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STANDPUNKT/688: Ein Bekenntnis (Uri Avnery)


Ein Bekenntnis

von Uri Avnery, 9. September 2017


HEUTE IST der letzte Tag meines 93. Lebensjahres. Lächerlich.

Bin ich einigermaßen mit meinem bisherigen Leben zufrieden? Ja.

Wenn ich durch ein Wunder wieder, sagen wir, 14 sein und den ganzen langen Weg noch einmal gehen könnte, würde ich das gerne tun? Nein, das würde ich nicht.

Genug ist genug.



IN DIESEN 93 Jahren hat sich die Welt völlig verändert.

Ein paar Tage nach meiner Geburt in Deutschland unternahm ein kleiner Demagoge namens Adolf Hitler in München einen Putschversuch. Er kam ins Gefängnis, wo er ein langweiliges Buch schrieb: Mein Kampf. Niemand nahm Notiz davon.

Der Weltkrieg (noch niemand nannte ihn den Ersten Weltkrieg) war noch in Erinnerung. Fast jede Familie hatte mindestens ein Mitglied verloren. Mir wurde gesagt, dass ein entfernter Onkel von mir an der österreichisch-italienischen Front erfroren ist.

Am Tag meiner Geburt wütete in Deutschland die Inflation. Meine Geburt kostete viele Millionen Mark. Viele Leute verloren alles, was sie hatten. Mein Vater, ein junger Bankier, wurde reich. Er verstand, wie Geld arbeitet. Ich habe sein Talent weder geerbt noch habe ich es mir gewünscht.

Wir hatten ein Telefon zu Hause, das war eine Seltenheit. Mein Vater liebte neue Apparate. Als ich drei oder vier Jahre alt war, erhielten wir eine neue Erfindung, ein Radio. Vom Fernsehen träumte damals natürlich noch niemand, ganz zu schweigen vom Internet.

Wir waren nicht religiös. Wir zündeten die Chanukka-Kerzen an, fasteten an Yom Kippur und aßen an Pesach Matzot. Hätten wir es aufgegeben, hätte dies den Antisemiten gegenüber wie Feigheit ausgesehen. Aber es hatte für uns keine wirkliche Bedeutung.


MEIN VATER war ein Zionist. Als er meine Mutter, eine hübsche, junge Sekretärin, heiratete, war eines der Hochzeitsgeschenke ein gedrucktes Dokument, das angab, dass in Palästina im Namen des Hochzeitpaares ein Baum gepflanzt worden sei.

Zu jener Zeit waren die Zionisten unter den Juden in Deutschland (und anderswo) eine winzige Minderheit. Die meisten Juden dachten, dass sie ein bisschen verrückt waren. Ein gängiger Witz lautete, dass ein Zionist ein Jude war, der einem zweiten Juden Geld gab, um einen dritten Juden nach Palästina zu schicken.

Warum wurde mein Vater Zionist? Er träumte gewiss nicht davon, selbst nach Palästina zu gehen. Seine Familie hatte seit vielen Generationen in Deutschland gelebt. Da er in der Schule Latein und Alt-Griechisch gelernt hatte, glaubte er, dass unsere Familie mit Julius Caesar nach Deutschland gekommen war. Deshalb waren wir in einer kleinen Stadt (deren Namen ich vergessen habe) am Ufer des Rheins verwurzelt.

Wie war das mit seinem Zionismus? Mein Vater war ein Querkopf. Er mochte nicht mit der Herde laufen. Es passte zu ihm, zu einer abgeschiedenen kleinen Gruppe zu gehören, zu den Zionisten.

Diese Marotte meines Vaters rettete wahrscheinlich mein Leben. Als die Nazis an die Macht kamen - ich war gerade neun Jahre alt - entschied mein Vater unmittelbar, nach Palästina auszuwandern. Meine Mutter erzählte mir viel später, dass der Auslöser ein junger Deutscher war, der im Gericht zu meinem Vater sagte: "Herr Ostermann, wir brauchen Juden wie Sie nicht mehr!"

