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STANDPUNKT/682: Das Ei des Kolumbus (Uri Avnery)


Das Ei des Kolumbus

von Uri Avnery, 19. August 2017


ICH WEISS nicht, wann das Rad erfunden wurde oder wer es erfunden hat.

Doch zweifle ich nicht daran, dass es immer wieder von vielen glücklichen Erfindern neu erfunden wurde, die den Ruhm teilten.

Dasselbe gilt für die israelisch-palästinensische Konföderation. Von Zeit zu Zeit erscheint sie in der Öffentlichkeit als brandneue Idee mit einer anderen Gruppe von Erfindern, die sie stolz der Öffentlichkeit präsentieren.

Dies zeigt nur, dass man eine gute Idee nicht unterdrücken kann. Sie erscheint immer wieder. Während der letzten paar Wochen ist sie in mehreren Artikeln von neuen Erfindern präsentiert worden.

Jedes Mal, wenn dies geschieht, zöge ich meinen Hut, wenn ich einen trüge - so wie Europäer es einmal taten, wenn sie einer Dame oder einem alten Bekannten begegneten.


TATSÄCHLICH schlug der UN-Teilungsplan, den die Generalversammlung am 29. November 1947 (Resolution 181) annahm, eine Art Konföderation vor, auch wenn er diesen Terminus nicht benutzte. Es heißt darin, dass die beiden durch die Resolution geschaffenen neuen Staaten - ein arabischer, ein jüdischer und Jerusalem als getrennte Einheit - in einer "Wirtschaftsunion" vereint würden.

Ein paar Tage später brach der Krieg von 1948 aus. Es war ein heftiger und grausamer Krieg, und als er Anfang 1949 endete, blieb nichts von der UN-Resolution übrig. Da gab es nur einige halbherzige Verhandlungen, die aber im Sande verliefen.

Der Krieg hatte "Fakten vor Ort" geschaffen - Israel kontrollierte erheblich mehr Land, als ihm zugewiesen worden war; Jordanien und Ägypten hatten genommen, was übrig geblieben war. Palästina hat aufgehört zu existieren, ja sogar der Name wurde von der Landkarte gelöscht. Die Hälfte des palästinensischen Volkes wurde aus ihren Häusern vertrieben.

Unmittelbar nach dem Krieg versuchte ich, eine Gruppe junger Juden, Muslime und Drusen zu bilden, die die Errichten eines palästinensischen Staates neben dem neuen Staat Israel propagieren sollte. Die Initiative hatte keinen Erfolg. Als 1954 einige Palästinenser in der Westbank gegen ihre jordanischen Herren revoltierten, veröffentlichte ich einen Aufruf an die israelische Regierung, die Schaffung eines palästinensischen Staates zu unterstützen. Er wurde ignoriert.

Drei Jahre später nahm die Idee einer israelisch-palästinensischen Föderation das erste Mal eine ernst zu nehmende Form an. Der israelische Angriff 1956 auf Ägypten, in geheimer Absprache mit Frankreich und Großbritannien, hat viele Israelis angeekelt. Mitten im Krieg erhielt ich einen Anruf von Nathan Yellin-Mor. Er schlug vor, dass wir etwas dagegen tun sollten.

Yellin-Mor war der ehemalige politische Führer von Lehi (alias Stern-Bande), der extremsten der drei Untergrund-Organisationen, die gegen die britische Herrschaft gekämpft hatten. Ich war der Eigentümer und Chef-Verleger eines populären Nachrichten-Magazins.

Wir stellten eine Gruppe auf, die sich Semitische Aktion nannte. Als ersten Schritt entschieden wir, ein Dokument zu erstellen. Nicht eines von jenen fadenscheinigen politischen Programmen, die heute veröffentlicht und morgen vergessen sind, sondern einen ernsten Plan für die Instandsetzung des Staates Israel. Dafür brauchten wir länger als ein Jahr.

Wir waren etwa 20 Leute, die meisten waren Prominente auf ihren Gebieten und wir trafen uns für unsere Beratungen mindestens einmal in der Woche. Wir verteilten die Themen unter uns. Das Thema "Frieden mit den Arabern" fiel mir zu.


DIE GRUNDLAGE des neuen Glaubensbekenntnisses war, dass wir Israelis eine neue Nation sind - nicht außerhalb des jüdischen Volkes, sondern ein Teil davon, so wie Australien eine neue Nation innerhalb der angelsächsischen Gemeinschaft war. Eine neue Nation, die von ihrer geopolitischen Lage, ihrem Klima, ihrer Kultur und ihren Traditionen geschaffen worden war.

(Diese Idee an sich war nicht ganz neu. In den frühen 40ern hatte eine Handvoll Dichter und Schriftsteller, mit dem Spitznamen die Kanaaniter, etwas Ähnliches vorgeschlagen, sie verleugneten aber jede Verbindung mit dem jüdischen Volk in aller Welt, und verleugneten auch die Existenz der arabischen Nation oder der arabischen Nationen).

Unserer Ansicht nach war die neue "hebräische" Nation ein Teil der "semitischen Region" und deshalb ein natürlicher Verbündeter der arabischen Nationen. (Wir weigerten uns kategorisch, dies "Naher Osten" zu nennen, denn das war ein eurozentrischer, imperialistischer Begriff.)

In einem Dutzend detaillierter Paragraphen skizzierten wir die Struktur einer Föderation, die aus zwei souveränen Staaten bestehen würde, aus Israel und Palästina, die verantwortlich für ihre gemeinsamen wirtschaftlichen und anderen Interessen wären. Die Bürger der beiden Staaten würden sich frei im andern Staat bewegen können; es wäre ihnen aber nicht erlaubt, im andern Staat zu siedeln.

