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STANDPUNKT/854: Die "Nichtregierung" - Konkordanzsystem und Direkte Demokratie als Modell für die EU? (Karl-Martin Hentschel)


Gedanken zur Zukunft der Demokratie und der EU Nr. 1

Die "Nichtregierung"
Konkordanzsystem und Direkte Demokratie - ein Modell für die EU?

von Karl-Martin Hentschel, 18. März 2019


"Das stabilste Land der Welt hat keine Regierung. Und es ist nicht stabil, obwohl, sondern weil es keine Regierung hat. ... Menschen auf der Straße, denen Sie zufällig begegnen ... (wissen) den Namen der Präsidenten von Frankreich oder der USA, ... nicht aber den ihres eigenen Landes." Nassim Taleb [1]

Mit dem "stabilsten Land der Welt", von dem Nassim Taleb spricht, meint er natürlich die Schweiz. Ihre Bilanz lässt sich trotz vieler berechtigter Kritikpunkte sehen: In 170 Jahren ohne Beteiligung an einem Krieg entwickelte sie sich zu einem der reichsten, sozialsten und umweltbewusstesten Staaten. Ein Highlight stellt für mich immer noch das Rentensystem dar, eines der besten der Welt für untere Einkommen und auch für die 25 Prozent Ausländer! Vor allem aber stehen die Schweizer hinter ihrer Demokratie und sind davon überzeugt, dass sie - das Volk - das Sagen haben. Können wir davon etwas lernen, oder handelt es sich um eine besondere Mentalität eines kleinen Bergvolkes, die nicht auf andere Länder oder gar die EU übertragbar ist?


Die Nichtregierung

Es stimmt tatsächlich: Die Schweiz hat wirklich keine Regierung - zumindest nicht das, was man im üblichen Sinne darunter versteht - nämlich ein Gremium, das das Land in die eine oder andere Richtung lenkt. Da fragt man natürlich, wie das funktionieren kann. Die Antwort ist einfach und verblüffend: An der Spitze der Exekutive - also der Ministerien - steht ein siebenköpfiger kollegialer Verwaltungsrat, der Bundesrat. Er entstand in der Tradition des Direktoriums der französischen Revolution - hat sich aber in eine deutlich andere Richtung entwickelt. Denn seit 1943 wird er von allen größeren und mittleren Parteien gemeinsam zusammengesetzt und entscheidet stets im Konsens. Diese Konstruktion nennt man "Konkordanzdemokratie".

Der Bundesrat verwaltet also die Schweiz parteipolitisch neutral und konsensual. Die politische Richtung jedoch wird vom Parlament und dem Volk in Volksentscheiden vorgegeben. Erstaunlicherweise genießt diese Nichtregierung ein im internationalen Vergleich einmalig hohes Vertrauen bei den Bürgern. Zugleich entwickeln sich daraus völlig andere Rollen und Verhaltensweisen des Parlamentes, der Fraktionen und der Parteien.


Ein Modell für Europa?

Wie komme ich darauf, dass dies ein geeignetes Modell für die EU sein könnte? Einige Ähnlichkeiten drängen sich auf: Europa ist ein extrem vielfältiger Erdteil. Tatsächlich haben weder Europa oder die EU noch die Schweiz ein Staatsvolk. Vor ihrer Gründung von 170 Jahren bestand die Schweiz aus drei Monarchien, sechs Landsgemeinden (mit einer direkten Demokratie der Grundbesitzer), sieben Patriziaten (Herrschaft des Stadtadels - also der alten Kaufmannsfamilien), vier Zunftverfassungen (Herrschaft der selbständigen Handwerker), zwei Föderationen (bestehend aus mehreren autonomen Gemeinden) und einer Reihe von Untertanengebieten (von Städten fremdregiert ohne eigene Rechte). Dazu gab es vier verschiedene Sprachen und zwei Religionen, die sich mehr hassten als heute Juden und Moslems - der letzte Schweizer Religionskrieg von 1847 war noch frisch in Erinnerung. Heute werden in Europa über 250 Muttersprachen gesprochen (davon ein Drittel durch Migranten) und es gibt 24 EU-Amtssprachen, in die alle nach außen wirksamen Dokumente von Parlament und Kommission übersetzt werden müssen.

