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STANDPUNKT/527: Der einsame Anwalt (Uri Avnery)


Der einsame Anwalt

von Uri Avnery, 19. Dezember 2015


JEDER ISRAELI hat inzwischen mehrfach im Fernsehen den Clip gesehen, der zeigt, wie ein vierzehnjähriges arabisches Mädchen in der Nähe des Großmarktes im jüdischen Jerusalem erschossen wird.

Die Geschichte ist wohl bekannt: zwei Schwestern, vierzehn und sechszehn Jahre alt, haben beschlossen, Israelis anzugreifen. Der Clip, von einer Sicherheitskamera aufgenommen, zeigt eines von ihnen, in arabische Tracht gekleidet. Sie springt auf dem Gehweg hin und her und fuchtelt mit einer Schere herum.

Das ganze sieht fast wie ein Tanz aus. Sie springt ziellos umher, schwenkt die Schere, bedroht niemanden direkt. Dann zielt ein Soldat mit dem Revolver auf sie und schießt. Er läuft zu dem Mädchen und tötet es, als es wehrlos am Boden liegt. Das andere Mädchen wird schwer verletzt.

Der Soldat wurde wegen seiner Tapferkeit vom Verteidigungsminister, einem früheren Stabschef bei der Armee, und von seinem Nachfolger gelobt. Im politischen Establishment erhob sich keine einzige Stimme gegen diese Tötung. Selbst die Opposition war still.


IN DIESER WOCHE erhob eine Person ihre Stimme. Avigdor Feldman, ein Anwalt, teilte dem Staatsanwalt mit, dass er den Obersten Gerichtshof anrufen und ihn auffordern werde, strafrechtliche Ermittlungen gegen den Soldaten aufzunehmen. Er will, dass das Gericht die Behörden anweist, alle Fälle zu untersuchen, in denen Soldaten und Zivilpersonen auf "Terroristen" geschossen und sie getötet haben, als diese schon handlungsunfähig waren.

In Israel ist dies ein Akt unglaublichen Mutes. Anwalt Feldman ist kein Spinner. Er ist ein bekannter, besonders auf dem Gebiet der Bürgerrechte berühmter Anwalt.

Ich lernte ihn schon zu Beginn seiner Karriere kennen. Er war noch ein "Praktikant" - ein Anwalt, der seine Studien beendet hat, aber noch kein voll anerkannter Anwalt war. Er arbeitete im Büro eines Freundes. Er vertrat mich bei mehreren kleinen Gerichtsfällen, und schon damals beeindruckte mich sein scharfer Verstand.

Inzwischen ist Feldman zu einem berühmten Bürgerrechts-Anwalt geworden. Ich habe ihn mehrfach bei Verteidigungen vor Gericht gesehen und bemerkte die Reaktionen des Gerichts. Wenn Feldman spricht, beenden die Richter ihr Tagträumen und ihre Kritzeleien und folgen seinen Argumenten mit gespannter Aufmerksamkeit, unterbrechen ihn mit scharfen Fragen und genießen offensichtlich die juristische Rangelei.

Jetzt hat Feldman getan, was kein anderer zu tun wagte: Die Armee bei den Hörnern gepackt und das oberste Kommando herausgefordert.

In Israel kommt das einer Majestätsbeleidigung gleich.


SEIT ANFANG Oktober erfährt Israel eine Gewalt-Welle, die noch keinen offiziellen Namen erhalten hat. Zeitungen nennen sie die "Woge des Terrorismus"; einige reden von der "Intifada der Individuen".

Ihr herausragendes Kennzeichen ist, dass ihr jede Organisation fehlt. Sie wird von keiner Gruppe geplant, keine Befehle kommen von oben, keine Koordination zwischen Zellen ist nötig.

Ein arabischer Teenager nimmt ein Messer aus der Küche seiner Mutter, sucht nach einem Soldaten auf der Straße und sticht ihn nieder. Wenn kein Soldat oder Polizist erreichbar ist, ersticht er einen Siedler. Sieht er auch keinen Siedler, ersticht er irgendeinen Israeli, den er finden kann.

Wenn er ein Auto fährt, schaut er sich nach einer Gruppe Soldaten oder Zivilisten um, die trampen wollen und überfährt sie.