Wir sahen voraus, dass diese Föderation zu gegebener Zeit Teil einer größeren Konföderation aller Länder der semitischen Region in Asien und Afrika werden würde.

Andere Kapitel befassten sich mit der totalen Trennung zwischen Staat und Religion, freier Einwanderung, Verbindungen mit den jüdischen Gemeinden in aller Welt und einer sozial-demokratischen Wirtschaft.

Das Dokument, das "Hebräisches Manifest" genannt, wurde veröffentlicht, bevor der Staat Israel zehn Jahre alt war.


CHRISTOPHER KOLUMBUS, der Mann, der Amerika "entdeckte", wurde gefragt, wie man ein Ei zum Stehen bringen könnte. Er klopfte das eine Ende des Eies auf den Tisch und - siehe da! - es stand.

Seit damals ist das "Ei des Kolumbus" in vielen Sprachen sprichwörtlich geworden, auch im Hebräischen. Die Idee einer Föderation in Palästina ist solch ein Ei. Es verbindet zwei Prinzipien: Zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan würde es nur ein einziges Land geben und sowohl Israelis als auch Palästinenser hätten ihren eigenen unabhängigen Staat.

Das "Ganze Land Israel" und das "Ganze Palästina" sind Slogans des rechten Flügels. Die "Zwei-Staaten-Lösung" stammt vom linken Flügel.

In dieser Debatte werden "Föderation" und "Konföderation" oft gleichbedeutend verwendet. Und tatsächlich kennt fast niemand den Unterschied.

Man stimmt im Allgemeinen darin überein, dass in einer Föderation, die zentrale Autorität mehr Macht hat, während in einer "Konföderation" mehr Macht auf die Teil-Einheiten übertragen wird. Aber das ist eine vage Unterscheidung.

Im amerikanischen Bürgerkrieg kämpften die in der "Konföderation" vereinigten Südstaaten, die auf vielen Gebieten (darunter das Gebiet der Sklavenhaltung) die Rechte der einzelnen Staaten beibehalten wollten, gegen die Föderation der Nordstaaten, die wollten, dass die Zentralregierung die meisten der wichtigsten Zuständigkeiten behalten sollte.

Die Welt ist voller Föderationen und Konföderationen. Die Vereinigten Staaten, die Russische Föderation, die Konföderation Schweiz, das Vereinigte Königreich, die Bundesrepublik Deutschland (offizielle Übersetzung Federal Republik Germany) u.s.w.

Unter ihnen gibt es keine zwei, die sich komplett ähneln. Staaten unterscheiden sich voneinander ebenso stark wie Menschen. Jeder Staat ist das Produkt seiner Geographie, des besonderen Charakters seiner Bewohner, seiner Geschichte, seiner Kriege, seiner Vorlieben und Feindschaften.

Mitglieder einer Föderation müssen sich nicht lieben. In der letzten Woche wurde auf seltsame Weise in einer Stadt im Süden der USA der amerikanische Bürgerkrieg am Fuße der Statue eines Generals der Südstaaten erneut ausgefochten. Die Bayern haben keine große Vorliebe für die Preußen in Norddeutschland. Viele Schotten würden gern die verdammten Engländer los werden, ebenso wie viele Bewohner Quebecs Kanada loswerden wollen. Aber die gemeinsamen Interessen sind stark und haben oft Vorrang.

Wenn es keine Liebesheirat ist, so ist es wenigstens eine Vernunftehe.

Der technische Fortschritt und die Anforderungen der modernen Wirtschaft treiben die Welt zu immer größeren Einheiten zusammen. Die viel geschmähte "Globalisierung" ist eine globale Notwendigkeit. Leute, die heute in Amerika die Fahne der Südstaaten oder die Hakenkreuzfahne schwenken, sind lächerlich.

Eines künftigen Tages werden die Leute sie ebenso bemitleiden, wie sie heute die Maschinenstürmer bemitleiden, die die Maschinen zu Beginn des industriellen Zeitalters zerstörten.



ZURÜCK ZU uns.

Die Idee einer Föderation oder Konföderation von Israel/Palästina mag einfach klingen, ist es aber nicht. Es gibt viele Hindernisse.

Als erstes gibt es große Unterschiede im Lebensstandard der beiden Völker. Die reiche Welt müßte die Palästinenser massiv unterstützen.

Der historische Hass zwischen den beiden Völkern, der weder 1967 noch 1948 entstand, sondern im Jahre 1882 seinen Anfang nahm, muss überwunden werden. Das ist keine Aufgabe für Politiker, sondern für Schriftsteller und Dichter, Historiker und Philosophen, Musiker und Tänzer.

Dies sieht wie eine hoffnungslose Mission aus, aber ich bin fest davon überzeugt, dass es leichter ist, als es aussieht. In Israels Krankenhäusern (Ärzte und Krankenpfleger), in den Universitäten (Professoren und Studenten) und natürlich bei gemeinsamen Demonstrationen gibt es Brücken zwischen beiden Völkern.

Allein die Tatsache, dass die Idee der Föderation immer wieder auftaucht, beweist ihre Notwendigkeit. Die Gruppe der Aktivisten, die sie jetzt aufbringt, war noch nicht geboren, als wir die Idee zum ersten Mal vorschlugen - doch ihre Botschaft klingt neu und frisch.

Möge ihre Sache gedeihen!



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 19.08.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. August 2017

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