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LAIRE/1264: Tunesien wird zum Gefängnis - EU verteidigt Wohlstandsgefälle gegenüber Flüchtlingen (SB)


Bewegungsfreiheit - ein Lehen der herrschenden Kräfte

Tunesische Übergangsregierung riegelt die Küste ab, um Flüchtlinge am Verlassen des Landes zu hindern


Tausende Tunesier sind nach Europa aufgebrochen. Auf der 150 Kilometer vom tunesischen Festland entfernt gelegenen italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa trafen in den letzten Tagen mehr als 5500 Menschen ein. Der italienische Innenminister Roberto Maroni von der ultrarechten Partei Lega Nord phantasierte bereits einen "biblischen Exodus" und schlug vor, italienische Sicherheitskräfte an die tunesische Küste zu verlegen, um die Flüchtlingswelle vor Ort abzuwehren. Faktisch käme das einer Art Seeblockade des nordafrikanischen Staates gleich.

Maronis unmoralisches Angebot, mit dem das Souveränitätsrecht Tunesiens außer Kraft gesetzt worden wäre und das Land zumindest partiell zu einer Art Balkanrepublik unter Fremdherrschaft gemacht hätte, wurde seitens der tunesischen Regierung zurückgewiesen. Man lehne jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten kategorisch ab, teilte ein Sprecher des Außenministeriums mit; zu einer Zusammenarbeit mit befreundeten Staaten sei man jedoch bereit. Da sich die italienischen Sicherheitskräfte höchstwahrscheinlich nicht der Befehlsgewalt der tunesischen Behörden unterstellt hätten, ist die strikte Absage nachvollziehbar. Tunesien ist kein gescheiterter Staat, sondern befindet sich, zumindest den wohlfeilen Worten der Übergangsregierung zufolge, auf dem Weg, das Erbe einer langjährigen Diktatur abzustreifen. Dabei wären fremde Truppen auf dem heimischen Territorium keine akzeptablen Startbedingungen.

Allerdings läßt die Blockade des Hafens Zarzis sowie der Beginn der Abriegelung des übrigen Küstenstreifens durch die tunesische Armee befürchten, daß die Befreiungsbewegung der Bevölkerung in gefällige, kontrollierbare Bahnen gelenkt werden soll. Vielleicht handelt die tunesische Armee aus eigenem Antrieb, vielleicht auch auf Druck seitens Italiens und der Europäischen Union, entscheidend ist, daß sie sich an der gewaltsamen Aufrechterhaltung eines krassen Gefälles zwischen dem vergleichsweise hohen Lebensstandard der Menschen in Europa und dem in Tunesien beteiligt.

Die EU und ihre Mitglieder reagieren auf höchster politischer Ebene auf den Sozialkonflikt in Tunesien. Zum Auftakt ihrer - allerdings seit längerem geplanten - mehrtägigen Reise nach Nordafrika und in den Nahen Osten traf die EU-Außenbeauftragte und Vizepräsidentin der EU-Kommission Catherine Ashton am Montag in Tunis ein, wo sie mit Ministerpräsident Mohamed Ghannouchi, mehreren Ministern und Vertretern der Zivilbevölkerung sprechen wollte. Abgesehen von Ashtons offiziellen Auftrag, herauszufinden, wie die EU Tunesien auf dem Weg zur Demokratie helfen kann, war die aktuelle Flüchtlingsentwicklung Schwerpunkt der Gespräche.

Die EU ist vordringlich daran interessiert, daß Tunesien die Flüchtlingsbewegung dauerhaft eindämmt. So wie früher, als man sich bestens mit dem südlichen Nachbarn verstand. Die Übergangsregierung soll nun genau die gleiche Aufgabe erfüllen wie die Regierung des nach Saudi-Arabien geflohenen Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali. Es geht dabei um die Verteidigung des Wohlstandsraums Europa gegenüber den marginalisierten Regionen Afrikas und des Mittleren Ostens, denen in diesem Weltordnungskonzept die Funktion von Produktionsräumen zugewiesen wird. Würde es der tunesischen Marine nicht gelingen, könnte es trotz der Ablehnung von Maronis Vorschlag dazu kommen, daß italienische Küstenwach- und Kriegsschiffe versuchen werden, eine Seeblockade gegen das nordafrikanische Land zu etablieren.

