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STANDPUNKT/961: Politische Lehren aus der Corona-Pandemie (spw)


spw - Ausgabe 2/2020 - Heft 237
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Politische Lehren aus der Corona-Pandemie

von Dierk Hirschel(1)


Ein Virus verändert die Republik. Zwischen Kiel und München stand das öffentliche Leben wochenlang still. Schulen, Universitäten, Kitas, Museen und Theater waren geschlossen. Gleiches galt für Restaurants, Kneipen, Hotels und Einzelhandelsgeschäfte. Reisen ins Ausland waren nicht mehr möglich und die Bewegungsfreiheit im Inland wurde stark eingeschränkt. All diese Maßnahmen zielten darauf ab, die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Coronavirus zu verlangsamen. Dadurch sollte verhindert werden, dass unser Gesundheitssystem überfordert wird. Ältere und Menschen mit Vorerkrankungen sollten geschützt werden. Mit Erfolg! Die Zahl der Infizierten wächst nur noch schwach.

Die Wirtschaft hat auf Krisenmodus umgeschaltet. Die Produktion geht zurück, da Vorprodukte nicht mehr geliefert werden, die Verkehrsinfrastruktur nicht mehr reibungslos funktioniert, Aufträge wegbrechen und die Belegschaften geschützt werden müssen. Die Unternehmen schicken ihre Mitarbeiter ins HomeOffice, melden Kurzarbeit an und packen ihre Investitionspläne in die Schublade. In vielen Dienstleistungsbranchen steht die Arbeit still. Ein handfester Börsencrash - der Dax verlor in wenigen Tagen fast 40 Prozent - verschärfte die Finanzierungssituation vieler Kapitalgesellschaften. Einkommensverluste, Verunsicherung und die Beschränkung des sozialen Konsums belasten den privaten Verbrauch.

Wie lange der politisch verordnete Stillstand andauern wird, ist offen. Virologen spekulieren über die Wirksamkeit der ergriffenen gesundheitspolitischen Eindämmungsmaßnahmen. Wie sich die ersten Lockerungen des Shutdowns auf die Gesundheit der Bevölkerung auswirken werden, bleibt ebenfalls abzuwarten. Genaueres wird man erst in wenigen Wochen sagen können.

Von der Dauer des künstlichen Komas (Peter Bofinger) ist aber die Schwere der wirtschaftlichen Krise abhängig. Erschwerend hinzu kommt, dass das Virus sich weltweit ausgebreitet hat. Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet für das laufende Jahr einen Rückgang des globalen Wirtschaftswachstums von drei Prozent. Dies wäre die schlimmste weltweite Rezession seit der Großen Depression in den 1930er Jahren. Am härtesten trifft es die Entwicklungs- und Schwellenländer, aber auch ökonomische Schwergewichte wie die USA, Großbritannien, Frankreich und Italien kollabieren. Die exportabhängige deutsche Industrie, die sehr stark in globale Wertschöpfungsketten eingebunden ist, hängt am Tropf ihrer ausländischen Zulieferer, Produktionsstätten und Märkte. Selbst wenn Berlin das Virus zügig in den Griff bekommt, kann die deutsche Automobil-, Chemie- und Pharmaindustrie sowie der heimische Maschinenbau die Produktion kurzfristig nicht wieder auf Vorkrisenniveau hochfahren. Damit ist eine exportgetriebene Erholung, wie nach der Finanzmarktkrise 2007, nicht möglich.

