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STANDPUNKT/564: Geringfügige Korruption (Uri Avnery)


Geringfügige Korruption

von Uri Avnery, 18. Juni 2016


Vor vielen Jahren erhielt ich einen Anruf aus dem Büro des Premierministers. Mir wurde gesagt, Yitzhak Rabin wolle mich privat treffen.

Rabin öffnete selbst die Tür. Er war alleine in seiner Residenz. Er bot mir einen bequemen Sitzplatz an, goss zwei großzügige Gläser Whisky, für mich und für ihn, ein und begann ohne viel Federlesen - Small Talk verabscheute er: "Uri, hast Du beschlossen, alle Tauben in der Arbeiterpartei zu vernichten?"

Mein Nachrichtenmagazin, Haolam Hazeh, führte eine Kampagne gegen Korruption und hatte zwei prominente Führer der Arbeiterpartei, den neuen Präsidenten der Zentralbank und den Wohnungsminister beschuldigt. Beide waren tatsächlich Mitglieder des moderaten Flügels der Partei.

Ich erklärte Rabin, dass ich im Kampf gegen Korruption keine Ausnahmen für Politiker machen könne, die meiner politischen Orientierung nahe stünden. Korruption war schon eine Sache für sich.


DIE ERSTE Generation der Gründer Israels war frei von jeglicher Korruption. Korruption war undenkbar.

In der Tat wurde der Purismus auf die Spitze getrieben. Einst wurde ein prominenter Führer der Arbeiterpartei beschuldigt, sich eine Villa in einem Vorort von Jerusalem zu bauen. Es gab nicht den leisesten Verdacht auf Korruption. Er hatte das Geld geerbt. Aber es wurde als skandalös angesehen, wenn ein Führer der Arbeiterpartei in einer privaten Villa wohnte. Ein "Genossen-Gericht" entschied, ihn aus der Partei auszuschließen, und das war das Ende seiner Karriere.

Zur selben Zeit wurde eine offizielle Residenz für den Außenminister gebaut, so dass er ausländische Honoratioren in angemessener Umgebung empfangen konnte. Der damalige Minister, Moshe Sharett, meinte, es sei falsch, ein eigenes privates Appartement zu behalten, weshalb er es verkaufte und das Geld mehreren Menschenrechtsvereinigungen spendete.


DIE NÄCHSTE Generation war völlig anders. Sie benahm sich, als wäre der Staat aufgrund göttlichen Rechts ihr Eigentum.

Deren typischster Verfechter war Moshe Dayan. Er war im Land geboren, und David Ben-Gurion ernannte ihn zum Stabschef der Armee. In dieser Funktion leitete er "Vergeltungsangriffe" jenseits der Grenze und danach 1956 den Angriff gegen Ägypten, der in einem glorreichen Sieg endete. (Hinter dem Rücken der ägyptischen Armee hatte ihn die französisch-britische Invasion des Suez-Kanal-Gebietes mit herbeigeführt.)

Dayan war Amateur-Archäologe. Er staffierte seine Villa (zu der Zeit waren Villen schon erlaubt) mit alten Artefakten aus, die er im gesamten Land ausgegraben hatte. Das war vollkommen illegal, da unprofessionelle Grabungen die historischen Beweise zerstörten, zum Beispiel die Möglichkeit einer historischen Datierung.

Dann veröffentlichte mein Magazin eine niederschmetternde Enthüllung: Dayan behielt nicht nur die Artefakte in seinem Garten. Er verkaufte sie weltweit, mit einem persönlich unterzeichneten Vermerk, der ihren Preis in die Höhe schnellen ließ. Die Enthüllung verursachte einen Riesenskandal und viel Hass - auf mich. In einer öffentlichen Meinungsumfrage, die in dem Jahr durchgeführt wurde, wurde ich zur "meist gehassten Person" im Land gewählt. Ich löste den Vorsitzenden der kommunistischen Partei ab, der bis dahin diesen Titel inne hatte. (Solche Meinungsumfragen gibt es heute nicht mehr.)

Dayans Schwager war Eser Weitzman, der General, der die Luftflotte geschaffen hatte, die den überragenden Sieg im Sechs-Tage-Krieg von 1967 einbrachte. Es war ein offenes Geheimnis, dass Weitzman von einem amerikanischen jüdischen Millionär finanziell unterstützt wurde und in einer Luxusvilla in Ceasarea lebte, dem teuersten Ort im Land (wo Benyamin Netanyahu nun seine eigene Privatvilla hat).


