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STANDPUNKT/678: Sehnsuchtsvolle Augen (Uri Avnery)


Sehnsuchtsvolle Augen

von Uri Avnery, 5. August 2017


DIE GANZE Welt beobachtete mit angehaltenem Atem, wie die Tage vorübergingen. Dann die Stunden. Dann die Minuten.

Die Welt beobachtete, wie der verurteilte Muhammad Abu-Ali aus Qalqilia auf seine Hinrichtung wartete.

Abu-Ali war ein für schuldig befundener Terrorist. Er hatte ein Messer gekauft und in einer seiner Wohnung nahe gelegenen jüdischen Siedlung vier Mitglieder einer Familie getötet. Er hat allein in einem Anfall von Zorn gehandelt, nachdem sein geliebter Cousin Ahmed von israelischen Grenz-Polizisten während einer Demonstration erschossen worden war.

Dies ist ein imaginärer Fall. Aber er ähnelt sehr stark dem, was geschehen würde, wenn ein realer Fall, der jetzt ansteht, seinen Lauf nehmen würde.


IN ISRAEL gibt es keine Todesstrafe. Sie wurde während der ersten Jahre des Staates abgeschafft, als die Exekution der jüdischen Untergrundkämpfer (von den Briten "Terroristen" genannt) noch immer frisch in jedermanns Gedächtnis war.

Es war ein feierliches und festliches Ereignis. Nach der Abstimmung ein ungeplanter Gefühlsausbruch: die ganze Knesset erhob sich und stand eine Minute lang still. In der Knesset sind solche Gefühlsausbrüche wie Klatschen verboten.

An diesem Tag war ich stolz auf meinen Staat, der Staat, für den ich auch mein Blut vergossen habe.


VOR DIESEM Tag waren zwei Leute in Israel hingerichtet worden.

Der erste wurde während der frühen Tage des Staates erschossen. Ein jüdischer Ingenieur wurde angeklagt, den Briten Informationen übergegeben zu haben, und die hatten sie an die Araber weitergegeben. Drei Militäroffiziere bildeten ein Militärgericht und verurteilten ihn zum Tode. Später stellte sich heraus, dass der Mann unschuldig war.

Das zweite Todesurteil wurde über Adolf Eichmann verhängt, einen österreichischen Nazi, der 1944 die Deportation der ungarischen Juden ins Todeslager dirigierte. Er war in der Nazi-Hierarchie nicht weit oben, nur ein "Obersturmbannführer" in der SS. Aber er war der einzige Nazi-Offizier, mit dem jüdische Führer in direkten Kontakt kamen. Ihrer Ansicht nach war er ein Monster.

Als er in Argentinien entführt und nach Jerusalem gebracht wurde, sah er wie ein durchschnittlicher Bankangestellter aus, nicht sehr eindrucksvoll und nicht sehr intelligent. Als er zum Tode verurteilt wurde, schrieb ich einen Artikel, in dem ich mich fragte, ob ich für die Hinrichtung war. Ich sagte: "Ich wage nicht, ja zu sagen und ich wage nicht, nein zu sagen." Er wurde gehenkt.


EIN PERSÖNLICHES Bekenntnis: Ich kann keine Küchenschabe töten. Ich bin auch nicht in der Lage, eine Fliege zu töten. Das ist keine bewusste Aversion. Es ist fast physisch. Es war nicht immer so. Als ich gerade 15 Jahre alt war, schloss ich mich der "terroristischen" Organisation Irgun ("Nationale Militärorganisation") an, die damals auf arabischen Märkten eine Menge Leute tötete, einschließlich Frauen und Kinder, als Rache für das Töten von Juden während der arabischen Rebellion.

Ich war zu jung, um selbst bei diesen Aktionen tätig zu werden, aber meine Kameraden und ich verteilten stolz Flugblätter, die die Aktionen ankündigten. Also war ich ein Komplize, bis ich die Organisation verließ, weil ich begann, "Terrorismus" abzulehnen.

Aber die wirkliche Veränderung meines Charakters begann, nachdem ich im 1948er-Krieg verletzt wurde. Mehrere Tage und Nächte lang lag ich in meinem Krankenhausbett, unfähig zu essen, zu trinken oder zu schlafen - ich dachte nur nach. Das Ergebnis war, meine Unfähigkeit irgendeinem lebendigen Wesen, einschließlich Menschen, das Leben zu nehmen.

Also bin ich natürlich ein Todesfeind der Todesstrafe. Mit ganzem Herzen begrüßte ich ihre Abschaffung von der Knesset (bevor ich selbst ein Mitglied dieser nicht sehr erhabenen Körperschaft wurde).

Aber vor ein paar Tagen erinnerte jemand daran, dass die Todesstrafe nicht wirklich ganz abgeschafft wurde. Ein obskurer Paragraph im Militär-Kodex ist in Kraft geblieben. Jetzt gibt es einen Aufschrei für seine Anwendung.

Der Anlass ist der Mord an drei Mitgliedern einer jüdischen Familie in einer Siedlung. Der arabische Angreifer wurde verletzt, aber nicht an Ort und Stelle getötet, wie das sonst geschieht.

Die ganze Clique des rechten Flügels, die Israel jetzt regiert, brach in einen Chor von Forderungen nach der Todesstrafe aus. Benjamin Netanjahu schloss sich dem Chor an wie die meisten Mitglieder des Kabinetts.

Netanjahus Haltung ist verständlich. Er hat keine Prinzipien. Er schließt sich der Mehrheit seiner Basis an. Im Augenblick ist er tief in eine riesige Korruptionsaffäre verstrickt, die sich um die in Deutschland gebauten Unterseeboote dreht. Sein politisches Schicksal hängt an einem seidenen Faden. Da hat er keine Zeit für moralische Spitzfindigkeiten.


