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STANDPUNKT/531: Der Bestechungsfall (Uri Avnery)


Der Bestechungsfall

von Uri Avnery, 2. Januar 2016


ALS DER Staat Israel gegründet wurde, tat der neue Außenminister Mosche Sharett etwas, das für völlig normal gehalten wurde. Er verkaufte seine Privatwohnung.

In seiner neuen Funktion wurde ihm eine offizielle Wohnung zugestanden. Überflüssig zu sagen: eine bescheidene.

Sharett dachte, es gehöre sich für einen öffentlichen Beamten nicht, eine private Wohnung zu unterhalten, wenn man auf Staatskosten lebt.

Er behielt das Geld, das er für seine private Wohnung erhielt, nicht für sich. Stattdessen gab er es mehreren Menschenrechts-Organisationen - genau denen, die jetzt unter heftigen Regierungs-Angriffen leiden und als "Linke" bezeichnet werden, einem Begriff, der nur geringfügig weniger negativ ist als "hochverräterisch".

Heute würde solch ein Akt als verrückt angesehen werden. Warum? Der gegenwärtige Ministerpräsident lebt in einer offiziellen Residenz und hält noch zwei weitere Häuser: das eine ist eine Luxusvilla in einer Kolonie sehr Reicher.

In vieler Hinsicht war Sharett eine Ausnahme. Er wurde in der Ukraine als Mosche Shertok geboren, kam mit 10 Jahren nach Palästina, lebte einige Jahre in einem arabischen Stadtteil, wo er arabisch lernte; diente während des 1. Weltkrieges in der osmanischen Armee und wurde der zionistische Experte für ausländische Beziehungen. All dies war recht ungewöhnlich. Fast alle zionistischen Führer kannten weder Araber noch mochten sie sie; sie verstanden kein Arabisch und sahen die Araber von Anfang an als Feinde an.

Damit dies nicht als Schmeichelei eines Bewunderers verstanden wird, muss ich hinzufügen, dass Sharett mich überhaupt nicht mochte und dass er einige sehr unfreundliche Dinge über mich sagte, die ich mit einigen unfreundlichen Bemerkungen meinerseits erwiderte.

Doch konnte ich es nicht unterlassen, mich in dieser Woche an seine Ehrsamkeit zu erinnern. Und zwar an dem Tag, an dem das Oberste Gericht in Israel einen früheren Ministerpräsidenten wegen Bestechung ins Gefängnis steckte.


ALS DIES geschah, war der Angeklagte Ehud Olmert fast glücklich.

Ein Bezirksgericht hat ihn wegen einer viel schlimmeren Bestechung für schuldig befunden und verurteilte ihn zu einer längeren Gefängnisstrafe. Das Oberste Gericht hat, nachdem es den Fall so lang wie möglich hinaus geschoben hatte, die Straftat geringer eingestuft und die Gefängnisstrafe von 6 Jahren auf bloße 1,5 Jahre reduziert. Wie in Israel üblich, wird ein Drittel der Strafe wegen guten Betragens im Gefängnis erlassen. So wird er wahrscheinlich nur ein Jahr sitzen.

Halleluja. Der frühere Ministerpräsident wird nur ein Jahr im Gefängnis verbringen, wo er einen früheren Staatspräsidenten Israels treffen wird, der dort wegen Vergewaltigung einsitzt.

Gegen den gegenwärtigen Ministerpräsident und seine Frau wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, weil sie Regierungsgelder eingesetzt haben, um Ausgaben für ihre beiden Privathäuser zu decken. Der gegenwärtige Anwalt der Netanjahus hat den Staatsanwalt um ein privates Gespräch gebeten, in dem er ihn (einer schriftlichen Notiz zufolge) bitten wollte, die Untersuchung auszusetzen, weil, so deutete er an, Sara Netanjahu psychisch labil sei. Der Staatsanwalt verweigerte das Gespräch, aber die Sache zieht sich noch hin.

Übrigens: der allmächtige Staatsanwalt (in Israel "Rechtsberater der Regierung" genannt), war vor seiner Ernennung der private Anwalt der Netanjahu-Familie. Er wird seine Amtszeit in einem Monat beenden und durch den gegenwärtigen Kabinettsekretär, der Netanjahu sogar noch näher steht, ersetzt.