Vieles deutet darauf hin, dass die negativen wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie vermutlich die Auswirkungen aller bisherigen Wirtschaftskrisen und Naturkatastrophen in den Schatten stellen werden. Das Münchner IFO-Institut prognostiziert für 2020 einen Einbruch des Wirtschaftswachstums, abhängig von der Dauer des Shutdowns (zwei bis drei Monate), zwischen sieben und 21 Prozent. In absoluten Zahlen würde dies einen Wertschöpfungsverlust zwischen 255 und 729 Milliarden Euro bedeuten. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft sagt für einen einmonatigen Stillstand einen Wachstumseinbruch von 4,5 Prozent und für drei Monate einen BIP-Rückgang von 8,7 Prozent voraus. Die Bundesregierung geht davon aus, dass das Sozialprodukt im laufenden Jahr um fünf Prozent schrumpft. Der ehemalige UNCTAD-Chefökonom Heiner Flassbeck rechnet bei einem viermonatigen Stillstand mit einem Rückgang des Bruttoinlandsproduktes von 25 Prozent. Nur zum Vergleich: In der großen Weltwirtschaftskrise sank die deutsche Wirtschaftsleistung im Jahr 1931 um 16 und 1932 um 17 Prozent. Abhängig von der Tiefe und Dauer der Rezession sind die Folgen für den Arbeitsmarkt. Das IFO-Institut beziffert die möglichen Verluste bei sozial versicherten Arbeitsplätzen zwischen 200.000 (best case) und 1,8 Millionen (worst case). Die Zahl der Kurzarbeiter könnte im schlimmsten Fall auf 6,6 Millionen ansteigen. Unternehmen und Arbeitgeberverbände wollen in Anbetracht der massiven Verluste die kapitalistische Verwertungsmaschine wieder schnell anwerfen. Hier zeichnet sich ein harter Konflikt zwischen betriebswirtschaftlichen und Gemeinwohlinteressen ab.

Antikrisenpolitik

Eine Krise dieses historischen Ausmaßes kann nur mit einer entschlossenen Antikrisenpolitik erfolgreich bekämpft werden. Die große Koalition reagierte zunächst schnell und angemessen. Arbeitsminister Hubertus Heil erleichterte die Kurzarbeit. Dadurch wurden Massenentlassungen verhindert und die Beschäftigten finanziell abgesichert. Kritisch war, dass viele Arbeitgeber das Kurzarbeitergeld, welches bei 60 Prozent des Nettogehalts lag (67 Prozent mit Kindern), nicht erhöhen wollten, während sie bei den Sozialversicherungsbeiträgen voll entlastet wurden. Die große Koalition erlies die Sozialversicherungsbeiträge bei Kurzarbeit, ohne dies an die Bedingung zu knüpfen, dass Arbeitgeber aufstocken. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit geringen Einkommen mussten folglich empfindliche Einbußen hinnehmen. So erhielt eine alleinerziehende Einzelhandelsverkäuferin mit einem Kind und 1.890 Euro brutto im Monat ein Kurzarbeitergeld von nur 939 Euro. Deswegen stritten die Gewerkschaften für tarifverträgliche Regelungen, die das Kurzarbeitergeld auf bis zu 90 Prozent aufstocken. Im öffentlichen Dienst, in der Metall- und Elektroindustrie, in der Systemgastronomie, bei Bahn und Telekom konnten bereits Erfolge erzielt werden. Dort wurde das Kurzarbeitergeld auf zwischen 80 und 97 Prozent des Nettolohns angehoben. Auf Drängen der SPD besserte die große Koalition nach und erhöhte das Kurzarbeitergeld. Nach drei Monaten steigt das Kurzarbeitergeld nun auf 70 Prozent (77 Prozent mit Kindern) und nach sechs Monaten auf 80 Prozent (87 Prozent mit Kindern). Millionen Geringverdienern hilft das aber kurzfristig nicht. Sie werden in den ersten Monaten gezwungen, Hartz IV zu beantragen. Hoch problematisch ist zudem eine Notverordnung der Bundesregierung, die das Arbeitszeitgesetz lockert. Denn längere Arbeitszeiten und kürzere Ruhezeiten können die bereits hoch belasteten Beschäftigten im Gesundheitswesen und Einzelhandel mit voller Wucht treffen.

