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STANDPUNKT/645: Cui Bono? (Uri Avnery)


Cui Bono?

von Uri Avnery, 15. April 2017


CUI BONO - "wem nützt es?" - ist die erste Frage eines erfahrenen Detektivs, der ein Verbrechen untersucht.

Da ich selbst eine kurze Zeit lang in meiner Jugend ein Detektiv war, kenne ich die Bedeutung. Oft ist der erste und offensichtlichste Verdacht falsch. Man stellt sich die Frage: "Wem nützt es?" und gleich taucht ein anderer Verdächtiger auf, an den man bis dahin noch nicht gedacht hatte.

Seit zwei Wochen beunruhigt mich diese Frage und lässt mich nicht in Ruhe.

In Syrien ist ein schreckliches Kriegsverbrechen begangen worden. Die zivile Bevölkerung in einer von Rebellen gehaltenen Stadt, die Idlib heißt, wurde von Giftgasbomben getroffen. Dutzende von Zivilisten, einschließlich Kindern, starben eines elenden Todes.

Wer konnte so etwas tun? Die Antwort war offensichtlich: der schreckliche Diktator Bashar al-Assad tat dies. Wer sonst?

Ein Beweis ist nicht nötig. Keine Untersuchung. Es war selbstverständlich. Natürlich Assad. Innerhalb von Minuten wusste es jeder.

Ein Sturm der Entrüstung ging durch die westliche Welt. Er muss bestraft werden. Armer Donald Trump, der keine Ahnung hatte, sah sich dem Druck ausgesetzt und befahl einen sinnlosen Raketen-Angriff auf ein syrisches Flugfeld, nachdem jahrelang gepredigt wurde, dass die USA unter keinen Umständen in den Syrienkrieg verwickelt werden darf. Plötzlich hat er sich um-entschlossen. Nur um diesem Bastard eine Lektion zu erteilen. Und um der Welt zu zeigen, was er wirklich für ein toller Mann ist.

Die Operation war ein immenser Erfolg. Übernacht wurde der verachtete Trump ein Nationalheld. Selbst Liberale küssten seine Füße.


DOCH STÄNDIG nagte diese Frage an meinem Verstand. Warum hat Assad dies getan? Was hat er damit gewonnen?

Die einfache Antwort ist: Nichts. Absolut nichts.

("ASSAD" bedeutet "LÖWE" im Arabischen. Im Gegensatz zu dem, was westliche Experten und Staatsmänner zu glauben scheinen, liegt die Betonung auf der ersten Silbe.)

Mit Hilfe der Russen, dem Iran und der Hisbolla, gewinnt Assad langsam den Bürgerkrieg, der seit Jahren in Syrien wütet. Er hält schon fast alle großen Städte, die das Herzstück Syriens bilden. Er hat genug Waffen, um so viele feindliche Zivilisten zu töten, wie sein Herz begehrt.

Warum also um Allahs Willen sollte er Gasbomben verwenden, um ein paar Dutzend mehr zu töten? Warum den Zorn der ganzen Welt auf sich ziehen?

Es gibt keine Möglichkeit, die Schlussfolgerung zu leugnen: Assad hat am wenigsten durch die niederträchtige Tat zu gewinnen. Auf der Liste von Cui bono ist er der letzte.

Assad ist ein zynischer Diktator, vielleicht grausam, aber er ist bei weitem kein Dummkopf. Er wurde von seinem Vater Hafez al-Assad erzogen, der eine lange Zeit vor ihm ein Diktator war. Selbst wenn er ein Dummkopf wäre, zu seinen Beratern gehören einige der klügsten Leute auf Erden: Vladimir Putin von Russland, Hassan Rouhani vom Iran, Hassan Nassrallah von der Hisbollah.

Also wer hat etwas zu gewinnen? Nun, ein Dutzend syrischer Sekten und Milizen, die gegen Assad kämpfen und gegen jeden anderen in diesem verrückten Bürgerkrieg. Auch ihre sunnitisch arabischen Verbündeten, die Saudis und andere Golf-Scheichs. Und Israel, natürlich. Alle haben sie ein Interesse, die zivilisierte Welt gegen den syrischen Diktator aufzubringen.

Eine ganz simple Logik.


EIN MILITÄRISCHER Akt muss ein politisches Ziel haben. Wie Carl von Clausewitz vor 200 Jahren bekanntermaßen sagte: der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.

Die zwei Hauptopponenten im syrischen Bürgerkrieg sind das Assad-Regime und Daesh. Was ist also das Ziel der USA? Es klingt wie ein Witz. Die USA wollen beide Seiten zerstören. Noch ein Witz: als erstes wollen sie Daesh zerstören, deshalb bombardieren sie Assad.

Die Zerstörung von Daesh ist höchst wünschenswert. Es gibt kaum eine widerwärtigere Gruppe in der Welt. Aber Daesh ist nicht nur eine Organisation. Es ist eine Idee. Die Vernichtung des Daesch-Staates würde die Ausbreitung Tausender engagierter Mörder (assassins) über die ganze Welt bewirken.

(Interessanterweise waren die Original-Assassinen vor etwa 900 Jahren muslimische Fanatiker, die den Kämpfern des heutigen Daesch stark ähnelten.)

Amerikas eigene Bundesgenossen in Syrien haben ein trauriges Los, sie sind fast geschlagen. Sie haben keine Chance zu gewinnen.

Assad jetzt zu schaden, bedeutet nur, den Bürgerkrieg zu verlängern, der jetzt sogar sinnloser ist als zuvor.


FÜR MICH, der ich die längste Zeit meines Lebens Berufsjournalist war, ist das, was mich am meisten an diesem ganzen Kapitel deprimiert, der Einfluss der amerikanischen Medien und der westlichen Medien im Allgemeinen.