Über einigen weiteren führenden politischen Berühmtheiten schweben wegen unterschiedlicher Angelegenheiten Ermittlungsverfahren. Einer von ihnen ist Sylvan Shalom, der Innenminister und stellvertretende Ministerpräsident, der letzte Woche zurücktreten musste, weil er unter dem Verdacht steht, sechs Frauen, die für ihn gearbeitet haben, vergewaltigt oder belästigt zu haben.

Der für die Abteilung und all diese Untersuchungen verantwortliche Polizeioffizier ist gerade wieder eingesetzt worden, nachdem er wegen des Verdachts, Polizistinnen sexuell belästigt zu haben, suspendiert worden war.

Das erinnert mich an eine Anekdote, die ich vor vielen Jahrzehnten gehört habe: Ein Politiker näherte sich dem Bildungsminister, einem Mitglied der Labor-Partei: "Gratulieren Sie mir! Ich bin gerade frei gesprochen worden!" worauf der Minister trocken antwortete: "Seltsam. Ich bin nie freigesprochen worden!"


SEIT DAMALS hat sich Israels öffentliche Moral radikal verändert. Ehud Olmert ist vielleicht der typischste Vertreter.

Sein Vater war ein Untergrundkämpfer des Irgun und als Menachem Begin seine politische Partei Herut (Freiheit) im neuen Staat gründete, wurde der Vater in die Knesset gewählt.

Ehud wurde ein paar Tage nach dem Ende des 2. Weltkrieges geboren und wuchs in dem Stadtteil auf, der von Ex-Irgun-Mitgliedern in der Nähe von Haifa aufgebaut wurde. All diese Stadtteile waren sehr arm, was vielleicht Ehuds lebenslanges Verlangen nach Geld und kostbaren Dingen erklärt. Vielleicht erklärt die Tatsache, dass er niemals in irgendeinem Krieg gedient hat, dass er den Finger so schnell an den Abzug legt.

Er schloss sich natürlich Begins Partei an, aber als ein neuer Stern erschien, sah er für ein schnelleres Vorankommen eine Chance. Der Stern war Shmuel Tamir, auch ein früheres Irgun-Mitglied, der Jura studierte, als er von den Briten nach Afrika exiliert wurde. Tamir war äußerst strebsam und als er dachte, er sähe eine Chance, Begin zu stürzen und als Parteiführer zu ersetzen, führte er auf einem Parteitag einen Putsch durch. Der viel jüngere Olmert schloss sich ihm sofort an.

Beide hatten die Situation falsch eingeschätzt. Der so milde wirkende Begin zeigte die Zähne und der Putsch brach zusammen. Tamir und seine Anhänger wurden hinausgeworfen. Sie gründeten eine kleine neue Partei, "freies Zentrum" genannt. "Zentrum", weil sie die nationalistische Ideologie des rechten Flügels von Begin angriffen und sich selbst ins moderate Zentrum setzten.

Bald danach brach der Sechs-Tage-Krieg aus und Israel wurde ein Imperium mit riesigen besetzten Gebieten und siehe da - buchstäblich über Nacht wurde das "freie Zentrum" die extremste Partei des rechten Flügels, die Annexion predigte und Begin der Schwäche und Mäßigung beschuldigte.


ICH WAR zu dieser Zeit ein Mitglied der Knesset und sah Olmert zum ersten Mal, als er ein Junior-Assistent von Tamir war. Er ging immer hinter ihm her und trug seine Akten und Bücher.

Aber Tamir unterschätzte diesen eifrigen jungen Mann. Als er einen anderen jungen Assistenten bevorzugte, spaltete Olmert von der kleinen Partei eine noch kleinere ab, die dann ein anderer Veteran führte. Dann spaltete er diese Partei auch, warf ihren Führer hinaus und übernahm selbst die Führung. Als ihm klar wurde, dass dies zu nichts führen würde, schloss er sich wieder Begin an und wurde auf die Kandidatenliste gesetzt.

Er hätte langsam in den Rängen vorwärts kommen können, aber er war ungeduldig. So sprang er von der Knesset ins Jerusalemer Gemeindebüro und griff den legendären, aber gealterten Teddy Kollek an. Er wurde zum Bürgermeister von Jerusalem gewählt, eine prominente und unübersehbare Position.