Finanzminister Olaf Scholz richtet einen 600 Milliarden schweren Rettungsfonds für Unternehmen ein und erhöht den Garantierahmen der Staatsbank KfW um 450 Milliarden Euro. Die KfW soll Unternehmen unbegrenzt Liquiditätshilfen zur Verfügung stellen. Kredite, Staatsgarantien und Teilverstaatlichungen sollen eine drohende Pleitewelle verhindern. Hier sollten aber Lehren aus den Rettungsmaßnahmen in der Finanzmarktkrise 2008 gezogen werden. Das Prinzip Leistung nur für Gegenleistung muss konsequent durchgesetzt werden. Unternehmen, die Staatshilfen beziehen, dürfen keine Dividenden ausschütten, keine Aktien zurückkaufen und müssen ihre Briefkästen in Steueroasen abschrauben. Wenn der Staat sich an Unternehmen beteiligt, muss er auch Einfluss auf die Unternehmenspolitik nehmen. Am besten im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation. Für Kleinunternehmer und Selbständige hat Berlin einen Solidaritätsfonds bereitgestellt, der mit 50 Milliarden Euro ausgestattet ist. Dieser Fonds vergibt Soforthilfen von bis zu 15.000 Euro. So können Soloselbständige und Kleingewerbetreibende ihre Einnahmeausfälle für ein paar Monate überbrücken. Darüber hinaus schnürte die Merkel-Regierung ein Sozialschutz-Paket. Mittellose Selbständige können Hartz-IV beantragen, ohne ihre Ersparnisse aufbrauchen zu müssen. Bedürftige Familien bekommen einen Kinderzuschlag und Mietern können in der Krise wegen Mietschulden ihre Wohnungen nicht mehr gekündigt werden.

Insgesamt mobilisiert die Bundesregierung 1,2 Billionen Euro im Kampf gegen die Corona-Krise. Dafür nimmt der oberste Kassenwart der Republik sogar in Kauf, dass die Bild-Zeitung ihn zum Schuldenkönig krönt. Schwarze Null und Schuldenbremse sind erst einmal Geschichte. Scholz plant für 2020 eine Nettokreditaufnahme von 156 Milliarden Euro. Das ist viel Holz. In der Finanzmarktkrise musste Peer Steinbrück 2010 lediglich 40 Milliarden neue Schulden machen.

Olaf Scholz ist, bei aller berechtigten Kritik an seiner Finanzpolitik der "schwarzen Null", zugutezuhalten, dass er in der Krise ohne ideologische Scheuklappen pragmatisch handelt. Nicht auszumalen, was passiert wäre, wenn Wolfgang Schäuble noch in der Wilhelmstraße residieren würde. In der Krise sind alle Keynesianer. Über den Rettungsschirm für Unternehmen und Beschäftigte hinaus sollte jetzt aber auch ein Konjunktur- und Investitionsprogramm angekündigt werden. Dieses müsste aus kurzfristigen konsumstabilisierenden Maßnahmen - Konsumschecks, Kindergeldsonderzahlung, Kinderboni oder höhere Hartz-IV-Sätze - sowie langfristigen Infrastrukturinvestitionen in den sozial-ökologischen Umbau - ÖPNV, Gesundheitswesen, Klimaschutz, Digitalisierung, etc. - bestehen. Dadurch werden die Erwartungen der Unternehmen stabilisiert und die wirtschaftliche Erholung beschleunigt. Von Steuersenkungen ist hingegen dringend abzuraten, da die Verteilungs- und Konsumeffekte deutlich ineffizienter und ungerechter sind als die von direkten konsumstimulierenden Instrumenten.

Ein Virus, das keine Grenzen kennt, muss international bekämpft werden. Die Europäische Union und die führenden Industriestaaten (G20) versagten aber zunächst beim globalen Krisenmanagement. Brüssel war, wie schon in der Finanzmarktkrise 2008 und in der sogenannten Flüchtlingskrise 2015, unfähig, sich auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen. Die EU-Mitgliedsstaaten stimmten ihre Schutzmaßnahmen nicht miteinander ab. Statt internationale Solidarität zu üben, verboten die Nationalstaaten die Ausfuhr von medizinischen Gütern. Italien erhielt die ersten Hilfslieferungen und personelle Unterstützung aus China, Russland und Kuba. Ein Armutszeugnis für Europa! Somit musste die Europäische Zentralbank wieder einmal den Retter in letzter Not spielen. EZB-Chefin Christine Lagarde kauft für 750 Milliarden Euro Anleihen und finanziert damit indirekt die Hilfsprogramme der Krisenstaaten.