Sollte die EU tatsächlich eine gemeinsame demokratische Verfassung bekommen, dann wäre eine Mehrheitsregierung geradezu gefährlich. So wie in der Schweiz die Deutschschweizer niemals akzeptieren würden, dass die romanischen Kantone dominieren, dass die Katholiken die Mehrheit in der Regierung stellten, dass die Städter Vorschriften für die Bauern in den Bergen machten, so würde auch in der EU niemand eine Dominanz der Westeuropäer, der Südeuropäer, der Katholiken und so weiter akzeptieren. Bei einer Mehrheitsregierung könnte Osteuropa in Opposition zu einer westlich geprägten Regierung treten, Südeuropa könnte in Opposition zu einer nördlich geprägten Regierung geraten. Und eine gemeinsame Mehrheitsbildung des Südens und Ostens gegen Deutschland würde erst recht massive Verwerfungen hervorrufen.


Die neue Rolle des Parlaments und der Parteien

Dieses Problem kann auch nicht durch eine Direktwahl des Präsidenten gelöst werden, wie Ulrike Guérot, eine bekannte Vorkämpferin für eine europäische Verfassung, es vorschlägt. Es ist interessant, dass ausgerechnet Parag Khanna, ehemals enger Vertrauter und außenpolitischer Berater von Präsident Obama, die Direktwahl des Präsidenten für den größten Fehler der US-Verfassung hält, da sie das Land spaltet und die politische Debatte personalisiert. Schon Rousseau lehnte sie ab als "Wahlkönigtum".

Das Konkordanzsystem führt auch zurück zu einer echten Gewaltenteilung. Heute werden im Bundestag mehr Gesetze von der Regierung als von den Abgeordneten vorgelegt. Und die Mehrheit der Abgeordneten, die "Regierungskoalition", ist auf Gedeih und Verderben verpflichtet, immer für die Regierung zu stimmen. Umgekehrt stimmt die Opposition oft aus Prinzip dagegen. Diese "Verschränkung" von Legislative und Exekutive und der sich daraus ergebende Fraktionszwang tun dem Parlament nicht gut und beschädigen auch das Ansehen der Abgeordneten.

Eine Konsensdemokratie mit einem Kollegialrat als Leitung der Exekutive würde dagegen die offene Atmosphäre im EU-Parlament erhalten, die von Beobachtern oft gelobt wird und die keinen Fraktionszwang kennt. Hätte ein solcher Kollegialrat der EU 15 Mitglieder, dann säßen nach der heutigen Zusammensetzung des Europaparlaments im Kollegialrat vier Vertreter*innen der Europäischen Volkspartei (mit CDU/CSU), drei der Sozialdemokraten, zwei der Liberalen, zwei der Konservativen (darunter ein englischer Tory), eine der Linken, eine der Grünen, eine der Populisten und eine der Nationalisten. Diese fünfzehn Kollegialräte müssten sich auf eine gemeinsame Staatsverwaltung verständigen und vor allem die Gesetze des Parlamentes umsetzen. Unvorstellbar? Ich denke nein: Es wäre vielleicht sogar eine große Chance, Vertrauen in die Politik aufzubauen anstatt die Völker Europas zu spalten. Die politischen Debatten würden dann zu Sachdebatten im Parlament werden.

Parteien sind im Konkordanzsystem auch keine Machtapparate mehr wie in Deutschland. Es gibt ja keine Koalitionen. Die lautstarken Politiker würden eher nicht mehr in die Regierung gehen - weil sie sich dort gar nicht profilieren könnten. Sie säßen im Parlament - also da, wo die politischen Debatten auch hingehören. Und dort gäbe es keine Koalitionszwänge und auch keinen Fraktionszwang, sondern nur noch Abgeordnete und Parteien, die für ihre politischen Ziel werben.