Viele andere werfen auf ein vorüberfahrendes israelisches Auto Steine, in der Hoffnung, dass dies zu einem tödlichen Unfall führt.

Gegen solche Aktionen ist die Armee (in den besetzten Gebieten) und die Polizei im eigentlichen Israel (und im annektierten Ost-Jerusalem) fast hilflos.

In den beiden vorangegangenen Intifadas und in der Zwischenzeit stellten die Sicherheitsorgane unglaublicherweise fast alle Täter. Dies war möglich, weil die Taten von Gruppen und Organisationen begangen wurden. Fast alle diese Täter wurden früher oder später von israelischen Agenten infiltriert. Ist einmal ein Täter erwischt worden, wurde er durch Bestechung, durch "mäßigen körperlichen Druck" (wie unsere Gerichte Folter nennen) und dergleichen dazu gebracht, die anderen zu verraten.

All diese bewährten Maßnahmen sind ganz sinnlos, wenn eine Tat von einer einzelnen Person ausgeführt wird oder von zwei Brüdern, die ganz spontan in einem Augenblick handeln. Keine Spione. Keine Verräter, keine vorherigen Anzeichen. Nichts, an das man sich halten kann.

Die israelischen Sicherheitsdienste haben versucht, ein typisches Profil von solchen Tätern herzustellen. Ohne Ergebnis. Alle oder die meisten von ihnen haben nichts gemein. Da gibt es mehrere vierzehnjährige Teenager, aber auch einen Großvater mit Kindern und Enkeln. Die meisten erscheinen nicht in irgendeinem antiterroristischen Datenspeicher. Einige sind religiöse Radikale, aber viele andere sind überhaupt nicht religiös. Einige sind weiblich, eine war eine Mutter.

Was bringt sie an diesen Punkt? Die offizielle israelische Antwort ist: Verhetzung. Mahmoud Abbas stachelt sie auf, Hamas stiftet sie an. Die arabischen Medien stiften sie an. Fast all diese "Anstiftungen" sind Routine-Reaktionen auf israelische Aktionen. Und überhaupt, ein junger Araber benötigt keine "Anstiftung". Er sieht, was rund um ihn los ist. Er erlebt die erschreckenden nächtlichen Verhaftungen; israelische Soldaten fallen in Städte und Dörfer ein. Er braucht nicht das Lockmittel der Jungfrauen, die auf die Märtyrer im Paradies warten.


DA ES keine unmittelbare Medizin dagegen gibt, fallen Politiker und andere "Experten" auf "Abschreckung" zurück. Vor allem auf Exekutionen.

Diese wurde im April 1974 aufgedeckt, als ein israelischer Bus von vier unerfahrenen arabischen Jugendlichen entführt worden war. Der Bus wurde in der Nähe von Aschkelon aufgehalten und gestürmt. Zwei der vier wurden bei der Schießerei getötet und zwei wurden lebend gefangen genommen. Drei Fotografen fotografierten sie, als sie noch lebten, aber später verkündete die Armee, dass auch sie in dem Kampf getötet worden wären.

Das war eine glatte Lüge, von der militärischen Zensur geschützt. Als Herausgeber des Haolam Hazeh-Magazins drohte ich, zum Obersten Gericht zu gehen. Man erlaubte mir, die Fotos zu veröffentlichen - und ein riesiger Sturm brach los. Der Chef des Sicherheitsdienstes (Shin Bet oder Shabak) und seine Assistenten wurden angeklagt, aber man ließ sie ohne Prozess laufen.

Im Lauf des Skandals kam eine geheime Anordnung ans Licht: der damalige Ministerpräsident Yitzhak Shamir hatte eine mündliche Direktive erteilt: "Kein Terrorist soll am Leben bleiben, nachdem er eine terroristische Tat begangen hat."

Etwas Ähnliches muss jetzt in Kraft sein. Soldaten, Polizisten und bewaffnete Zivilisten glauben, dass dies ein Befehl ist: Terroristen müssen an Ort und Stelle getötet werden.

Offiziell natürlich ist es Soldaten und anderen nur erlaubt, zu töten, wenn ihr eigenes Leben und das Leben anderer in direkter unmittelbarer Gefahr ist. Nach dem internationalen Kriegsrecht als auch nach israelischem Gesetz ist es ein Verbrechen, Feinde zu töten, wenn sie verletzt sind, gefesselt oder auf andere Weise nicht in der Lage sind, das Leben anderer zu gefährden.