Erst im April einigten sich die EU-Finanzminister auf ein europäisches Hilfspaket im Umfang von 500 Milliarden Euro. Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) wird vorbeugende Kreditlinien in Höhe von 240 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Zudem wird die Europäische Investitionsbank ein Kreditprogramm im Umfang von 200 Milliarden Euro starten. Und last but not least wird die EU-Kommission 100 Milliarden Euro zur europaweiten Finanzierung von Kurzarbeit mobilisieren. Dadurch werden die Krisenstaaten finanziell substantiell entlastet. Insofern ist das verabschiedete EU-Hilfspaket erst einmal ein Fortschritt. Gleichzeitig wurde aber eine große historische Chance verpasst. Die Einführung von gemeinschaftlichen Anleihen in Form von Coronabonds wäre ein wichtiger Schritt zu einem gemeinsamen solidarischen Europa gewesen. In der Geschichte der Europäischen Union wurden gerade in Krisenzeiten immer wieder zentrale Integrationsfortschritte gemacht. Deutschland hätte gemeinsam mit Italien, Frankreich und Spanien das europäische Projekt voranbringen können.

Die südliche Erdhalbkugel und große Teile Asiens sind besonders auf internationale Hilfe angewiesen. In Afrika, Lateinamerika und Südostasien droht eine humane Katastrophe. In vielen Entwicklungs- und Schwellenländern funktioniert das Gesundheitssystem nur für die nationalen Eliten, breite Bevölkerungsschichten haben kein sauberes Wasser und die beengten Lebensverhältnisse in den Slums der Metropolen erlauben keine soziale Distanzierung. Zudem trifft diese Länder der Kollaps der Weltwirtschaft. Fallende Rohstoffpreise und sinkende Rücküberweisungen rauben diesen Nationen die Einnahmen. Gleichzeitig steigen die Lebensmittelpreise in Regionen, wo die heimische Bevölkerung nicht mit eigenen Nahrungsmitteln versorgt werden kann. Ein teuflischer Cocktail für staatliche Repression, Aufstände und Bürgerkriege.

Gesundheit als Ware

Die Corona-Pandemie zeigt die Grenzen eines zunehmend auf Profit ausgerichteten Gesundheitswesens auf. In den Kliniken fehlen Intensivbetten, Beatmungsgeräte, Pflegepersonal, Schutzkleidung und Desinfektionsmittel. In den letzten Jahrzehnten verschlechterte die Kommerzialisierung des Gesundheitssystems die Versorgungsqualität und Arbeitsbedingungen. Krisenpuffer wurden abgebaut.

Jedes dritte Krankenhaus ist heute privat und auf Profit getrimmt. Die privaten Krankenhauskonzerne konzentrieren sich auf die lukrativen Behandlungsfälle, sparen beim Personal und schließen unrentable Abteilungen (z.B. Intensivstationen). Die Einführung von Budgets und Pauschalen machte aus Krankenhäusern Wirtschaftsbetriebe. Im System der Fallpauschalen folgt das Geld der Leistung. Folglich kürzen die Klinikleitungen unrentable Leistungen wie beispielsweise die Pflege und weiten profitable Leistungen aus. Wer im Wettbewerb nicht mithalten kann, muss irgendwann schließen. Im Sommer 2019 empfahl die Bertelsmann-Stiftung, jedes zweite Krankenhaus dichtzumachen. Das wäre das Ende einer wohnraumnahen Gesundheitsversorgung gewesen und wir hätten heute italienische Verhältnisse.

Die Kliniken werden für jeden Behandlungsfall bezahlt, weswegen sie ihre Kapazitäten möglichst voll auslasten wollen. Für den Krisenfall vorgehaltene Betten produzieren Verluste. Deswegen wurde die Bettenkapazität seit der Jahrtausendwende um 11 Prozent gesenkt. In der Corona-Pandemie gibt es kaum mehr Reserven, um eine große Anzahl schwerkranker Patienten zu versorgen. Jetzt hat die Bundesregierung die erlös- und profitorientierte Krankenhaussteuerung krisenbedingt ausgesetzt. Berlin schiebt medizinisch nicht notwendige Eingriffe auf, um so Platz für Corona-Patienten zu schaffen. Die Krankenhäuser werden für die Einnahmeverluste entschädigt. Dieser krisenbedingte Systembruch war überfällig und stellt die gesamte betriebswirtschaftlich ausgerichtete Krankenhaussteuerung in Frage.

Doch damit nicht genug. Der Personalmangel in den Krankenhäusern hat inzwischen ein dramatisches Ausmaß angenommen. Schon vor der Krise fehlten rund 80.000 Krankenpflegekräfte. Dieser Fachkräftemangel ist hausgemacht. Pflegekräfte sind schlecht bezahlt und die Arbeitsbedingungen sind äußerst belastend. In den letzten Jahren kündigten zehntausende Pflegekräfte wegen Überlastung. Auch deswegen haben deutsche Krankenhäuser europaweit sehr wenige Pflegekräfte pro Patient. In den vergangenen Monaten mussten drei von vier Intensivstationen ihre Betten wegen Personalmangels sperren. Gesundheitsminister Jens Spahn reagierte auf diesen Personalnotstand, indem er in der Corona-Krise die Personaluntergrenzen für Krankenhäuser außer Kraft setzte und goss damit weiteres Öl ins Feuer.

Erschwerend hinzu kommt, dass überall Atemmasken, Schutzkleidung und Desinfektionsmittel fehlen, um das medizinische Personal ausreichend zu schützen. Die gewinnmaximierende Produktionsverlagerung ins Ausland und just-in-time-Lieferketten führen jetzt zu Engpässen bei Verbrauchsmaterialien und Medikamenten. Seitdem nähen Automobilzulieferer, Hemden- und Brautmodenhersteller plötzlich Mund- und Nasenschutzmasken und Schnapshersteller füllen Desinfektionsmittel ab.

In der Gesundheitswirtschaft kollidieren immer wieder private Unternehmensentscheidungen mit gesellschaftlichen Interessen. Das Tübinger Unternehmen CureVac AG entschied allein darüber, ob ein Impfstoff gegen Corona hierzulande entwickelt und produziert wird. Wenn die Geschäftsführung ein Übernahmeangebot aus den USA angenommen hätte, müsste die Bundesregierung den Impfstoff künftig zu hohen Preisen einführen. Das ist nicht akzeptabel. Viele forschende Unternehmen profitieren von steuerfinanzierter staatlicher Grundlagenforschung und versilbern anschließend die staatliche Forschungsarbeit mit privaten Patenten. Nur wenn die öffentliche Hand sich an solchen Unternehmen beteiligt, kann sichergestellt werden, dass die Forschungsergebnisse der Gesellschaft zugutekommen.

Auch die Gesundheitsämter stoßen in der Krise sehr schnell an ihre Grenzen. Sie sollen Angehörige beraten, Fälle registrieren und Quarantänemaßnahmen ergreifen. In den letzten zwei Jahrzehnten wurden ihre Budgets aber kleingespart. Folglich konnten viele Pflichtaufgaben nicht mehr bewältigt werden. Jede dritte Arztstelle in den Gesundheitsämtern wurde gestrichen. Mediziner im Krankenhaus werden besser bezahlt als ihre Kollegen in den Gesundheitsämtern. Kein Wunder, dass offene Stellen nicht mehr besetzt werden können.

Die Corona-Pandemie zeigt nachdrücklich, wie wichtig ein gutes öffentliches Gesundheitssystem für die Gesellschaft ist. Die Folgen eines kaputtgesparten öffentlichen Gesundheitswesens zeigen sich besonders dramatisch in Italien, Spanien und Großbritannien. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet diese Länder die meisten Infizierten und Toten unter den Industrieländern haben. Vom weitgehend privatisierten US-amerikanischen Gesundheitswesen ganz zu schweigen. Somit bleibt nur zu hoffen, dass die gesundheitspolitischen Maßnahmen die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus hierzulande deutlich verlangsamen werden. Damit würde unseren Krankenhäusern ein Stresstest erspart.

Daseinsvorsorge

Corona rückt die gesamte Daseinsvorsorge ins Scheinwerferlicht. In Zeiten der Pandemie halten Busfahrerinnen, Müllwerker, Feuerwehrleute, Pfleger, Polizistinnen, Telekommunikationselektroniker und Verkäufer die Gesellschaft zusammen. Ohne eine funktionierende Daseinsvorsorge würde die Republik ins Chaos stürzen.

Die Grundversorgung mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen wird aber in großen Teilen durch schlecht entlohnte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sichergestellt. Die Beschäftigten der kritischen Infrastrukturen bekommen bis zu 20 Prozent weniger Gehalt als nicht-systemrelevante Arbeitskräfte. Starke körperliche und physische Belastungen, Überstunden und geringe Wertschätzung sind an der Tagesordnung. Denn viele Bereiche der Daseinsvorsorge leiden unter Personalmangel und Investitionsstau und sind chronisch unterfinanziert. Verantwortlich dafür war eine neoliberale Politik der Liberalisierung, Privatisierung, der Prekarisierung und des Sozialabbaus.

Lehren aus der Krise

Nach der Krise darf es kein "Weiter so" geben. Der sozial-ökologische Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft muss jetzt weiter vorangetrieben werden. Die ökologische Frage ist zu einer Existenzfrage geworden. Eine zentrale Herausforderung besteht darin, die Verkehrs-, Energie-, und Agrarwende ökonomisch vernünftig und sozial verträglich zu gestalten. Die Daseinsvorsorge spielt dabei eine zentrale Rolle. Gesundheit, Mobilität, Bildung, Betreuung und Wohnen sind keine Waren, sondern öffentliche Güter. Ihre Erbringung sollte gesellschaftlichen Zielen und Bedürfnissen folgen.

Nach der Krise ist eine breite gesellschaftliche Mobilisierung für ein gemeinwohlorientiertes Gesundheitswesen möglich. Die Pflegeberufe müssen dringend aufgewertet werden. Gleiches gilt für die Reinigungskräfte in den Kliniken. Vom Lob der Kanzlerin und öffentlichen Beifallsbekundungen können sie sich nichts kaufen. Die Gewerkschaften werden versuchen, Pflege- und Reinigungskräfte künftig stärker gewerkschaftlich zu organisieren. Gefragt ist aber auch politisches Handeln. Die Bundesregierung muss die höheren Gehälter des Pflegepersonals vollständig refinanzieren. Zudem sollte Berlin für eine gesetzliche Personalbemessung sorgen, um die Krankenpflegekräfte zu entlasten. Ferner muss der Investitionsstau der Krankenhäuser aufgelöst werden.

Neben dem Gesundheitswesen sollten auch andere Bereiche der Daseinsvorsorge ausgebaut werden. Der Staat muss endlich kräftig in den öffentlichen Nah- und Fernverkehr investieren. Die krisenbedingt gestiegene Wertschätzung für die Beschäftigten des ÖPNV, der Müllentsorgung, der Feuerwehr, der Wasserwerke und des Einzelhandels sollte genutzt werden, um ihre Löhne und Arbeitsbedingungen zu verbessern. Im Einzel- und Versandhandel ist beispielsweise nur Einer von drei Beschäftigten durch einen Tarifvertrag geschützt, Teilzeit und Minijobs sind weit verbreitet. Hier bedarf es ebenfalls mehr gewerkschaftlicher Organisationsmacht, um gute Arbeit durchzusetzen. Die Politik kann zudem durch eine politische Stärkung der Tarifbindung - allgemeinverbindlicher Tarifvertrag -, eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro und eine Zurückdrängung prekärer Beschäftigung - insbesondere Minijobs - die Verhandlungsmacht dieser Beschäftigten verbessern.

Der Ausbau und die Modernisierung des Sozialstaats sowie der ökologische Umbau werden sehr viel Geld kosten. Nach der Corona-Pandemie wird aber von leeren öffentlichen Kassen die Rede sein. Und der Schuldenberg wird höher sein als heute. Dann steht die Republik vor schweren gesellschaftlichen Verteilungskonflikten. Wer soll die Rechnung für den milliardenschweren Rettungseinsatz bezahlen? Und wie sollen wir mit der höheren Staatsverschuldung politisch umgehen?

Nach der letzten Finanzmarktkrise gelang es der Wirtschaftselite und konservativ-liberalen Medien die Bankenkrise in eine Staatsschuldenkrise umzudeuten. Mit Schuldenbremse und Fiskalpakt wurden den Kassenwarten Fesseln angelegt. Dadurch konnte der Sozialstaat an die kurze Leine genommen werden. Die Vorfahrt für Haushaltskonsolidierung ging zu Lasten der Zukunftsinvestitionen. Die Zeche bezahlten am Ende die abhängig Beschäftigten. Diesmal darf sich Geschichte nicht wiederholen - auch nicht als Tragödie oder Farce.

Schulden sind kein Teufelszeug. Wenn nach der Krise, Schulden durch ein Spardiktat abgebaut werden, schadet dies der wirtschaftlichen Erholung. Die Schuldenbremse und die Maastrichter Schuldenregeln gehören auf den Schutthaufen der Geschichte. Kreditfinanzierte Investitionen fördern hingegen die wirtschaftliche Entwicklung. Solange die Wachstumsraten höher sind als der Zins, sinkt sogar die Schuldenquote. Folglich sollten künftige Investitionen mit der Kreditkarte bezahlt werden.

Zudem ist Geld genug vorhanden. Dem öffentlichen Schuldenberg steht ein gigantisches privates Vermögen gegenüber. Das Nettovermögen beläuft sich hierzulande auf stolze 12 Billionen Euro, davon sind sechs Billionen Geldvermögen. Das reichste ein Prozent besitzt ein Drittel davon, das reichste Zehntel etwa zwei Drittel. Wenn nach der Krise der Sozialstaat nicht schrumpfen, sondern modernisiert werden soll, dann müssen die gesellschaftlich fortschrittlichen Kräfte die Verteilungsfrage stellen. Ein guter Startpunkt wäre die Forderung nach einer Vermögensabgabe. Gleichzeitig brauchen wir eine breite gesellschaftliche Debatte über umverteilende Steuerpolitik.

Corona zeigt der Welt das hässliche Gesicht eines entfesselten Kapitalismus. Dort, wo Gesundheit zu einer Ware wurde, sterben viele Menschen. Gleichzeitig erleben wir aber den Staat als mächtigen Krisenmanager und Lebensretter. Damit dürfte das befremdliche Überleben des Neoliberalismus enden. Wohin die Reise anschließend geht, ist abhängig vom Verlauf gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Nach der Pandemie kann es sowohl mehr soziale Spaltung, Abschottung und weniger Freiheitsrechte als auch mehr soziale Gerechtigkeit, Solidarität und internationale Kooperation geben. Gewerkschaften, Sozialverbände, soziale Bewegungen und progressive Parteien sollten gemeinsam für einen sozial-ökologischen Umbau streiten.


(1) Dr. Dierk Hirschel ist Bereichsleiter für Wirtschaftspolitik, Europa und Internationales der Gewerkschaft ver.di.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2020, Heft 237, Seite 17-22
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Mai 2020

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