Dieser Effekt könnte natürlich noch verstärkt werden, wenn auch in der EU Volksentscheide möglich werden und so politische Debatten quer durch ganz Europa über die Zukunft des Kontinents angestoßen werden können. Dann fokussieren sich die öffentlichen Debatten und die Berichterstattung in den Medien zum Einen auf das Parlament (die Legislative) und zum Zweiten auf die Volksinitiativen und Referenden - also die Direkte Demokratie. Dadurch bekommen die Debatten in der Zivilgesellschaft und den Nichtregierungsorganisationen viel mehr Gewicht. Denn diese sind nicht nur unwichtige Zuschauer und kommentierende Beobachter und Kritiker, sondern sie sind direkt handelnde Subjekte in der Demokratie.


Das Problem Bouteflika

Kann das Konkordanzsystem auch ein Vorbild für andere Demokratien sein? Heute las ich eine kluge Analyse der Situation in Algerien. Warum wollte ein großer Teil der politischen Elite, dass der Patriarch Bouteflika erneut als Präsident kandidieren sollte? Schließlich sitzt er mit 82 Jahren nach mehreren Schlaganfällen im Rollstuhl und kann kaum noch sprechen. Sein Regime galt als korrupt, autoritär und extrem unpopulär, wenn nicht verhasst. Warum also hielten linke Militärs, gemäßigte Islamisten, kluge Intellektuelle und korrupte Wirtschaftslobbyisten an ihm fest?

Sie alle eint nur eines: Sie haben Angst vor der Zeit nach Bouteflika. Denn vor seinem Regierungsantritt herrschte ein grausamer Bürgerkrieg. Und seine zahlreichen Gegner reichen von radikalen Islamisten bis zu radikalen Demokraten und Sozialisten. Deshalb sind sie heillos zerstritten. Daher fürchten viele Gemäßigten einen erneuten Bürgerkrieg oder gar eine Entwicklung wie in Syrien, Afghanistan oder Ägypten. Dieses Phänomen "Bouteflika" ist keine Ausnahme. Die TAZ berichtete über linke junge Intellektuelle in Kasachstan. Sie hoffen, dass der Diktator Nasarbajew, der seit 25 Jahren das Land beherrscht und sich dabei gnadenlos bereichert hat, noch lange weiter macht. Denn sie fürchten nach seinem Tod antirussischen Nationalismus und muslimischen Fundamentalismus.

Gerade in solchen zugespitzten politischen Situationen wäre das Modell einer demokratisch gewählten Konsensregierung eine funktionierende Alternative. Ihre Stärke besteht darin, dass sie die radikalen Flügel aller Richtungen automatisch mit einbezieht - sie aber auch zum Konsens zwingt. Sie hälfe vielleicht dabei, zu rationalen Debatten überzugehen und die absurde Verteufelung der politischen Gegner zu vermeiden. Sie leidet daher nicht unter dem Problem von großen Koalitionen der Mitte, die regelmäßig zu einer Radikalisierung der Flügel führen.


Sicherheit und Handlungsfähigkeit

Nach den Analysen der Zeitschrift Economist sind die effizientesten Regierungen regelmäßig die der Schweiz mit ihrem Konsensmodell und die Skandinaviens, wo Minderheitsregierungen Tradition haben. Nicht die scheinbar starken direkt gewählten Präsidenten sind stark und handlungsfähig, sondern die Regierungen, die einen breiten Konsens in der Gesellschaft repräsentieren. Sie sind stark, weil sie das Land nicht spalten, sondern ein großes Vertrauen der Menschen genießen. Deshalb könnte das Konkordat durchaus auch eine Alternative für Präsidialdemokratien wie Frankreich oder die USA sein. Eine Konsensregierung könnte dazu beitragen, die extreme Polarisierung der Gesellschaft zu überwinden.