WENN ICH einen Augenblick lang meine früheren persönlichen geistigen Behinderungen hinsichtlich der Todesstrafe beiseite lasse und das Problem rational betrachte, zeigt sich, dass einen Menschen hinrichten ein riesiger Fehler ist.

Die Hinrichtung einer Person, die von ihrem eigenen Volk für einen Patriot gehalten wird, wird großen Zorn und einen tiefen Wunsch nach Rache auslösen. Für jede Person, die zu Tode gebracht wird, erheben sich ein Dutzend andere und übernehmen ihren Platz.

Ich spreche aus Erfahrung. Wie ich schon erwähnt habe, schloss ich mich mit knapp 15 Jahren dem Irgun an. Ein paar Wochen vorher hatten die Briten einen jungen Juden aufgehängt, Shlomo Ben-Yossef, der auf einen Bus voller Frauen und Kinder geschossen hatte, ohne jemanden zu treffen. Er war der erste Jude in Palästina, der exekutiert wurde.

Später, nachdem ich schon dem "Terrorismus" abgeschworen hatte, war ich immer noch sehr betroffen, wenn ich davon hörte, dass die Briten wieder einen jüdischen "Terroristen" gehenkt hatten. (Ich bin stolz darauf, die einzig wissenschaftlich richtige Definition von "Terrorist" erfunden zu haben: "Ein Freiheitskämpfer ist auf meiner Seite, ein Terrorist auf der anderen Seite.")


EIN ANDERES Argument gegen die Todesstrafe ist das eine, das ich anfangs in diesem Artikel beschrieb: die der Strafe innewohnende dramatische Wirkung.

Von dem Augenblick an, in dem eine Todesstrafe gefällt wird, ist die ganze Welt, nicht nur das ganze Land, darin verwickelt. Von Tel Aviv bis Tokio, von Paris bis Pretoria, erregt es Millionen von Menschen, die kein Interesse an dem israelisch-palästinensischen Konflikt haben. Das Schicksal des verurteilten Mannes beginnt, ihr Leben zu bestimmen.

Die israelischen Botschaften werden von Botschaften guter Leute überhäuft. Menschenrechtsorganisationen von überall werden involviert sein. Straßen-Demonstrationen werden in vielen Städten stattfinden und von Woche zu Woche werden es mehr.

Die israelische Besatzung des palästinensischen Volkes - bis dahin ein kleines Nachrichtenthema in Zeitungen und in TV-Nachrichten - wird der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit sein. Verleger werden Sonder-Korrespondenten schicken, Experten werden es abwägen. Einige Staatsoberhäupter werden versucht sein, sich dem Präsidenten von Israel zu nähern und um Nachsicht bitten.

Da das Datum der Exekution sich nähert, wird der Druck stärker. In Universitäten und in Kirchen wird der Aufruf zum Boykott Israels lauter. Israelische Diplomaten werden dringende Warnrufe ans Außenministerium in Jerusalem schicken. Botschaften werden ihre Anti-Terror-Vorkehrungen verstärken.

Die israelische Regierung wird in dringenden Notsitzungen zusammenkommen. Einige Minister werden den Rat geben, die Strafe umzuwandeln. Andere werden behaupten, dass dies Schwäche zeigen und zum Terror ermutigen würde. Netanjahu wird - wie gewöhnlich - unfähig sein, zu entscheiden.


ICH WEISS, diese Argumentation kann zu der falschen Schlussfolgerung führen, arabische Angreifer müssten an Ort und Stelle getötet werden.

Tatsächlich ist dies eine zweite Diskussion, die Israel im Moment auseinander reißt: der Fall von Elor Asaria, dem Soldaten und Feldsanitäter, der einen arabischen Angreifer, der auf dem Boden lag und heftig blutete, aus nächster Nähe erschoss. Ein Militärgericht verurteilte Asaria zu anderthalb Jahren Gefängnis und bestätigte die Strafe in der Berufung. Viele wollen, dass er entlassen wird. Andere, einschließlich wieder Netanjahu, wollen, dass seine Strafe umgewandelt wird.

Asaria und seine ganze Familie genießen es sehr, im Zentrum der nationalen Aufmerksamkeit zu stehen. Sie sind davon überzeugt, dass er das Richtige getan hat, entsprechend einem ungeschriebenen Diktum, dass es keinem arabischen "Terroristen" erlaubt werden sollte, am Leben zu bleiben.

Tatsächlich wurde dies vor Jahren offen vom damaligen Ministerpräsidenten Yitzhak Shamir gefordert, (der selbst als Führer der Lehi-Untergrundgruppe einer der erfolgreichsten "Terroristen" des 20. Jahrhunderts war. Dafür brauchte er nicht sehr intelligent zu sein.)


EGAL AUS welcher Ecke man dies anschaut, die Todesstrafe ist eine barbarische und stupide Maßnahme. Sie ist von allen zivilisierten Ländern abgeschafft worden, mit Ausnahme einiger US-Staaten (die man kaum zivilisiert nennen kann).

Immer, wenn ich über dieses Thema nachdenke, erinnere ich mich an die unsterblichen Zeilen von Oscar Wilde in seiner "Ballad of Reading Gaol" ("Ballade vom Zuchthaus zu Reading"). Wilde beobachte einen verurteilten Mörder, der auf seine Hinrichtung wartete, und schrieb:

"Niemals sah ich einen Mann,
Der mit solch sehnsuchtsvollen Augen
Zum kleinen Zelt der Bläue aufsah,
Das Gefangene den Himmel nennen ..."



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 05.08.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. August 2017

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