Doch fast alle arabischen Täter - einschließlich der Verletzten und Gefangenen - werden auf der Stelle erschossen. Wie wird dies erklärt?

Am häufigsten werden die Fakten einfach geleugnet. Aber mit der Verbreitung der Sicherheitskameras wird dies immer unmöglicher.

Ein oft benutztes Argument ist, dass ein Soldat keine Zeit zum Denken hat. Er muss schnell handeln. Ein Schlachtfeld ist kein Gerichtssaal. Oft handelt ein Soldat instinktiv.

Ja und nein. Sehr oft ist tatsächlich keine Zeit, um nachzudenken. Derjenige, der zuerst schießt, bleibt am Leben. Ein Soldat hat das Recht - tatsächlich die Pflicht - sein Leben zu verteidigen. Wenn es Zweifel gibt, sollte er handeln. Das muss mir keiner sagen. Ich hab es selbst erlebt.

Aber es gibt Situationen, bei denen es keine Zweifel gibt. Wenn ein Gefangener in Handschellen erschossen wird, ist es eindeutig ein Verbrechen. Einen verletzten Feind zu erschießen, der hilflos am Boden liegt, wie das Mädchen mit der Schere, ist abscheulich.

Dies sind glasklare Fälle. Wenn der Polizeiminister (jetzt Minister für Innere Sicherheit genannt) in der Knesset sagt, dass der Mädchenmörder keine Zeit zum Denken hatte, dann lügt er.

Ich wage zu sagen, dass dieser Minister Gilad Ardan, ein aggressiver Mann ist, der seinen ruhmreichen Armeedienst als Offizier am Schreibtisch der Personal-Abteilung absolvierte und weniger Schlachtenerfahrung hat als ich. Was er in der Knesset sagte, ist Unsinn.

Die Soldaten schießen und töten, weil sie denken, dass ihre Vorgesetzten das von ihnen verlangen. Wahrscheinlich hat man ihnen gesagt, sie sollten das tun. Die Logik dahinter ist "Abschreckung" - wenn der Täter weiß, dass er mit Sicherheit getötet wird, überlegt er es sich vielleicht gründlicher, bevor er die Tat begeht.

Es gibt jedoch absolut keinen Beweis dafür. Im Gegenteil, das Wissen, dass sie, die Täter, wahrscheinlich auf der Stelle erschossen werden, treibt sie an. Wenn sie zu einem Schahid, einem Märtyrer, geworden sind, ist ihre Familie und das ganze Wohnviertel stolz auf sie.

Aber, sagen die Befürworter der Abschreckung, wenn wir auch die Häuser der Familien der Täter zerstören, werden sie es sich gründlich überlegen. Ihre Familien werden sie bitten, von ihrem Vorhaben abzusehen. Das klingt doch logisch, oder?

Überhaupt nicht. Auch dafür gibt es keinen Beweis. Ganz im Gegenteil. Zu Eltern eines Schahid zu werden, ist eine große Ehre, die den Verlust des Familienhauses bei weitem aufwiegt. Besonders dann, wenn Saudi-Arabien und andere Golfstaaten Gelder für Entschädigungen zur Verfügung stellen.

Es ist die eindeutige Meinung der Sicherheitsexperten, dass diese Art kollektiver Strafe nicht reicht. Im Gegenteil, es erzeugt mehr Hass, er wird noch mehr Shahids schaffen. In einem Wort: Kollektivstrafen sind kontraproduktiv.

Die Armeespitze und die Kommandeure des Sicherheitsdienstes verhehlen ihre Ablehnung dieser Maßnahmen nicht. Sie werden von Politikern und Kommentatoren, die Popularität suchen, überstimmt.


SOFORTIGE EXEKUTIONEN und kollektive Strafen sind natürlich dem internationalen Kriegsrecht diametral entgegengesetzt. Viele Israelis verachten diese Gesetze und ignorieren sie. Sie sind der Meinung, dass solch naive Gesetze unsere Armee nicht hindern sollten, unser Land und uns zu verteidigen.

Dieses Argument gründet sich auf Unwissenheit.

Die Gesetze der Kriegsführung wurden in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nach dem 30jährigen Krieg, der unsägliches Elend nach Mitteleuropa brachte, eingeführt. Als er endlich zu Ende war, waren zwei Drittel von Deutschland zerstört und ein Drittel der deutschen Bevölkerung ausgelöscht.

