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LAIRE/1263: Liebigstraße 14 geräumt ... Kapitel 1 - Sieg des Kapitals (SB)


Ein Gerichtsvollzieher waltet seines Amtes

Gewaltsame Räumung des Wohnprojekts Liebigstraße 14


Es gibt nicht mehr viele alternative Wohnprojekte in Berlin Friedrichshain. Eines davon war die Liebigstraße 14. 1990 besetzt, 1992 als Wohnprojekt durch Mietverträge legalisiert, wurde das Haus im Zuge einer Welle an Immobilienverkäufen durch den Berliner Senat privatisiert. Der Eigentümer kündigte den Mietern. Die weigerten sich, auszuziehen, nachdem all ihr Lösungsvorschläge abgelehnt worden waren. Am Mittwoch rückte die Polizei an, bahnte sich gewaltsam einen Weg ins Innere und verlieh der Herrschaft des Rechts Geltung.

Mit der Räumung der Liebigstraße 14 hat die Polizei die Eigentumsordnung durchgesetzt, nach der jemand etwas besitzen darf, auch wenn er es nicht besetzt, und andere es nicht besetzen dürfen, weil sie es nicht besitzen. Erwartet wird, daß das "Anlageobjekt" künftig aufgewertet werden wird. Hier ist von Werten des Kapitals und seiner Akkumulation die Rede. Zugleich werden im wörtlichen Sinn unschätzbare Werte zerstört. Sie sind nicht rechenbar und lassen sich nicht kapitalisieren, denn sie haben mit der Art und Weise zu tun, wie die Menschen wohnen, arbeiten, ihre Freizeit verbringen. Durch die in der "Liebig 14", wie das Wohnprojekt über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus bekannt wurde, praktizierte alternative Lebenskultur wurde etwas geschaffen, das die Möglichkeit bot, sich einerseits konkret, andererseits im utopischen Verständnis von den Verwertungsbedingungen der Gesellschaft zu befreien.

Es ist keinem Zufall zuzuschreiben, daß sich bei der Auseinandersetzung um den Erhalt dieses Wohnprojekts die Behörden nicht eingemischt und keine annehmbare Lösung für alle Beteiligten gefunden haben, wohingegen beispielsweise im besetzten Hamburger Gängeviertel die Stadt einen teuren Rückkauf der ehemaligen Arbeiterwohnungen vornahm. Wenngleich ein solcher Vergleich nicht in jeder Hinsicht stimmig sein kann, da die Ausgangsbedingungen von Berlin und Hamburg zu unterschiedlich sind, fällt dennoch auf, daß die Berliner Behörden so getan haben, als seien ihnen die Hände gebunden und sie bedauerlicherweise nichts machen könnten, um das Interesse der Liebig 14-Bewohner und -bewohnerinnen zu wahren, während die Hamburger Behörden mit ihrem bis vor kurzem noch grünen Restanspruch für den Erhalt des in verbliebenen Gängeviertels gesorgt hatten.

Ein Wohnprojekt aufzuziehen bedeutet nicht automatisch, die gesellschaftlichen Verhältnisse in Frage stellen zu wollen. Viele Wohnprojekte lassen sich hervorragend als Alternativkultur integrieren und dienen im Prinzip nicht anders als zum Beispiel kleinfamiliäre Lebensentwürfe der Aufrechterhaltung der Produktions- und Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft. Beispielsweise wurde das Gängeviertel von Künstlern besetzt. Eine Künstlerkolonie, zentrumsnah gelegen, kann zur Aufwertung der Stadt Hamburg beitragen. Sollte aber der unwahrscheinliche Fall eintreten, daß die (von Promis unterstützten) Künstler radikalisiert werden und anfangen, sich fundamental zu verweigern und jeglicher Instrumentalisierung zu entziehen - womöglich bis dahin, daß sie die Vergesellschaftung an sich in Frage stellen -, dann wäre auch im Gängeviertel mit einer Intervention der Administration zu rechnen.

Die Liebigstraße 14 hat als alternatives Wohnprojekt einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt und damit Wirkung entfaltet. Die Bewohnerinnen und Bewohner versuchten, etwas anderes zu machen, anders zu leben, und sie haben ihre Vorstellungen offensiv vertreten. Darum hat bei der Räumung nicht allein das Recht entschieden, demzufolge die private Aneignung und Verwertung von Wohnraum als Kapitalanlage einer gemeinschaftlichen Nutzung übergeordnet sei, sondern auch die Ablehnung der praktizierten (autonomen) Lebensentwürfe durch die Verantwortlichen in der Behörde.

Vor, während und nach der Räumung, die Berichten zufolge acht Stunden dauerte und mindestens 2000 Polizisten in Anspruch nahm, praktizierte die Unterstützerszene das, was sie für den am Mittwoch eingetretenen ultimativen Fall angekündigt hatte, und führte zahlreiche dezentrale Aktionsformen durch, bei denen das Eigentumsrecht nicht in jedem Fall respektiert wurde ... Es könnte sein, daß es in der Nacht und den nächsten Tagen turbulent zugehen wird. Das wäre vermeidbar gewesen, wenn entweder die Hausbesetzer und -besetzerinnen der Liebigstraße 14 und alle anderen, die solche Wohnprojekte für unterstützenswert halten, zu der paßförmigen Einsicht gelangt wären, daß Aufbegehren sowieso keinen Zweck hat und daß es vorteilhafter für sie wäre, fortan eine steile Berufskarriere anzustreben, sich politisch uninteressiert zu geben und alle vier Jahre die kaum vorhandene Stimme in Form eines X auf den Wahlzetteln abzugeben. Oder die Käufer des Hauses hätten gemeinsam mit dem Senat eine einvernehmliche Lösung gefunden, bei der gegebenenfalls das Kapitalinteresse der Eigentümer aus städtischen Mitteln bedient und das Wohninteresse der Mietparteien bedacht worden wäre. Letzteres scheint irgendwie machbarer gewesen zu sein ...

Die Räumung der besetzten Liebigstraße 14 ist ein Politikum, das mit der gegenwärtigen Sicherung des Hauses durch einen privaten Wachdienst keineswegs als abgeschlossen angesehen werden kann. Mögen die Lebensverhältnisse selbst der ärmeren Bevölkerungsschichten Deutschlands noch über denen Tunesiens, Jemens oder Ägyptens liegen, entstanden die aktuellen Revolten in diesen Ländern nicht aus heiterem Himmel. Sie bauten sich allmählich auf, über viele Jahre hinweg. Dazu trugen zahlreiche Vorfälle einer staatlich abgesicherten Bereicherung durch Privatpersonen bei, wie es aktuell an der Liebigstraße 14 vorexerziert wird. Das ist das erste Kapitel der Geschichte einer Auseinandersetzung, die noch nicht zu Ende geschrieben ist.


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Ebenfalls zur Besetzung der Liebigstraße 14:
POLITIK -> KOMMENTAR -> KULTUR
KULTUR/0876: Liebigstraße 14 vor Zwangsräumung - Kampf um urbanen Freiraum und darüber hinaus (SB)

2. Februar 2011