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STANDPUNKT/543: Heiliges Wasser (Uri Avnery)


Heiliges Wasser

von Uri Avnery, 27. Februar


ER ERSCHIEN aus dem Nichts. Buchstäblich.

Die israelische Polizei benötigte einen neuen Kommandeur. Der letzte hatte seine Amtszeit beendet; mehrere ältere Offiziere waren beschuldigt worden, ihre weiblichen jüngeren Kolleginnen sexuell belästigt zu haben, einer hatte Selbstmord begangen, nachdem er der Korruption angeklagt worden war. Also wurde jemand von außerhalb ernannt.

Als Benjamin Netanjahu seine Wahl ankündigte, war jeder erstaunt. Roni Alscheich? Woher, zum Teufel, kommt der denn?

Er sieht - abgesehen von seinem Schnurbart - nicht wie ein Polizist aus. Er hatte niemals auch nur die geringste Beziehung zur Polizeiarbeit. Tatsächlich war er der Stellvertreter des Chefs von Schin Bet, des Geheimdienstes für das Innere.

Boshafte Zungen flüsterten, es gäbe einen einfachen Grund für diese seltsame Ernennung: Der Schin-Bet-Chef sollte befördert werden. Netanjahu wollte nicht, dass Alscheich dessen Nachfolge antritt. Stattdessen soll er von nun an die Polizei befehligen.

Der Name Alscheich ist eine Verfälschung des sehr arabischen al-Scheich - "der Alte". Sein Vater ist jemenitischer Abstammung, seine Mutter ist Marokkanerin.

Er ist der erste Polizeichef, der eine Kippah trägt. Auch der erste, der einmal ein Siedler war. Wir warteten alle auf seine erste bedeutende Äußerung. Sie kam in dieser Woche und betraf die um ihre Söhne trauernden Mütter.

Alscheich behauptete, Trauer ist in Wirklichkeit ein jüdisches Gefühl. Jüdische Mütter trauern um ihre Kinder. Arabische Mütter trauern nicht. Deshalb lassen sie sie Steine auf unsere Soldaten werfen, wobei sie wissen, dass sie wahrscheinlich erschossen werden.

Das klingt primitiv? Das ist auch primitiv. Es ist auch ziemlich beängstigend, dass unser neuer Polizeichef, der Mann, der für Ruhe und Ordnung zuständig ist, solch primitive Ansichten hat.


EIN PAAR Tage später wiederholte unser Verteidigungsminister Moshe Yaalon, der ein viel größeres Imperium kontrolliert, diese Behauptung. Arabische Trauer kann nicht mit jüdischer Trauer verglichen werden. Das hängt damit zusammen, dass Juden das Leben lieben, während die Araber den Tod lieben.

Wenn unsere tapferen Soldaten (alle unsere Soldaten sind tapfer) ihr Leben opfern, dann deshalb, weil sie das Leben unserer Nation lieben, während arabische Terroristen Selbstmordmissionen begehen, um ins Paradies zu kommen. Ihre Mütter ermutigen sie dazu. So sind Araber eben.

All diese Super-Patrioten sind zu jung, um sich daran zu erinnern, dass jüdische Mütter in Palästina ihre Söhne und Töchter ermutigten, sich den Untergrund-Organisationen anzuschließen, um gegen die britische Besatzung zu kämpfen (das war natürlich ein Kampf für das Leben). Vielleicht dachten die britischen Polizisten genau so über die jüdischen Mütter und vergaßen dabei, dass nur wenige Jahre zuvor Millionen und Abermillionen weißer christlicher Europäer sich den Armeen mit dem Segen der Mütter angeschlossen haben und einander töteten. Für Leben und Freiheit.

Wenn zwei so hochrangige Persönlichkeiten solch erschütternden Unsinn von sich geben, kann es nur einen Grund geben: sie wiederholen die "Erklärungsblätter", die täglich vom Amtssitz des Ministerpräsident an alle Regierungsminister und hochrangigen Beamten verteilt werden. (In Israel mögen wir das Wort "Propaganda" nicht, wir nennen die Sache stattdessen "Erklärung" - hasbara auf Hebräisch.)



EIN WORT über die Kippah des Polizeichefs.

Als ich ein Jugendlicher in Tel Aviv war, sah ich kaum jemanden, der eine Kippah trug. Weder in der Schule (die ich im Alter von 14 verließ, um für den Lebensunterhalt zu arbeiten) noch in der Irgun oder in der Armee sah ich einen Kameraden, der so eine Kopfbedeckung trug. Die jungen Leute schämten sich, sie zu tragen.

Heutzutage tragen fast die Hälfte derer, die im Fernsehen erscheinen, stolz die Kippah. Einige von ihnen tragen sie auf eine Weise oder in einer Größe, dass die Kamera sie nicht sehen kann. Aber Regierungsangestellte tragen sie wie eine Ehrenplakette, um zu zeigen, dass sie wahre Gläubige der herrschenden Ideologie sind. Wie ein roter Stern in China oder eine Krawatte in den USA.