Mein Vater war tief gekränkt. Zu jener Zeit war er ein vom Gericht ernannter hoch angesehener Treuhänder, jemand, der sich mit Konkursfällen befasste und wegen seiner Ehrlichkeit bekannt war. Seit Jahren wütete in Deutschland eine schreckliche Wirtschaftskrise und Bankrottfälle gab es viele. Dies half dem Demagogen mit Namen Hitler auf dem Weg zur Macht - er schrie: "Nieder mit den Juden!"

Ich war ein Augenzeuge des Sieges der Nazis. Überall auf den Straßen sah man Braunhemden. Sie waren nicht allein. Jede größere Partei hatte eine private Armee, die Uniform trug. Da gab es die Rote Front der Kommunisten, die Schwarz-rot-goldene Fahne der Sozialdemokraten, der Stahlhelm der Konservativen und andere. Als die Zeit kam, hob keiner von ihnen einen Finger.

Ich war niemals im Kindergarten und wurde mit fünfeinhalb Jahren zur Schule geschickt. Im Alter von neuneinhalb kam ich ins Gymnasium, wo ich begann, Latein zu lernen. Ich war in einer zionistischen Jugendbewegung. Ein halbes Jahr später tat ich einen tiefen Seufzer der Erleichterung, als der Zug uns über den Rhein nach Frankreich brachte, nachdem vor etwa 2000 Jahren - der Familienlegende nach - meine Vorfahren den Rhein in umgekehrter Richtung überquert hatten.

Viele Jahre lang habe ich die Erinnerung an die ersten Jahre meines Lebens unterdrückt. Mein Leben begann, als ich auf dem Deck eines Schiffes stand und im frühen Tageslicht ein dünner brauner Streifen Land im Osten erschien. Ich war zehn Jahre und zwei Monate alt. Und es war der Beginn meines neuen Lebens.


OH WELCHE Glückseligkeit! Ein großes Boot mit einem riesigen, dunklen Bootsmann brachte uns vom Schiff an die Küste von Jaffa. Was für ein mysteriöser, zauberhafter Ort! Voller Leute, die eine fremde kehlige Sprache redeten und wild gestikulierten. Überall der wunderbare Geruch eines Marktes mit exotischen Früchten und von Pferden gezogene Wagen auf den Straßen.

Ich erwähne diese ersten Eindrücke, weil ich sie später in der Biographie von David Ben-Gurion las, der ein paar Jahre vor mir am selben Ort angekommen war. Was für ein schrecklicher Ort! Was für eine kehlige Sprache! Was für barbarische Gesten! Was für widerliche Gerüche!


ICH LIEBTE dieses Land vom ersten Augenblick an und ich liebe es noch immer, obwohl es sich so verändert hat, dass es nicht wieder zu erkennen ist. Ich kann mir nicht vorstellen, wo anders zu leben.

Leute fragen mich noch immer, ob ich ein "Zionist" sei. Ich antworte, dass ich nicht wüsste, was "Zionismus" heute bedeutet. Meiner Meinung nach starb der Zionismus einen natürlichen Tod, als der Staat Israel geboren wurde. Jetzt haben wir eine israelische Nation, eng verbunden mit dem jüdischen Volk überall auf der Welt - doch trotz allem eine neue Nation mit seiner eigenen geopolitischen Umgebung, mit seinen eigenen Problemen. Wir sind mit dem Weltjudentum verbunden, etwa wie Australien oder Kanada mit Großbritannien.

Dies ist für mich so klar, dass ich die endlosen Debatten über den Zionismus kaum verstehen kann. Für mich sind diese Debatten ohne wirklichen, ehrlichen Inhalt.

In gleicher Weise sind die endlosen Debatten über "die Araber", Debatten, die weder real noch ehrlich sind. Die Araber waren hier, als wir ankamen. Ich habe gerade beschrieben, was ich ihnen gegenüber empfand. Ich glaube noch immer, dass die frühen Zionisten einen schrecklichen Fehler begangen haben, als sie nicht versuchten, ihre Sehnsüchte und Wünsche mit den Hoffnungen der palästinensischen Bevölkerung zu verbinden. Die Realpolitik riet ihnen, sich stattdessen mit ihren türkischen Unterdrückern zusammenzutun. Traurig.

