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STANDPUNKT/789: Wer zum Kuckuck sind wir? (Uri Avnery)


Wer zum Kuckuck sind wir?

von Uri Avnery, 4. August 2018


VOR JAHREN hatte ich eine freundliche Diskussion mit Ariel Sharon.

Ich sagte zu ihm: "Als erstes bin ich ein Israeli. Danach bin ich ein Jude."

Er antwortete hitzig: "Ich bin zuerst ein Jude und erst danach ein Israeli."

Das mag wie eine abstrakte Debatte aussehen. Aber in Wirklichkeit ist dies die Frage, die im Herzen aller Grundprobleme liegt. Es ist der Kern der Krise, die Israel jetzt auseinanderreißt.


DIE UNMITTELBARE Ursache dieser Krise ist das Gesetz, das letzte Woche von der rechten Mehrheit in der Knesset in aller Eile verabschiedet wurde. Es hat den Titel: "Grund-Gesetz: Israel ist der Nationalstaat des jüdischen Volkes".

Dies ist ein Verfassungsgesetz. Als Israel im Krieg von 1948 gegründet wurde, nahm es noch keine Verfassung an. Es gab ein Problem mit der orthodoxen religiösen Gemeinschaft, die eine übereinstimmende Formel unmöglich machte. Stattdessen verlas David Ben-Gurion eine "Unabhängigkeitserklärung", die verkündete, dass "wir den jüdischen Staat gegründet haben, nämlich den Staat Israel."

Die Erklärung ist nicht zum Gesetz geworden. Der Oberste Gerichtshof nahm seine Prinzipien ohne eine rechtliche Basis an. Das neue Dokument ist jedoch ein bindendes Gesetz.

Was ist also neu an dem neuen Gesetz, das auf den ersten Blick wie eine Kopie der Erklärung aussieht? Es enthält zwei bedeutende Auslassungen: Die Erklärung sprach über einen "Jüdischen und Demokratischen Staat" und versprach all seinen Bürgern vollkommene Gleichberechtigung ohne Rücksicht auf die Religion, die Ethnizität und das Geschlecht.

All dies ist in dem neuen Gesetz verschwunden. Keine Demokratie. Keine Gleichberechtigung. Ein Staat der Juden, für die Juden, von den Juden.



DIE ERSTEN, die aufschrien, waren die Drusen.

Die Drusen sind eine kleine, aber starke Minderheit. Sie schicken ihre Söhne in die israelische Armee und Polizei. Sie betrachten sich selbst als "Blutsbrüder". Plötzlich waren sie all ihrer legalen Rechte und ihres Zugehörigkeitsgefühls beraubt.

Sind sie Araber oder nicht? Muslime oder nicht? Das hängt davon ab, wer wo zu welchem Zweck spricht. Sie drohen mit Demonstrationen, damit, die Armee zu verlassen und allgemein zu rebellieren. Benjamin Netanjahu versuchte, sie zu bestechen, aber sie sind eine stolze Gemeinschaft.

Doch die Drusen sind nicht das Hauptproblem. Das neue Gesetz ignoriert vollkommen die 1,8 Millionen Araber, die israelische Bürger sind, einschließlich der Beduinen und der Christen. (Keiner denkt über die hundert Tausende europäischer Christen nach, die mit ihren jüdischen Ehemännern und andern Verwandten hauptsächlich aus Russland einwanderten.)

Die arabische Sprache mit all ihrer Pracht, die bis jetzt eine der beiden offiziellen Sprachen war, wurde zu einem "besonderen Status" degradiert, was immer das bedeuten mag.

(Alles das bezieht sich auf das eigentliche Israel, nicht auf die etwa fünf Millionen Araber in der besetzten Westbank und im Gazastreifen, die überhaupt keine Rechte haben.)

Netanjahu verteidigt dieses Gesetz wie ein Löwe gegen zunehmende Kritik von innen. Er hat öffentlich erklärt, dass alle jüdischen Kritiker des Gesetzes Linke sind oder Verräter (Synonym), die vergessen haben, was es bedeutet, Jüdisch zu sein.



UND DAS ist wirklich der Punkt.

Vor Jahren haben meine Freunde und ich das Oberste Gericht aufgefordert, die Eintragung der Nationalität auf unsern Identitätskarten zu ändern und zwar von "jüdisch" zu "israelisch". Das Gericht weigerte sich und behauptete, es gäbe keine israelische Nation. Das offizielle Register erkennt fast hundert Nationen an aber keine israelische.

Diese kuriose Situation begann mit der Geburt des Zionismus im späten 19. Jahrhundert. Es war eine jüdische Bewegung, dafür bestimmt, die jüdische Frage zu lösen. Die Siedler in Palästina waren jüdisch. Das ganze Projekt war eng mit der religiösen Tradition verknüpft.

Aber als eine zweite Generation von Siedlern aufwuchs, fühlten sie sich unbehaglich, wenn sie nur einfach Juden - wie Juden in Brooklyn oder Krakau - sein sollten. Sie empfanden sich als etwas Neues, Anderes, Spezielles.

Die Extremsten waren eine kleine Gruppe junger Dichter und Künstler, die 1941 eine Organisation bildeten mit dem Spitznamen "Kanaaniter", die behaupteten, wir seien eine neue hebräische Nation. In ihrer Begeisterung gingen sie ins Extreme und erklärten, dass sie nichts mit Juden im Ausland zu tun hätten und dass es keine arabische Nation gäbe - die Araber wären nur Hebräer, die den Islam angenommen hätten.