Das Konsenssystem der Schweiz bringt mehr Sicherheit und Verlässlichkeit in die Politik und erleichtert langfristige Planungen und Projekte. Aber behindert es nicht schnelle Entscheidungen für grundlegend neue Weichenstellungen? Tatsächlich werden letztere in der Schweiz meist durch Volksinitiativen angestoßen, selbst wenn diese beim ersten Mal keine Mehrheit gefunden haben. Nassim Taleb vermutet, dass die Schweiz deshalb ein so guter Wirtschaftsstandort und ein guter Finanzplatz ist, weil sie so sicher und verlässlich ist. Und das hängt direkt mit der Konkordanz und der direkten Demokratie zusammen.

Ein Konkordanzsystem ist vermutlich auch ein Schutz vor der Gefahr internationaler Abenteuer. Ich schätze, dass es in keinem demokratischen Land der Welt heute noch einen Konsens für ein militärisches Eingreifen außerhalb des Landes gäbe. Damit will ich nicht behaupten, dass ein Eingreifen gegenüber diktatorischen Regimes, die Völkermord betreiben, nie mehr nötig wäre. Ich bin nur der Meinung, dass solche Einsätze nur im Auftrag der Vereinten Nationen durch eine Art internationale Polizei stattfinden dürfen und legitimiert wären - aber nicht durch Truppen eines Nationalstaates.


Unrealistische Utopie?

Spätestens seit der ersten großen Europarede von Präsident Macron wurde klar: Die Debatte um eine künftige EU-Verfassung hat begonnen. Brexit und Wahlerfolge von Populisten haben deutlich gemacht, dass ein Weiter so, ohne das Demokratie- und Handlungsproblem der EU anzupacken, immer schwieriger wird.

Fast alle EU-Befürworter fordern eine handlungsfähige Regierung, nicht selten sogar die Direktwahl eines Präsidenten nach US-Vorbild. Trotzdem glaube ich, dass das Konsensmodell nicht nur das viel bessere Modell für Europa wäre, sondern auch große Realisierungschancen hat. Denn wenn es tatsächlich aufgrund von breitem öffentlichem Druck, vielleicht sogar aufgrund einer europaweiten Konventskampagne, zur Wahl eines Verfassungskonventes kommt, dann werden die Karten völlig neu gemischt. Ein zentralisiertes Europa und eine starke Mehrheitsregierung sind mit Sicherheit nicht mehrheitsfähig. Es muss soviel dezentralisiert werden wie möglich. Nur die wichtigsten Aufgaben wie die Besteuerung von internationalen Konzernen, ein wirksamer Finanzausgleich, eine Verpflichtung auf Klimaziele oder die Außenpolitik müssen von der EU unbedingt übernommen werden.

Ein Konsensmodell für die Regierung würde der Vielfalt Europas am besten gerecht werden und würde am ehesten geeignet sein, das Vertrauen vieler Menschen in allen europäischen Staaten zu gewinnen. Es spricht vieles dafür, dass ein Konkordanzsystem die größten Chancen hätte, im Verfassungskonvent und in einer europaweiten Abstimmung über die Verfassung die Mehrheit zu bekommen. Die Utopie könnte sich als das Modell mit den realistisch betrachtet meisten Chancen erweisen.


Fußnote:
[1] Nassim Taleb, Risiko-Forscher an der New York University: in "Antifragilität", Knaus Verlag, München 2013


Vom Autor erschienen:

Karl-Martin Hentschel
Demokratie für morgen
Roadmap zur Rettung der Welt
Mit einem konkreten Entwurf für ein gerechtes Europa
UVK-Verlag
17,99 Euro

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Quelle:
© 2019 by Karl-Martin Hentschel
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. April 2019

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