Die beste Beschreibung des Konfliktes wurde vom Historiker Isaak Deutscher gegeben: Ein Mann, der in einer der oberen Etagen eines Hauses lebt, das in Brand geraten ist, springt aus Verzweiflung aus dem Fenster und landet unten auf einem Passanten. Dieser ist schwer verletzt und wird zum Invaliden. Zwischen den beiden bricht ein tödlicher Streit aus. Wer hat Recht?

Das ist keine exakte Parallele, aber ähnlich genug, um sich darüber Gedanken zu machen.

Religion hat nichts damit zu tun. Das Judentum und der Islam sind nahe verwandt, sie sind viel näher miteinander verwandt als mit dem Christentum. Das Schlagwort "judeo-christlich" ist falsch, es ist eine Erfindung von Ignoranten. Wenn unser Konflikt sich in einen religiösen verwandelt, wäre das eine tragische Fehlentwicklung.

Ich bin ein vollkommener Atheist. Im Prinzip respektiere ich die Religion anderer, aber - offen gesagt - kann ich ihre Überzeugungen nicht einmal ansatzweise verstehen. Sie erscheinen mir wie anachronistische Überbleibsel aus einem primitiven Zeitalter. Tut mir leid.


ICH BIN von Natur aus ein Optimist, selbst wenn mein analytischer Verstand mir etwas anderes erzählt. Ich habe in meinem Leben so viele völlig unerwartete Dinge gesehen, gute wie schlechte, dass ich nicht glaube, dass etwas geschehen "muss".

Doch wenn ich die täglichen Nachrichten sehe, könnte ich zaudern. So viele dumme Kriege in aller Welt. So viel furchtbares Leid, das so vielen Unschuldigen angetan wird. Einige im Namen Gottes, einige im Namen der Rasse, einige im Namen der Demokratie. So dumm! So unnötig! Und das im Jahr 2017!

Die Zukunft meines eigenen Landes erfüllt mich mit Angst. Der Konflikt scheint endlos zu sein, ohne eine Lösung. Für mich aber liegt die Lösung sehr nahe, tatsächlich so nahe, dass es für mich sogar schwierig ist, zu verstehen, wie irgendjemand, der bei Verstand ist, vermeiden kann, sie zu sehen.

Wir haben hier zwei Nationen - Israelis und Palästinenser. Zahllose historische Beispiele zeigen uns, dass sie nicht in einem Staat zusammenleben können. Also müssen sie in zwei Staaten zusammenleben - "zusammen", weil beide Völker eine enge Zusammenarbeit benötigen, mit offenen Grenzen und einigen politischen Überbauten. Vielleicht so etwas wie eine freiwillige Konföderation. Und später so etwas wie eine Union der ganzen Region.

Alles das in einer Welt, die durch moderne Realitäten gezwungen ist, sich immer mehr zusammenzuschließen, und die sich in Richtung auf etwas wie eine Weltregierung zubewegt.

Ich werde das alles nicht mehr erleben, aber am Vorabend meines 94. Lebensjahres (ist doch eine schöne Zahl) sehe ich es schon vor meinem geistigen Auge.

Mir ist klar, wie viel Glück ich gehabt habe. Ich wurde in eine glückliche Familie als letztes von vier Kindern geboren. Wir verließen rechtzeitig Nazi-Deutschland. Ich war Mitglied einer Untergrund-Organisation, wurde aber niemals erwischt und gefoltert wie so viele meiner Kameraden. Ich wurde im 1948er-Krieg schwer verletzt, erholte mich aber völlig. Ich erlebte einen Mordanschlag. Doch der Angreifer verfehlte mein Herz nur um wenige Zentimeter. Ich war 40 Jahre lang der Verleger einer bedeutenden Wochenzeitschrift. Ich wurde dreimal in die Knesset gewählt. Ich war der erste Israeli, der sich mit Yasser Arafat traf. Ich habe an Hunderten von Friedensdemonstrationen teilgenommen und wurde niemals verhaftet. Ich war 59 Jahre lang mit einer wunderbaren Frau verheiratet gewesen. Ich bin halbwegs gesund. Danke.



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 09.09.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. September 2017

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