Ich lese die New York Times und bewundere sie. Und doch hat sie all ihre professionellen Standards zerfetzt, indem sie eine unbewiesene Vermutung als biblische Wahrheit verkündet, als etwas, dessen Richtigkeit nicht zuvor überprüft werden müsste. Vielleicht ist Assad wirklich der Schuldige. Aber wo ist der Beweis dafür? Wer hat das untersucht und wo sind die Untersuchungsergebnisse?

Was noch schlimmer ist: Die "Nachricht" wurde sofort zu einer weltweit akzeptierten Wahrheit. Viele Millionen Menschen wiederholen sie gedankenlos als etwas Selbstverständliches wie den Sonnenaufgang im Osten und den Sonnenuntergang im Westen.

Keine Frage taucht auf. Kein Beweis wird verlangt oder erbracht. Das ist sehr deprimierend.


ZURÜCK ZUM Diktator. Warum benötigt Syrien einen Diktator? Warum ist Syrien keine wunderbare Demokratie im Stil der deutschen Bundesrepublik? Warum nimmt es nicht dankbar einen von den USA erdachten "Regime-Wechsel" an?

Die syrische Diktatur ist kein zufälliges Phänomen. Sie hat sehr konkrete Wurzeln.

Syrien wurde von Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg geschaffen. Ein Teil spaltete sich später ab und wurde zum Libanon.

Beides sind künstliche Erzeugnisse. Ich bezweifle, dass es da heute echte Syrer und echte Libanesen gibt.

Der Libanon ist ein gebirgiges Land, ideal für kleine Sekten, die sich selbst verteidigen müssen. Während der Jahrhunderte fanden kleine Sekten hier Zuflucht. Die Folge davon ist, dass der Libanon voll solcher kleinen Sekten ist, die einander misstrauen. Sunniten, Muslime, Shiitische Muslime, maronitische Christen und viele andere christliche Sekten, Drusen, Kurden.

In Syrien ist es sehr ähnlich. Dort leben so ziemlich dieselben Sekten und dazu kommen die Alawiten. Diese sind wie die Shiiten Anhänger des Propheten Ali (deswegen der Name) Ibn Abi Talab, einem Cousin und Schwiegersohn des Propheten. Sie besetzen einen Streifen Land im Norden von Syrien.

Beide Länder mussten ein System erfinden, das solchen verschiedenen und einander verfeindeten Entitäten das Zusammenleben erlaubt. Sie fanden zwei verschiedene Systeme.

Im Libanon mit einer Vergangenheit von vielen brutalen Bürgerkriegen, erfand man eine Möglichkeit der Teilhabe: Der Präsident ist immer ein Maronit, der Ministerpräsident ein Sunnit, der Kommandeur der Armee ist ein Druse und der Sprecher des Parlamentes ein Shiit.

Als Israel 1982 den Libanon überfiel, waren die Schiiten im Süden die am weitesten unten auf der sozialen Leiter stehende Volksgruppe. Sie begrüßten unsere Soldaten mit Reis. Aber bald wurde ihnen klar, dass die Israelis nicht gekommen waren, um ihre anmaßenden Nachbarn zu besiegen, sondern um zu bleiben. So begannen die einfachen Shiiten einen sehr erfolgreichen Guerillakrieg, in dessen Verlauf sie zur mächtigste Gemeinschaft im Libanon wurden. Sie werden von der Hisbollah geführt. Und das System besteht bis heute.

Die Syrer fanden ein anderes System. Sie unterwarfen sich bereitwillig einer Diktatur, um das Land zusammenzuhalten und um den inneren Frieden zu sichern.

Die Bibel erzählt uns, dass als das israelitische Volk sich entschied, einen König zu haben, es einen Mann mit Namen Saul wählte, der zum kleinsten Stamm, dem Stamm Benjamin, gehörte. Das moderne Syrien machte es ähnlich: Es unterwarf sich einem Diktator aus einem ihrer kleinsten Stämme, dem Stamm der Alawiten.

Die Assads sind säkular, nicht-religiöse Herrscher - das genaue Gegenteil des fanatischen, mörderischen Daesh. Viele Muslime glauben, dass die Alawiten überhaupt keine Muslime sind. Seit Syrien vor 44 Jahren den Yom-Kipur-Krieg gegen Israel verlor, halten die Assads an unserer Grenze Frieden, obwohl Israel die syrischen Golanhöhen annektierte.

Der Bürgerkrieg in Syrien geht weiter. Jeder kämpft gegen jeden. Die verschiedenen "Rebellen"-Gruppen, die von den USA geschaffen, finanziert und bewaffnet wurden, sind jetzt in schlechter Verfassung. Es gibt mehrere miteinander konkurrierende Gruppen von Jihadisten, die alle den jihadistischen Daesch hassen. Eine kurdische Enklave will sich abspalten. Die Kurden sind keine Araber, aber die meisten sind Muslime. Andere Kurden leben in Enklaven in der südlichen Türkei, im Irak und Iran. Sie können keine gemeinsame Sache machen. Weil sie einander hassen.

Und da ist der arme, unschuldige Donald Trump, der geschworen hat, sich nicht in all dieses Durcheinander hineinziehen zu lassen, und jetzt genau dies tut.

Einen Tag zuvor wurde Trump von der Hälfte der Amerikaner verachtet, auch von den meisten Medien. Nur durch den Abschuss von ein paar Raketen hat er als starker und kluger Führer die allgemeine Bewunderung gewonnen.

Was sagt das über das amerikanische Volk aus und über die Menschheit im Allgemeinen?



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 15.04.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. April 2017

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