VOR EINIGEN Jahren war dies eine allgemeine Modeerscheinung. Jeder jüdische Millionär in Amerika hatte "seinen" israelischen General, den er stilgerecht unterstützte und auf den er stolz war. Für diese Juden war ein israelischer General auf ihren Familienfesten ein zwingendes Statussymbol.

Ariel Sharon, zum Beispiel. Er war der Sohn armer Eltern, die in einem kooperativen Dorf gewohnt hatten. Er beendete seine Militärkarriere und siehe da - plötzlich war er Eigentümer einer riesigen Ranch. Sie war das Geschenk eines ex-israelischen amerikanischen Multimillionärs. (Gerüchte grassierten, dass der Millionär das Geld dafür von der Steuer abgesetzt hätte.)

Das war zu einer Zeit, in der die israelischen Generäle nicht nur zu Hause Helden waren, sondern weltweit. Moshe Dayan, der an seiner schwarzen Augenklappe leicht erkennbar war, war ein Held, in Los Angeles genauso wie in Haifa.

All diese Generäle (mit Ausnahme von Eser Weitzman, der aus einer reichen Familie stammte) wuchsen in sehr konservativen Verhältnissen auf. Ihre Eltern waren Mitglieder von Kibbuzim (Gemeinschaftsdörfern) oder Moshavim (genossenschaftliche Dorfgemeinschaften). Alle waren sie damals extrem arm. Sharon, ein Moshav-Junge, sagte mir, dass er jeden Tag eine halbe Stunde zu Fuß zur Schule und zurück gegangen sei, um das Busgeld zu sparen.

Das traf auch auf die nächste Führungsgeneration zu. Ehud Olmert, der ehemalige Premierminister - jetzt im Gefängnis wegen Korruption - wuchs in sehr armen Verhältnissen auf und wurde süchtig nach Luxusgütern. Der ehemalige Staatspräsident, Moshe Katzav, der mit ihm im Gefängnis sitzt, wurde wegen Vergewaltigung, nicht wegen Korruption, verurteilt. Er war als neuer Einwanderer in Armut aufgewachsen.

(In einem gängigen Witz heißt es, dass der Wärter nach einem Konzert im Gefängnis verkündet habe: "Alle bleiben sitzen, bis der Präsident und der Ministerpräsident den Raum verlassen haben.")

Ehud Barak, ehemaliger Stabschef und Premierminister, häuft großen Reichtum an, indem er ausländische Regierungen "berät". Er wuchs in einem armen Dorf auf.

Mir ist erspart geblieben, mich nach Geld zu sehnen, obwohl auch ich, im Alter von 10 Jahren, nach meiner Ankunft in Palästina in bitterer Armut aufgewachsen bin. Glücklicherweise lebte ich vorher in sehr wohlhabenden Verhältnissen in Deutschland. Meine Familie und ich waren seitdem in Israel glücklicher als in Deutschland, und ich lernte, dass Glück nichts mit Geld zu tun hat.


ALL DAS kommt mir in den Sinn, weil wir fast täglich mit Korruptionsvorwürfen gegen Benyamin Netanyahu und seine höchst unpopuläre Ehefrau, Sarah, überflutet werden.

"Sarah'le", wie sie allgemein genannt wird, eine ehemalige Stewardess, die ihren Ehemann auf einem Flug kennenlernte, scheint ein Hausdrache zu sein, der die Mitarbeiter der Residenz tyrannisiert. Einige von ihnen haben sie verklagt. Sie enthüllten, dass sie das Staatssäckel für private Bedürfnisse stibitzt.

Aber was wirklich beunruhigend ist, ist, dass Sarah Netanyahu, die von niemandem gewählt wurde, für die Besetzung aller hochrangigen Ämter verantwortlich zu sein scheint. Keiner kann diese hohen Positionen erreichen, ohne von ihr persönlich befragt und bestätigt worden zu sein.

Sie hat alle drei hochrangigen Gesetzeshüter ernannt: den Rechtsberater (eigentlich der Oberste Generalstaatsanwalt), den einflussreichen Buchprüfer des Rechnungswesens und den Polizeichef.

Wenn dem so ist, dann war dies ein Akt der Vorsorge. Alle drei sitzen nun Tag und Nacht zusammen und beraten miteinander, was mit der Flut von Anklagen im Hinblick auf die finanziellen Angelegenheiten von Netanyahus Familie zu tun ist. Sie wollen unbedingt vermeiden, dass die Netanyahus wegen irgendetwas angeklagt werden, aber das wird zunehmend schwieriger, da sie der Aufsicht des Obersten Gerichtshof unterliegen.