Dem greift die tunesische Marine anscheinend vor. Italienische Medien berichten unter Berufung auf eine arabische Website, daß ein Schnellboot der tunesischen Marine ein Flüchtlingsboot gerammt hat, wobei 29 Insassen ums Leben kamen. Wieviele solcher Vorfälle ohne Augenzeugen geschehen sind, ist naturgemäß nicht bekannt. Inwiefern die tunesische Marine auf den Druck seitens Maronis, der sich darüber empört gezeigt hatte, daß sich die neue tunesische Regierung augenscheinlich nicht mehr an das bilaterale Abkommen zur Begrenzung von Flüchtlingsströmen halte, reagiert hat, wäre wohl nur bei der Einrichtung einer Untersuchungskommission herauszufinden. Dazu wird es vermutlich nicht kommen. Menschenleben zählen wenig an der Südflanke der Europäischen Union, wo jedes Jahr zahllose Flüchtlinge ertrinken.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte am Montag in Berlin, daß es keine generelle Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland geben wird. Es könnten "nicht alle Menschen, die in Tunesien jetzt nicht sein wollen, jetzt nach Europa kommen". Die EU-Kommission bereitet die europäische Grenzschutzagentur Frontex auf einen Einsatz zur Überwachung der Flüchtlingslage vor. Italien, das für Lampedusa den Notstand ausgerufen hat, darf die Flüchtlinge nicht automatisch in ein anderes Land bringen. Zunächst müssen die Asylanträge geprüft werden.

An diesem aktuellen Beispiel wird deutlich, wie weitreichend sich die Europäische Union bereits vor Menschen schützt, die aus einer Not heraus versuchen, ihr Leben oder das ihrer Verwandten im jeweiligen Heimatland zu retten. Die kurzzeitige Schwächephase des Grenzschutzes im Bereich der tunesischen Küste zeigt anschaulich, daß das frühere diktatorische Regime Ben Alis ein fester Bestandteil der europäischen Abschottungspolitik war. Kaum daß der Grenzschutz lockerer gehandhabt wurde, entlädt sich der Druck, der auf der Bevölkerung lastet. Die wollte die Gelegenheit nicht verpassen und durch die Lücke nach Europa vorstoßen.

Die Vorverlagerung der Flüchtlingsabwehr in die Peripheriestaaten bildet den Kern der EU-Verteidigungsstrategie. Bei Besuchen wie dem Catherine Ashtons am Montag und dem außerplanmäßigen Treffen des italienischen Außenministers Franco Frattini mit der tunesischen Übergangsregierung am Dienstag werden politische und ökonomische Zwänge aufgebaut, damit Tunesien bei der Flüchtlingsabwehr nicht nachlässig wird. Hinzu kommen die Überwachungs- und Koordinierungsaufgaben der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex, die mit den nationalen Küstenwachen zusammenarbeitet. Rechtliche Maßnahmen wie die Drittstaatenregelung, Rückführungsabkommen und die breite Ablehnung von Asylanträgen selbst von Flüchtlingen aus Konfliktgebieten sind ebenfalls Bestandteil der Verteidigung einer Eigentumsordnung, durch die sich die Europäische Union gegenüber anderen Weltregionen dauerhaften Vorteil zu sichern versucht.

Zahlreiche europäische Politiker haben Tunesien Hilfe angeboten. Die Absicht ist durchsichtig: Sie wollen diese privilegierte Position verteidigen. Wenn also Bundesaußenminister Guido Westerwelle erklärt, daß "die beste Antwort auf die Flüchtlingsströme" darin bestehe, "dafür zu sorgen, daß die Menschen nicht aus Not und Armut das eigene Land verlassen", klingt das zunächst vernünftig, doch sagt er damit der vorherrschenden Eigentumsordnung nicht den Kampf an, sondern spricht von Regulierungsmaßnahmen zur Befriedung des sozialen Konflikts. Die tunesische Übergangsregierung stellt sich dem nicht entgegen, sondern erfüllt die Forderung der EU, möglichst keine Flüchtlinge aus dem Land zu lassen. Die tunesische Bevölkerung wird zur Gefangene eines Pakts ihrer Regierung mit der Europäischen Union.

14. Februar 2011