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LAIRE/1104: USA - Food Stamps für jeden zweiten Heranwachsenden (SB)


Bevölkerungsbeschwichtigung mit Hilfe von Lebensmittelmarken

Selbst der neoliberale Kapitalismus der USA kann auf "sozialistische" Staatsinterventionen nicht verzichten


Viele US-Amerikaner haben die Ideologie verinnerlicht, daß staatliche Interventionen als zu dirigistisch abzulehnen sind. Der Staat solle lediglich die Rahmenbedingungen festlegen - und das möglichst freizügig -, und den Rest vom Markt richten lassen, so die vorherrschende Meinung. Die ist nicht nur unter den Republikanern weit verbreitet, sondern auch unter den Demokraten. Das führte beispielsweise dazu, daß der Versuch von US-Präsident Barack Obama, eine Gesundheitsreform einzuführen, die eine Krankenversicherung für alle US-Bürger vorsieht, als "sozialistisch" verteufelt wird und in ihrer ursprünglichen Form nicht durchsetzbar ist.

Was den meisten US-Bürgern nicht bewußt sein dürfte: Da, wo die Not der Bevölkerung zu groß ist, verlassen sie sich und auch ihre Regierung auf den Staat. Sie leben keineswegs in wirklich libertären Verhältnissen. Recht plastisch läßt sich dies anhand des Programms für Lebensmittelmarken vor Augen führen. Mehr als 35 Millionen US-Bürger erhalten staatliche Zuschüsse durch das Supplemental Nutrition Assistance Program (SNAP), das am 1. Oktober 2008 das Food Stamp Program abgelöst hat. Somit verfügt jeder neunte Einwohner der reichsten Nation der Erde über kein genügend hohes Einkommen, um seinen Nahrungsbedarf ausreichend abzudecken.

Noch deutlicher wird das Ausmaß der Abhängigkeit von staatlicher Versorgung in einer Studie der Novemberausgabe der "Archives of Pediatrics & Adolescent Medicine", über die ScienceDaily berichtete. [1] Demnach besitzt fast jeder zweite Heranwachsende bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr mindestens ein Jahr lang Anspruch auf Unterstützung mit Lebensmittelmarken. Immerhin noch mehr als jeder vierte der Anspruchsberechtigten hatte mindestens vier Jahre lang am Food Stamp Program teilgenommen. Und das sind noch veraltete Angaben, die sich auf Haushaltsbefragungen zwischen 1968 und 1997 stützen. In den letzten Jahren hat die Zahl der Bedürftigen stetig zugenommen und erlebt derzeit einen Höchststand.

Der Staat muß eingreifen, weil nach den Regeln des Marktes Menschen hungern müßten. Davor sind sie auch heute nicht gefeit, obgleich es staatliche Hilfsprogramme gibt, aber ohne sie würde sich die Hungerlage zuspitzen. Dann drohten soziale Unruhen. SNAP und andere Hilfsprogramme erfüllen somit eine wichtige Beschwichtigungsfunktion, die für die Mehrheit der Arbeiter und Angestellten sowie die Arbeitslosen vorgesehen ist, damit die Habenden sich sicher fühlen und auf ihrem Besitzstand hocken bleiben können.

In der Vergangenheit hat sich zwar erwiesen, daß staatskapitalistische oder sozialistische Gesellschaften ihre Mitglieder nicht zwangsläufig vor Armut und Hunger schützen. Allerdings zeigen Länder wie Kuba sehr wohl die Fähigkeit und ein zu entwickelndes Potential, daß auch schwierigste Umstände - zum Beispiel das Hereinbrechen eines Wirbelsturms - mit äußerst geringen Opferzahlen überstanden werden können. Auf der anderen Seite hat die enorme Reichtumsanhäufung einer kleinen Oberschicht in den USA nicht verhindert, daß 35 Millionen Einwohner staatliche Lebensmittelmarken erhalten müssen, weil sie vom eifrig angebeteten marktwirtschaftlichen System ausgespuckt wurden.


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Anmerkungen:

[1] "Many US Children May Live In Families Receiving Food Stamps", ScienceDaily, 5. November 2009
http://www.sciencedaily.com/releases/2009/11/091102171415.htm

6. November 2009