Während der letzten paar Monate hat Netanjahu neue Leute für einige der wichtigsten Regierungsämter ernannt. Der Polizeichef ist einer von ihnen. Ein anderer ist der Generalstaatsanwalt ("Juristischer Berater der Regierung" genannt), der Regierungsbeamte mit der größten Machtbefugnis. Ein anderer ist der neue Chef des Shin Bet. Im Unterschied zu ihren Vorgängern tragen sie alle die Kippah.

Um ihre Bedeutung zu erklären, muss man die jüdische Religion charakterisieren. Sie ist ganz anders als die christliche Religion und steht dem Islam viel näher. Alles Reden über die "jüdisch-christliche" Tradition gründet sich auf Ignoranz.


DAS HEBRÄISCHE Wort für Religion ist "dat". Wie das arabische Wort "din" meint es im Wesentlichen "Gesetz". Judentum besteht aus einer Reihe von Geboten (allein in der Bibel sind es 613), die Gott den Menschen auferlegt hat. Dafür hat Gott uns als sein Volk "auserwählt" und uns das Heilige Land gegeben. Man kann kein Jude sein, ohne zum jüdischen Volk zu gehören, dem das Heilige Land für immer gehört.

Seit 2000 Jahren und mehr waren Juden über die ganze Welt zerstreut. Ihre Verbindung zum Heiligen Land war rein geistiger Natur. Das jüdische "Volk" war eine religiöse Erfindung.

Dann kam der Zionismus. Er wurde Ende des 19. Jahrhundert gegründet. Fast alle seine Begründer waren überzeugte Atheisten. Sie glaubten nicht an Gott, der die Juden ins Exil geschickt hat. Als ich jung war, sprach niemand in diesem Land von einem "jüdischen Staat". Wir sprachen von einem "hebräischen Staat". Eine extreme Gruppe (mit dem Spitznamen "Kanaaniter") behauptete, wir seien eine neue hebräische Nation, die nichts mit dem Judentum zu tun habe. Die meisten meiner Generation dachten ähnlich, wenn auch nicht wortwörtlich.

Ich bin oft gefragt worden, warum ein entschiedener Militarist wie David Ben Gurion, der erste Ministerpräsident und Verteidigungsminister, religiöse Schüler vom Militärdienst befreite. Meine Erklärung ist ganz einfach: wie die meisten von uns glaubte er, dass die jüdische Religion in diesem Land aussterben würde. Der Zionismus hat sie ersetzt. Der neue hebräische Pionier braucht all den religiösen Unsinn nicht.

Dann kam der Krieg von 1967, der "übernatürliche" Sieg und die Eroberung des ganzen Landes bis zum Jordan mit allen seinen heiligen Stätten. Anstatt, wie erwartet, allmählich auszusterben, wurde die jüdische Religion plötzlich wieder sehr lebendig. Jetzt breitet sie sich schnell aus, die Kippah kann überall gesehen werden. Besonders unter den Siedlern.

Diese regenerierte Religion ist eng mit einer rechten, ultranationalistischen, araberhassenden Ideologie verbunden. Dies ist die Welle, auf der sich Netanjahu, ein nicht religiöser, nicht koscher essender, super-nationalistischer Opportunist, bewegt. Buchstäblich jeden Tag tauchen neue national-religiöse Gesetze und Gesetzvorlagen auf.

Eine Gesetzesvorlage sagt, dass im Falle eines Zweifels Richter das jüdische Gesetz ("die Halacha") "befragen" müssen. Diese alten Gesetze, einige davon 2500 Jahre alt, behandeln Frauen als minderwertig und verdammen Homosexuelle zur Steinigung. Sie haben nichts mit dem modernen Leben zu tun. Ein anderer Gesetzentwurf erlaubt der Knesset-Mehrheit vom Parlament gewählte Mitglieder, die den Staat nicht als "jüdisch und demokratisch" anerkennen (das könnte wie ein Oximoron klingen), rauszuwerfen. Schulbücher in säkularen Schulen bekommen einen religiösen Unterton (aber die alten Bücher werden noch nicht verbrannt). Eigenständig denkende Lehrer werden entlassen. Der Minister für Bildung trägt natürlich eine Kippah. Sechs Mitglieder des angesehenen Rates für Höhere Bildung sind wegen der Bemühungen der Regierung, diese erhabene Körperschaft mit nationalistischen und religiösen Agitatoren auszustaffieren, zurückgetreten.

Wo bleiben die sogenannten "Linken" bei alledem? Das ist eine berechtigte Frage. Sie sind unsichtbar. Außer einigen Überbleibseln sowie der angeschlagenen arabischen Fraktion halten sie den Mund und glauben, sie müssten sich nach rechts (auch "Zentrum" genannt) bewegen, um den Kopf über dem heiligen Wasser zu halten.

Ich wäre nicht überrascht, wenn ich eines Abends den Fernseher anschalte und dort - sieh da! - Benjamin Netanjahus Kopf mit einer hübschen sauberen Kippah zu sehen wäre.



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 27.02.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. März 2016

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