Dann kamen die Nachrichten vom Holocaust; die Kanaaniter wurden vergessen und jeder wurde ein reuiger Super-Jude.

Aber nicht wirklich. Ohne dass wir viel nachdachten, machte meine Generation in ihrer Umgangssprache einen deutlichen Unterschied: die jüdische Diaspora und hebräische Landwirtschaft, jüdische Geschichte und hebräische Bataillone, jüdische Religion und hebräische Sprache.

Als die Briten hier waren, habe ich an Dutzenden von Demonstrationen teilgenommen; wir hatten geschrien "freie Einwanderung! Hebräischer Staat!. Ich kann mich an keine einzige Demo erinnern, bei der jemand "jüdischer Staat" schrie.

Warum spricht die Unabhängigkeits-Erklärung von einem "Jüdischen Staat"? Das ist einfach: Es war eine Anspielung auf die UN-Resolution, die die Teilung Palästinas verordnete: einen arabischen und einen jüdischen Staat. Die Gründer erklärten einfach, dass sie jetzt diesen jüdischen Staat aufbauten.

Wladimir Jabotinsky, der legendäre Vorfahre des Likud schrieb eine Hymne, in der es hieß: "Ein Hebräer ist der Sohn eines Prinzen."


TATSÄCHLICH IST das ein natürlicher Prozess. Eine Nation ist eine territoriale Einheit. Sie ist bedingt durch ihre Landschaft, das Klima, die Geschichte, die Nachbarn.

Als die Briten in Amerika siedelten, fühlten sie nach einiger Zeit, dass sie anders waren, als die Briten, die sie hinter sich auf ihrer Insel zurückgelassen hatten. Sie wurden Amerikaner. Die britischen Sträflinge, die in den fernen Osten geschickt wurden, wurden Australier. In zwei Weltkriegen eilten die Australier zur Rettung der Briten, aber sie sind keine Briten. Sie sind eine stolze neue Nation. So war es mit den Kanadiern, den Neu-Seeländern und den Argentiniern. Und so war es mit uns.

Oder wäre es gewesen, wenn eine offizielle Ideologie es erlaubt hätte. Was ist geschehen?

Zunächst gab es die riesige Einwanderungswelle aus der arabischen Welt und aus Ost-Europa in den frühen Fünfzigern. Auf jeden einzelnen Hebräer kamen zwei, drei, vier neue Immigranten, die sich selbst als Juden ansahen.

Dann gab es den Bedarf an Geld und politischer Unterstützung von den Juden im Ausland, besonders aus den USA. Während die sich als wahre Amerikaner betrachteten (versuche ja nicht, dem zu widersprechen, du verfluchter Antisemit) waren sie dennoch froh, irgendwo einen jüdischen Staat zu haben.

Und dann gab es (und gibt es) eine rigorose Regierungs-Politik der Judaisierung von allem und jeden. Die gegenwärtige Regierung hat in dieser Hinsicht neue Höhen erklommen. In aktiven - ja geradezu fanatischen - Regierungsaktionen wird versucht, alles zu judaisieren: die Bildung, die Kultur, sogar den Sport. Orthodoxe Juden, eine kleine Minderheit in Israel, üben einen enormen Einfluss aus. Ihre Stimmen in der Knesset entscheiden über Netanjahus Regierung.


ALS DER Staat Israel gegründet wurde, wurde der Terminus Hebräisch gegen den Terminus Israelisch ausgewechselt. Hebräisch ist jetzt nur eine Sprache.

Gibt es eine israelische Nation? Natürlich. Gibt es eine jüdische Nation? Natürlich nicht.

Juden sind Mitglieder eines ethnisch-religiösen Volkes, das über die ganze Welt zerstreut ist, sie gehören zu vielen Nationen mit einem starken Gefühl der Zugehörigkeit zu Israel. Wir, die wir hier im Land leben, gehören zur israelischen Nation, die auch ein Teil des jüdischen Volkes ist.

Es ist wichtig, dass wir dies anerkennen. Es entscheidet über unsere Blickrichtung. Buchstäblich. Schauen wir in Richtung der jüdischen Zentren in New York, London, Paris und Berlin oder schauen wir in Richtung unserer Nachbarn in Damaskus, Beirut und Kairo? Sind wir ein Teil einer Region, die von Arabern bewohnt ist? Realisieren wir, dass Friedenschließen mit den Arabern und besonders den Palästinensern die Hauptaufgabe dieser Generation ist?

Wir sind keine vorläufigen Bewohner dieses Landes, die jeden Moment bereit sind, zu gehen und sich unsern Brüdern, den Juden rund um den Globus anzuschließen. Wir gehören zu diesem Land und wir werden hier noch viele Generationen leben und deshalb müssen wir friedliche Nachbarn dieser Region werden, die ich vor 75 Jahren "die Semitische Region" nannte.

Das neue Nationen-Gesetz zeigt uns eben durch seine halbfaschistische Natur, wie dringlich diese Debatte ist. Wir müssen uns entscheiden, wer wir sind, was wir wollen, wohin wir gehören. Sonst werden wir zu einem vorübergehenden Staat verurteilt werden.



Copyright 2018 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 04.08.2018
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. August 2018

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