Kollek, ein Labormann war ein aggressiver Nationalist. Unmittelbar nach dem Sechs-Tage-Krieg ließ er die arabischen Viertel in der Nähe der Klagemauer einreißen und schuf den riesigen Platz. Er baute den jüdischen Stadtteil im neu annektierten Ost-Jerusalem. Glücklicherweise setzte er die Idee seines alten Mentors David Ben-Gurions nicht um, die antike, von den Osmanen errichtete Stadtmauer von Jerusalem, ein Symbol der Stadt, zu schleifen. Ben-Gurion, der damals schon ein wenig senil war, betonte immer wieder, sie sei nicht jüdisch genug.

Der zunächst gemäßigte Olmert wurde radikal, dann wieder gemäßigt und dann wieder radikal. Er gründete mehr jüdische Stadtteile in Ost-Jerusalem einschließlich der äußerst umstrittenen Har Homa-Siedlung. Meine Freunde und ich organisierten einen langen, aber am Ende erfolglosen Kampf gegen sie. Jetzt blickt die scheußliche Siedlung auf Bethlehem herab.

Es war nicht die einzige architektonische Scheußlichkeit während Olmerts Regierungszeit in Jerusalem. Ein anderer, noch schlechterer, hat geholfen, ihn in dieser Woche zu stürzen.


IM ZENTRUM von West-Jerusalem gab es eine Anhöhe, die von Bauunternehmern begehrt wurde. Eine Gruppe von Stadtentwicklern warf mit großen Bestechungssummen um sich, um die Baugenehmigung für ein riesiges Wohnprojekt zu bekommen, das "Holyland" heißt.

Diese Scheußlichkeit wurde tatsächlich gebaut. Es besteht aus einer Gruppe von Hochhäusern und einem sogar noch hässlicheren Turm mit vielen Stockwerken, von dem man ganz Jerusalem überblicken konnte, einschließlich der heiligen Stätten. Der Bürgermeister war u.a. beschuldigt worden, eine große Bestechungssumme empfangen zu haben.

Aber als es so weit war, war Olmert bereits weitergekommen. Er verließ das Bürgermeisteramt, kehrte in Begins Partei zurück, wurde Knesset-Abgeordneter und half Ariel Scharon dabei, die Partei zu spalten (die jetzt Likud heißt) und eine neue Partei ("Kadima", Vorwärts) zu schaffen.

Als Sharon an die Macht kam, erwartete Olmert, dass er das bedeutsame Finanz-Ministerium erhält; aber Sharon war gezwungen, dieses an Benjamin Netanjahu zu übergeben. Olmert musste sich mit dem weniger bedeutenden Handelsministerium zufrieden geben. Zum Trost verlieh Scharon Olmert den Titel des Stellvertretenden Ministerpräsidenten.

Das war ein leerer Titel, und Olmerts Kollegen lachten hinter seinem Rücken. Doch nicht lange. Scharon fiel plötzlich in ein lange anhaltendes Koma, und bevor irgendjemand etwas dagegen hätte tun können, übernahm Olmert die Macht, zunächst als Vertreter und dann als nächster Ministerpräsident. Er war an seinem Ziel angekommen.

Aber seine Missetaten holten ihn ein. Ein Menge Korruptions-Skandale zwangen ihn, am Ende abzudanken. Im letzten Augenblick bot er der palästinensischen Führung verführerische Konzessionen - doch nun war es zu spät. Die Palästinenser erkannten, dass sein politisches Ende nahe war und warteten darauf, mit seinem Nachfolger zu verhandeln.

Inzwischen schwebten ein Dutzend Korruptions-Beschuldigungen in der Luft. Er verteidigte sich immer damit, dass er seine Untergebenen beschuldigte und immer versicherte, er hätte von gar nichts gewusst, dass alles hinter seinem Rücken geschehen wäre.

Aber am Ende ging er zu weit. Als er seine ihm ergebene Sekretärin im Stich ließ, um sich selbst zu retten, machte sie den Mund auf. Das war zu viel gewesen.

Nach einer sehr langen juristischen Schlacht wurde die letzte Entscheidung in der letzten Woche vom Obersten Gericht getroffen. Olmert wurde für eine der vielen Bestechungsfälle, deren er verdächtigt wurde, für schuldig befunden und ins Gefängnis geschickt.

Ich mochte diesen Mann nie besonders, weder politisch noch persönlich. Und doch muss ich gestehen, dass ich jetzt weder Freude noch Befriedigung empfinde. Er tut mir leid.



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 02.01.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Januar 2016

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