Die Urheber der Gesetze, besonders ein Holländer mit Namen Grotius, gingen von der vernünftigen Annahme aus, dass kein Gesetz respektiert würde, das verhindern sollte, dass überhaupt Kriege geführt würden. Eine Nation, die um ihr Leben kämpft, wird kein Gesetz befolgen, das es daran hindern wollte. Aber in Kriegen werden aus Hass oder Sadismus viele Gräueltaten begangen, die überhaupt keinem militärischen Zweck dienen.

Es sind diese Taten - Taten, die keinem militärischen Zweck dienen - die vom internationalen Kriegsrecht unter Strafe gestellt werden. Beide Seiten leiden, wenn sie nicht eingehalten werden. Gefangene töten, Verwundete umkommen lassen, das Eigentum von Zivilpersonen zerstören, kollektive Strafen und Ähnliches nützen keiner Seite. Sie befriedigen nur sadistische Impulse und sinnlosen Hass.

Solche Taten sind nicht nur unmoralisch und hässlich. Sie sind auch kontraproduktiv. Gräueltaten schaffen Hass, der noch mehr Shahids erzeugt. Getötete Gefangene können nicht gefragt werden und liefern keine Information, die wesentlich ist, um neue Strategien und Taktiken zu bilden. Grausamkeit ist nur eine andere Form von Dummheit.

Unsere Armee kennt all dies. Sie ist dagegen. Aber sie wird von Politikern der schlimmsten Art, von denen wir mehr als genug haben, überstimmt.


IM ZUSAMMENHANG mit diesem Thema steht die Verfolgung einer Organisation, die sich "Breaking the Silence" ("Das Schweigen brechen") nennt.

Diese wurde von Soldaten gegründet, die nach ihrer Entlassung damit begannen, ihre Erfahrung in den besetzten Gebieten zu veröffentlichen. Dinge, die sie taten und Dinge, die sie sahen. Das ist eine große Operation geworden. Ihr akribisches Festhalten an der Wahrheit hat den Respekt der Armee gewonnen, und das von ihnen gegebene Zeugnis wird vom Büro des Armee-Anwalts respektiert und oft danach gehandelt.

Das hat nun zu einer wütenden Hetzkampagne von Demagogen der extremen Rechten gegen die Gruppe geführt. Sie werden des Verrats angeklagt und der "Besudelung unserer Jungs" beschuldigt; sie würden den Terroristen helfen und sie aufmuntern und Ähnliches. Viele der Ankläger sind Bürosoldaten und Drückeberger. Viele der Beschuldigten waren Kampfsoldaten.

In der letzten Woche griffen die rechten Demagogen den Präsidenten Israels, Reuben Rivlin, wütend an und bezichtigten ihn des Verrats. Sein Verbrechen: Er nahm an einer politischen Konferenz teil, die in New York von der liberalen israelischen Zeitung Haaretz organisiert wurde, wo auch "Breaking the Silence" eingeladen war.

Rivlin ist eine sehr nette, sehr menschliche Person. Als Präsident besteht er auf voller Gleichberechtigung der arabischen Bürger. Aber er vertritt auch sehr rechte Meinungen und weigert sich, für Frieden auch nur einen Zoll Land von "Erez Israel" abzugeben. Und doch ist ihm keiner der rechten Politiker gegen die wilden Anschuldigungen zur Hilfe gekommen.

"Breaking the Silence" steht nicht allein. Faschistische Gruppen - ich benutze den Ausdruck mit einigem Zögern - bezichtigen viele Friedens- und Menschenrechtsorganisationen des "Verrates" und führen zum Beweis die Tatsache an, dass einige von ihnen Spenden von europäischen Regierungen und Organisationen erhalten.

Die Tatsache, dass rechte und geradezu faschistische Organisation bei weitem mehr Geld von jüdischen und christlich-fundamentalistischen Organisationen aus dem Ausland erhalten, wird vergessen. Aber das spielt keine Rolle.


ALL DIES zeigt wie mutig der Anwalt Feldman mit seinen Bemühungen ist.

Im Hebräischen sagen wir: Ihm gebührt alle Ehre!



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 19.12.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Dezember 2015

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