Ich habe bereits über einige dieser Vorwürfe berichtet, aber jede Woche tauchen neue auf. Es ist zu einer Art Nationalsport geworden.

Es begann mit der Enthüllung, dass Netanjahu, bevor er Ministerpräsident wurde, also zu einer Zeit, als er einmal in der Regierung war und dann wieder nicht, sich seine Erste-Klasse-Flugtickets von verschiedenen ahnungslosen Gastgebern doppelt und dreifach bezahlen ließ, ohne sie als Einkommen zu erklären. Das wird nun im israelischen Slang "Bibitouren" genannt.

Seitdem war er in alle möglichen Dinge involviert, die an verbrecherische Korruption grenzen und die sich in verschiedenen Stufen der "Untersuchung" befinden. Neue werden der Liste permanent hinzugefügt. Die drei von Netanyahu ernannten Gesetzeshüter sind in ständiger Beratung darüber, ob sie eine strafrechtliche Untersuchung anordnen sollen, die ihn zumindest zum zeitweisen Rücktritt zwingen könnte.

Der Höhepunkt war erreicht, als ein jüdischer Finanzier, der in Frankreich wegen besonders schwerem Betrug angeklagt war, dem Gericht offenbarte, er habe Netanyahu privat eine Million Euro gegeben und Bibis äußerst teure Hotelrechnungen in vielen Städten, auch an der französischen Riviera, bezahlt. Die genauen Beträge sind zweifelhaft, aber es wird nicht abgestritten, dass Netanyahu von dem Mann, der bereits damals der Korruption verdächtigt wurde, hohe Geldbeträge erhalten hat.

Die generösen israelischen Steuerzahler (auch ich) bezahlten für Bibis Aufenthalt in New York im letzten Herbst eine Summe in Höhe von 600.000 Dollar. In dieser Summe - mehr als 10.000 Dollar pro Tag - war die Bezahlung seines privaten Friseurs (1.600 Dollar) und seiner Kosmetikerin (1.750 Dollar) enthalten. Der Zweck der Reise war, vor der UN-Generalversammlung zu sprechen. Ich frage mich, wieviel jedes Wort gekostet hat.

Die Information wurde auf Anordnung des Gerichts gemäß dem Gesetz für Informationsfreiheit mitgeteilt.

Die israelische Öffentlichkeit schluckt einfach alles. Niemand scheint sich darüber zu ärgern. Es wimmelt von Witzen über das "Königspaar".

Für viele von Netanyahus eigenen Wählern, meistens arme Menschen orientalisch-jüdischen Ursprungs, beweisen die Enthüllungen nur, was für eine clevere Person er ist, der jede Gelegenheit ergreift, wie sie es selbst liebendgerne täten.


WIE NUN mit diesen Enthüllungen umgehen, die so viele Fernseh-Nachrichtenprogramme und Zeitungsschlagzeilen beherrschen?

Ich gebe zu, dass ich sie mit gewisser Missachtung behandele. Was sind diese Vorfälle geringer Korruption im Vergleich zu Netanyahus Handlungen bzw. seiner Untätigkeit, was einen direkten Einfluss auf das Schicksal Israels hat?

Ich betrachte Benyamin Netanyahu als den Totengräber unseres Staates, als den Mann, der den Kurs in Richtung Katastrophe lenkt, den Mann, der jegliche Chance auf Frieden verhindert. Erst diese Woche sagte Netanyahu seinen Parteikollegen stolz, dass er "niemals" Verhandlungen zustimmen wird, die auf der arabischen Friedensinitiative von 2002 basieren und das Ende der Besetzung, die Errichtung des Staates Palästina und die Evakuierung der Siedlungen beinhalten. Viele Menschen meinen, diese Weigerung sei fatal.

Warum sollte man sich angesichts dieser Katastrophen da über so ein bisschen Korruption aufregen?

Aber dann erinnere ich mich an den Fall von Al Capone, dem Gangster, der schwerer Verbrechen schuldig war, darunter der kaltblütigen Ermordung vieler Menschen. Schließlich wurde er jedoch nur wegen Steuerhinterziehung verurteilt und ins Gefängnis gesteckt.

Wenn Netanyahu aufgrund geringer Korruption verurteilt und zum Rücktritt gezwungen werden kann, dient das nicht dem Wohl des Landes?



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen übersetzt von Inga Gelsdorf)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 18.06.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juni 2016

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