein großer Erdölproduzent, und der IS unterhält dort bereits einen aktiven Arm. Wenn diese Situation einträte, würde der IS dann seine todbringenden Operationen von Libyen aus in Nachbarländer wie Ägypten, Tunesien und Marokko hinein ausdehnen und außerdem in einigen afrikanischen Staaten gemeinsame Sache mit der nigerianischen Gruppe Boko Haram machen? (Ende/IPS/ck/16.12.2015)

* Baher Kamal, spanischer Journalist ägyptischer Herkunft, ist Experte für Entwicklungsfragen. Für IPS schreibt er hier über die aktuelle Lage im Nahen Osten.


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/12/silence-please-a-new-middle-east-is-in-the-making/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 16. Dezember 2015
IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 / 54 81 45 31, Fax: 030 / 54 82 26 25
E-Mail: contact@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Dezember 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang