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STREITSCHRIFT/009: Bismarck und die große Koalition (Hans Fricke)


Bismarck und die große Koalition

Von Hans Fricke, 30. Juni 2009


Otto vom Bismarck hätte verständnisvoll mit dem Kopf genickt, würde er noch erlebt haben, wie über hundert Jahre nach ihm deutsche Regierungsparteien seine Erkenntnis, es werde niemals so viel gelogen wie vor einer Wahl, während des Krieges und nach der Jagd, eindrucksvoll bestätigen. Das Lügen nach der Jagd lässt sich in unserem Fall getrost vernachlässigen, da die führenden Politiker von Union und SPD alle Hände voll zu tun haben, um unser Volk mit unseriösen Wahlversprechen und permanenten Lügen über den Afghanistan-Krieg an der Nase herumzuführen, sodass ihnen für die Jagd und das klassische "Jägerlatein" kaum Zeit bleibt.

Der Tod von drei Bundeswehrangehörigen bringt kriegsbegeisterte deutsche Politiker und Militärs erneut in Erklärungsnot, zumal die Forderung einer großen Mehrheit der Bevölkerung, die Bundeswehrangehörigen aus Afghanistan zurückzuholen, immer lauter und drängender wird und nun auch noch der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag; Peter Ramsauer, eine Ausstiegstrategie fordert. Für die Durchhalteparolen des SPD-Fraktionschefs Peter Struck: "Ich fürchte, das kann noch zehn Jahre dauern", und er sehe "keinen Grund, jetzt aufzugeben" und auch dafür, dass Bundesverteidigungsminister Franz-Josef Jung (CDU) entgegen aller Realität trotzig wie ein Kind weiterhin behauptet, Deutschland führe keinen Krieg, sondern betreibe "zivilen Aufbau und militärische Sicherheit parallel", hat diese Bevölkerungsmehrheit nur noch ein müdes Lächeln übrig. Schließlich erkennen immer mehr Menschen, dass der unserem Volk von der Bundesregierung eingeredete Grund für den Überfall der USA auf Afghanistan eine der vielen notorischen Bush-Lügen war, zumal außerhalb der BRD, besonders in den USA selbst, der Verdacht von Politikern, Militärs, Piloten und Wissenschaftlern immer offener geäußert wird, die Ereignissen am 11. September 2001 seien nur mit Wissen bzw. Duldung von US-Geheimdiensten und hochrangigen Mitgliedern der Bush-Administration möglich gewesen.

Sogar der Bushs Neokonservativen nahe stehende rechte Demokrat Al Gore hat in seinem Buch "The Assault on Reason" (Der veranlasste Überfall), Kapitel 6, Seiten 178/179, die Bush-Administration wegen ihrer effektiven passiven Komplizenschaft bei den Verbrechen am 11. September verurteilt.

Was es mit der von der Bundesregierung uns seit Jahren wider besseres Wissens vorgegaukelten "humanitären Mission" von USA und NATO und dem "zivilen Aufbau" in Afghanistan in Wahrheit auf sich hat, berichtete Dr. Gideon Polya am 15.02.2008 unter der Überschrift "Ein führender US-Jurist und UNICEF-Daten decken Völkermord in Afghanistan auf" (http://www.counercurrents.org/polya080208.htm).

Danach erlaubt eine im Februar 2008 vorgenommene Analyse der Daten von UNICEF (UNO-Kinderhilfswerk) die Schlussfolgerung, dass seit der Invasion im besetzten Afghanistan bis zu 6,6 Millionen Menschen eines vermeidbaren Todes gestorben sind, der nicht hätte eintreten müssen. Noch immer gehört Afghanistan zu den Ländern mit der höchsten Kindersterblichkeit. Seit der Invasion sind 2,3 Millionen Kinder unter fünf Jahren gestorben. Das seien mehr als die 1,5 Millionen jüdischer Kinder, die von den Nazis ermordet wurden. Die geschätzte Gesamtzahl der seit der Invasion zu beklagenden zusätzlichen Toten (bis 6,6 Millionen) übertreffe die Anzahl der von 1941-45 von den Nazis umgebrachten Juden (5,6 Millionen) Was in Afghanistan geschehe, sei ein afghanischer Holocaust!

Und daran beteiligt sich seit Jahren unser Land mit immer mehr Truppen und immer moderneren Waffensystemen. Das militärische Engagement der BRD, in dessen Folge es von Jahr zu Jahr mehr getötete, verletzte und verkrüppelte Bundeswehrangehörige sowie getötete, verletzte und verkrüppelte Afghanen, besonders unter der Zivilbevölkerung, gibt, hat weder etwas mit der "Verteidigung 'unserer' Freiheit am Hindukusch" noch mit Humanität zu tun, sondern dient allein der Erweiterung der geostrategischen Einflußsphären der USA und anderer NATO-Staaten, dem "freien" Agieren der Daimler, Krupp-Thyssen, Siemens und der Ölkonzerne zur Sicherung von Maximalprofiten und war nach einer bereits vor zwei Jahren von Oberstleutnant der Bundeswehr Jürgen Rose geäußerten Auffassung dabei, "sich als unverhüllter Kolonialkrieg gegen das Selbstbestimmungsrecht der Paschtunen zu richten". Darüber können weder das geplante Ehrenmal noch neu eingeführte Tapferkeitsauszeichnungen und auch nicht der heuchlerischer Appell dreier ehemaliger Bundesverteidigungsminister an die Bundesregierung in BILD hinwegtäuschen: "Geben Sie den Männern und Frauen, die für die Werte unserer Verfassung ihr Leben ließen, eine Gedenkstätte!" "Für die Werte unserer Verfassung" hat bisher noch kein deutscher Soldat sein Leben lassen müssen.

Diese und andere Lügen "während des Krieges" ergänzen gegenwärtig die Parteien der großen Koalition mit viel Tam-Tam durch ihre Lügen "vor einer Wahl" ("Regierungsprogramme nach der Bundestagswahl" genannt). Was die Unionsparteien tagelang dem Publikum mit ihren immer neuen abstrusen Nuancen einer Steuerdebatte zugemutet haben, bis die streitbaren Schwestern am 29. Juni ihre Einigung auf einem großen Kongress feierten, überstieg alle Erwartungen. Ausgestanden aber ist das Problem damit noch lange nicht. Es brodelt weiter und wird die Union auch nach der Bundestagswahl beschäftigen.

CDU und CSU wollen im Wahlkampf vor allem signalisieren: Mit der Union werden in der nächsten Legislaturperiode die unteren und mittleren Einkommen entlastest - durch stufenweise Absenkung des Eingangssteuersatzes von jetzt 14 auf 12 Prozent und durch das Verschieben der Schwelle für den Spitzensteuersatz von derzeit 52 000 auf 60 000 Euro. Von dem Vorschlag des Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Wolfgang Böhmer (CDU), den Spitzensteuersatz für "Besserverdienende" zu erhöhen, um die wachsende Ungleichheit der Einkommen zumindest zu mildern, hält Bundeskanzlerin Angela Merkel ebenso wenig wie vom Vorschlag des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Günther Oettinger (CDU), zur Erhöhung der Mehrwertsteuer. Statt dessen dröhnt es von ihr vollmundig: "Mit mir ist eine Steuererhöhung in der nächsten Legislaturperiode nicht zu machen." So, als sei sie vor vier Jahren nicht mit einem blauen Auge aus dem Mehrwertsteuer-Schlamassel hervorgegangen. Erinnern wir uns: Die Union wollte zwei Prozent mehr, die SPD wetterte gegen die "Merkel-Steuer". Heraus kamen bekanntlich drei Prozent oben drauf. Doch das geschah noch in vergleichsweise wirtschaftlich rosigen Zeiten. Das Blatt hat sich inzwischen dramatisch gewandelt.

Angela Merkel gibt im Interesse ihrer Machterhaltung nicht länger die schwäbische Hausfrau, die nicht mehr ausgibt, als sie eingenommen hat. Sie will den Wahlkampf für die Union - und damit für Schwarz-Gelb - mit einem Programm bestreiten, das ökonomischen Sachverstand, der gerade verabschiedeten Schuldenbremse, aber auch der Überzeugung einer großen Mehrheit der Bürger zuwiderläuft. Das ist sehr riskant. Damit spielt die Union mit ihrer Glaubwürdigkeit oder dem was davon noch übrig geblieben ist. Schwarz-Gelb könnte wackeln, wenn sich die Union in einer selbst gestellten Falle verfängt.

Schon einmal, und zwar bei der Bundestagswahl 2005, schienen die Unionsparteien laut Umfragen einen uneinholbaren Vorsprung im zweistelligen Prozentbereich vor der SPD zu haben. Alles deutete auf eine Regierungsübernahme durch eine Koalition aus CDU/CSU und FDP hin. Doch dann reagierten die Wähler auf den bei der Steuerreform sichtbar gewordenen Zickzackkurs mit einer regelrechten Abstrafung der Union, die statt der erwarteten "40 plus X" lediglich 35,2 Prozent der Stimmen erreichte.

Zur Steuerdebatte in der CDU schreibt Rainer Balcerowiak in junge Welt vom 29. Juni u.a.: "(...) Denn bei den plötzlich in allen Ecken der Union laut werdenden Gedankenspielen über mögliche Steuererhöhungen nach der Wahl handelt es sich keineswegs um unbedachte Äußerungen, sondern um den Versuch, eine Regierungsbildung mit der FDP zu hintertreiben. Und das aus gutem Grund: Den Ministerpräsidenten der unionsregierten Länder schwant, dass ein neoliberal geprägtes Programm der Umverteilung von unten nach oben, wie es die FDP und die Spitzen von CDU und CSU propagieren, verheerende Auswirkungen für einen relevanten Teil der eigenen Wählerschaft und somit der eigenen Wiederwahlchancen hätte (...) Im Brechen des Wahlversprechens, die Mehrwertsteuer keinesfalls zu erhöhen, haben sowohl die Union als auch ihre sozialdemokratischen Partner bereits Übung. Die Alternative zu diesem fiskalischen Raubzug gegen die Bezieher kleiner Einkommen wären angesichts der Haushaltslage entweder eine drastische Umverteilung von oben nach unten - was die Union nicht will - oder massive Einschnitte bei Sozialleistungen - was die SPD bei Strafe ihres endgültigen Untergangs nicht kann. Mehrwertsteuererhöhungen und große Koalition werden also kommen."

Dass die Staatsverschuldung Deutschlands jenseits jeglicher Vorstellungskraft liegt, weiß inzwischen fast jeder. Um die Politik des "weiter so" der Bundesregierung und damit ihr Schulden- und Abgabenspiel weiter treiben zu können, muss die Regierung das Volk über die wahre Lage weitestgehend unwissend halten. Dazu werden die Warnungen und Vorschläge verantwortungsbewusster Politiker und Wissenschaftler negiert und gleichzeitig eine Politik favorisiert, die den Crash vorprogrammiert. Der CDU-Generalsekretär und "Experte" Ronald Pofalla versteigt sich sogar so weit, warnenden Wissenschaftlern ihre Kompetenz abzusprechen.

Es bedarf keiner Abiturkenntnisse, sondern nur des gesunden Menschenverstandes, um zu erkennen, dass die enorme Staatsverschuldung, die schier unglaublichen Rettungspakete für Banken und Konzerne, die Kurzarbeit und die anhaltenden Umsatz- und Auftragseinbrüche extreme Ausmaße erreicht haben. Die Gesamtverschuldung Deutschlands beträgt 1,6 Billionen Euro, die Neuverschuldung im Jahr 2009 voraussichtlich mindestens 80 Milliarden Euro. Dem stehen 571 Milliarden Euro Steuereinnahmen gegenüber, die jedoch allesamt ausgegeben werden. 70 Prozent aller Firmen wollen in diesem Jahr Personal abbauen und über die Hälfte hat die anstehenden Lohnerhöhungen ausgesetzt. Die deutschen Exporte sind im ersten Quartal um 21 Prozent eingebrochen. Die Bundesrepublik wird in den nächsten vier Jahren ca. 310 Milliarden Euro neue Schulden machen müssen; die jährlichen Defizite in den kommenden Jahren liegen zwischen 45 und 86 Milliarden Euro. Die USA schließen das laufende Fiskaljahr mit einem Finanzierungsbedarf von 3,15 Billionen Dollar ab. Spiegel online schrieb am 25.06.2009 dazu: "die USA leihen das fehlende Geld nicht mehr, sondern drucken es". Ein unglaublicher Offenbarungseid des größten Schuldners der Welt.

Und in dieser extrem angespannten Lage verspricht die Union massive Steuersenkungen, verzichtet auf eine längst überfällige Besteuerung der Reichen und Superreichen, wie sie in anderen Ländern üblich ist und verkündet mit dem Ziel der Gewinnung gutgläubiger Wähler, mit ihr werde es in der kommenden Legislaturperiode keine Erhöhung der Mehrwertsteuer geben. Wohlweißlich verzichtet sie darauf, dem Wahlvolk zu sagen, wie sie ihre versprochenen Steuersenkungen gegenfinanzieren will und woher das Geld zum Abbau der unvorstellbaren Staatsverschuldung kommen soll.

In diesem Zusammenhang empfiehlt es sich auch, über die historische Stellung der gegenwärtigen Krise nachzudenken. Im neuen Heft der Vierteljahresschrift Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung legt Jörg Goldberg dar, dass in der gegenwärtigen Krise deren "Bereinigungsfunktion" blockiert sei. Seine Begründung: "Die Inhaber der Wertpapiere sind heute nicht mehr wohlhabende Privatiers und Rentiers, sondern Banken, Versicherungen, Fonds und andere Kapitalsammelstellen." Wären sie gezwungen, den Teil des Finanzvermögens, dem heute keine Sachwerte entsprechen, verloren zu geben, müssten sie nicht vier Billionen US-Dollar - wie der Internationale Währungsfonds schätzt -, "sondern 50 bis 60 Billionen Dollar abschreiben". Damit wären sie bankrott, aber die Etikettierung als "systemrelevant" habe sie "unantastbar" gemacht. Damit seien die Würfel gefallen: Das Finanzsystem solle strukturell unverändert bleiben.

Schon jetzt kontrolliert nicht die Bundesregierung die Banken, sondern die Banken kontrollieren die Bundesregierung. Die Gesetzentwürfe zur Finanzmarktstabilisierung sind nicht von Regierungsbeamten oder Bundestagsabgeordneten ausgearbeitet worden, sondern von den Lobbyisten der Finanzwirtschaft, die in den Bundesministerien beschäftigt sind oder von Anwaltskanzleien, die im Sold der Banken stehen. Mit anderen Worten: "Sie dachten, sie seien an der Macht, dabei waren sie nur an der Regierung." (Kurt Tucholsky)

Die Art und Weise, wie die Bundesregierung mit der Krise umgeht, lasst befürchten, dass ihr das wahre Ausmaß der Schäden im deutschen Finanzsystem noch immer nicht bekannt ist. Den vollmundigen Vorhaben: Transparenz, Überwachung und Kontrolle des Finanzsystems, regulierende Einflussnahme des Staates, Schutz der Bankkunden vor unseriösen Finanzgeschäften u.ä. ist augenscheinlich kaum Konkretes gefolgt. Die Kreditklemme besteht weiter und nach wie vor werden kriminelle Geschäfte mit Steueroasen gemacht. Der Handel mit Giftpapieren wird fortgesetzt, und schon gibt es Stimmen, die in diesem Handel die Möglichkeit sehen, die Krise zu überwinden. Das Politmagazin frontal 21 lässt Bankberater anonym zu Wort kommen, die starkem Druck ausgesetzt sind, damit sie den Kunden weiterhin riskante Geldanlagen empfehlen. Sowohl in der Finanzwirtschaft USA als auch der BRD wurden quasi Pyromanen als Brandschutzbeauftragte eingesetzt. So koordiniert für die Bundesregierung mit Jörg Asmussen ausgerechnet der Staatsekretär die Expertengruppe, die die neue Finanzarchitektur entwerfen soll, der der Stichwortgeber für den Finanzminister war, als die Giftpapiere in Deutschland zugelassen wurden und der Handel mit ihnen so richtig in Schwung kam. (siehe: junge Welt-Thema vom 8.6.2009)

Zu Recht wies Oskar Lafontaine in seiner Rede auf dem Bundestagswahlparteitag der Linken am 20./21.Juni darauf hin, dass die ungerechte Eigentumsordnung die Hauptursache der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise ist: "Der Finanzkapitalismus ist gerade aus dieser ungerechten Vermögens- und Einkommensverteilung hervorgegangen. Und immer, wenn zu große Ungleichgewichte entstehen, in diesem Fall das Ungleichgewicht der Vermögens- und Einkommensverteilung, kommt es zu strukturellen Zusammenbrüchen. Wer also vermeiden will, dass die nächste Krise vorbereitet wird und sich in noch stärkerer Form wiederholt, muss die ungleiche Vermögens- und Einkommensverteilung verändern. Wer, wie die Regierung Merkel und die übrigen Regierungen, die sich beim Gipfel der G20 versammeln, die Antwort auf die Finanzkrise nicht an eine geänderte Vermögens- und Einkommensverteilung koppelt, bereitet notwendigerweise die nächste Krise vor. Das ist der Zusammenhang. Es geht um eine Veränderung der Vermögens- und Einkommensverteilung in der Welt. Wenn man das nicht erkennt, dann sind alle Gipfel vergebliche Mühe. Nur wenn man diesen Zusammenhang erkennt und wenn man daran geht, diesen Zustand zu verändern, kann man Krisen in ähnlicher Form verhindern."

Man braucht keine prophetischen Gaben, um schon jetzt zu wissen, dass nach der Bundestagswahl die Rechnung für die Folgen der Krise präsentiert wird. Eine Liste der sozialen Grausamkeiten wird nicht lange auf sich warten lassen. Zusätzliche Abgaben werden besonders Geringverdiener, Alleinerziehende und Arbeitslose belasten. Schon jetzt kündigt die Vorsitzende des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenversicherung, Doris Pfeifer, ab 2010 Mehrbelastungen durch Zusatzbeiträge an. Sie gehe davon aus, dass es einen regelrechten Dammbruch geben wird, wenn die ersten damit rauskommen. Die diesjährige Rentenerhöhung wird nicht reichen, um die zusätzlichen Abgaben zu bestreiten, zumal in den Folgejahren mit Nullrunden gerechnet werden muss. Der Vorstoß des bayrischen Landesgruppenchefs der SPD-Bundestagsfraktion, Florian Pronold, in der BILD-Zeitung: "Ich gehe davon aus, dass die Rente mit 67 wegen steigender Arbeitslosenzahlen in der Wirtschaftskrise nicht in Kraft treten kann." wurde von seiner Parteiführung strikt abgelehnt. Bezeichnenderweise sprechen sich die Gewerkschaften lediglich für ein "Aussetzen" der "Reform" und nicht wie die großen Sozialverbände dafür aus, das "Rentenkürzungs- und Altersarmutsprogramm" ganz fallenzulassen. Laut einer Studie der OECD leben zehn Prozent der deutschen Senioren unter der Armutsgrenze. Langfristig drohe die Altersarmut zuzunehmen. In keinem anderen Land seien Geringverdiener über das staatliche Rentensystem so schlecht abgesichert.

Höchste Zeit also eine wirksame Gegenwehr gegen die Abwälzung der Krisenfolgen auf die Schultern der Arbeitenden und Erwerbslosen und gegen drohende Altersarmut zu organisieren. Es reicht nicht, ab und zu eine Protestversammlung abzuhalten und mit Trillerpfeifen öffentlich Unmut zu äußern. Nicht ohne Grund fordern Gewerkschaftler an der Basis von ihren Vorständen mehr Biss. Zudem sind Gewerkschaften noch zu "sozialdemokratisiert". Sie haben eine regelrechte "Beißhemmung" gegenüber der SPD. Erschwerend kommt die Angst von Gewerkschaftsvorständen hinzu, dass das Streikmonopol für sie durch die Forderung nach einem umfassenden Streikrecht fallen könnte und Protestbewegungen noch schwieriger sein würden. Gewerkschaftler vor Ort halten diese Ängste für unbegründet oder zumindest für übertrieben. Ihrer Meinung nach sei erst einmal nachzuweisen, dass das Recht zum politischen Streik automatisch mit dem "Preis" des Streikmonopols bezahlt werden müsste. Und wenn dies so wäre, wäre dann der Nutzen der Ausweitung der Kampfmittel nicht wesentlich höher einzustufen als der etwaige Verlust des Streikmonopols?

Um die Verhältnisse zu ändern, sind wirksame Instrumente gefragt und zu ihnen gehört der politische Streik, der in den Parteien, mit Ausnahme der Linkspartei, in Institutionen, Medien und in der Öffentlichkeit der BRD tabuisiert und auch von den Gewerkschaften unter der Decke gehalten wird. Dabei steht in den Gesetzen nichts von einem Verbot des politischen Streiks. Die vordemokratische Rechtssprechung der 1950er Jahre im Zusammenhang mit dem Zeitungsstreik im Jahr 1952 wirkt bis heute fort und verstößt damit gegen das Grundgesetz, die Europäische Menschenrechts- und Sozialcharta, gegen das Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zur Vereinigungsfreiheit und gegen die Versammlungsfreiheit.

Zudem fällt ein politischer Demonstrationsstreik während er Arbeitszeit auch unter den Schutz der grundgesetzlich garantierten Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Das Streikrecht besteht auch gemäß Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes für die Wirtschaftsbedingungen, die von politischen Entscheidungen geprägt werden. Soziale Fragen, die wegen politischer Entscheidungen entstehen, dürfen auch unter bestimmten Voraussetzungen gemäß dem grundrechtlich verbrieften Widerstandsrecht nach Art. 20 des Grundgesetzes korrigiert werden. 1998 hat der Europarat die BRD wegen "schwerer Menschenrechtsverletzung" gerügt, weil das Recht auf Arbeitsniederlegungen, die sich gegen politische Entscheidungen richten, nicht eingeschränkt werden darf. Bisher ist diese Rüge an den Bundesregierungen abgeprallt.

Dabei spielt aber auch die Zurückhaltung der Gewerkschaften einem Generalstreik gegenüber eine Rolle. Sie klammern sich noch immer an eine längst nicht mehr bestehende "Sozialpartnerschaft" und sehen sich selbst als "Ordnungsfaktor" im Staat. Damit tolerieren sie mehr oder weniger die gescheiterte neoliberale Politik. In fast allen europäischen Ländern ist der politische Streik bzw. der politische Demonstrationsstreik durch die Verfassung oder ein Gesetz geregelt, durch Tarifverträge rechtlich erlaubt bzw. zulässig oder zumindest von Politik und Richtern geduldet. Lediglich in Österreich, England und Deutschland ist das nicht so, was allerdings Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier nicht daran hindert, durch die Welt zu reisen und andere Regierungen über Menschenrechte zu belehren.

In Italien, Frankreich, Spanien, Portugal, Griechenland und vielen anderen Ländern haben in den vergangenen Jahren Generalstreiks oder ähnliche Aktionen stattgefunden, die sich gegen Rentenreformen, Sparpakete oder gegen die Aufweichung des Kündigungsschutzes richteten. Was in vielen anderen Staaten selbstverständlich ist, wird in Deutschland durch Politik und rückwärts gerichtete Rechtsprechung unterdrückt. Dass auch die deutsche Arbeiterbewegung zu Massenstreiks fähig ist, zeigen die Jahre 1920 und 1923. Diese Bewegung, namentlich die Generalstreiks von 1920 und 1923, wurde von keinem Gewerkschaftsgremium geplant und ausgerufen.

Sie erfasste Millionen bisher unorganisierter Menschen und ging weiter, als es sich viele hatten vorstellen können. Dadurch wurde 1918 ein Kaiser gestürzt, 1920 ein Militärputsch vereitelt und 1923 eine arbeiterfeindliche Reichsregierung zum Rücktritt gezwungen. Das Menschenrecht auf ein umfassendes Streikrecht wurde den Lohnabhängigen in Deutschland zu lange vorenthalten. Dieses Demokratiedefizit muss endlich beseitigt werden.


Hans Fricke ist Autor des im August 2008 im Berliner Verlag am Park erschienenen Buches "Politische Justiz, Sozialabbau, Sicherheitswahn und Krieg", 383 Seiten, Preis 19,90 Euro. ISBN 978-3-89793-155-8


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Quelle:
© 2009 Hans Fricke, Rostock
mit freundlicher Genehmigung des Autors
    


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2009