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LAIRE/1312: Nach Berlin-Anschlag wird Reisefreizügigkeit in Frage gestellt (SB)


Die Antwort des Westens auf Gegenschläge in seinen Metropolen: Grenzen errichten, Flüchtlinge abwehren, Kulturkampf forcieren


Nach dem Anschlag mit einem Lkw auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin kocht die Debatte wieder auf, wie der mutmaßliche Attentäter Anis Amri überhaupt nach Deutschland einreisen und wieso er nach der Tat trotz des europaweiten Fahndungsaufrufs über die Niederlande und Frankreich nach Italien weiterreisen konnte, wo er dann bei einer Polizeikontrolle erschossen wurde. Hätte man das nicht verhindern können?

Die Aufhebung der Binnengrenzen im Schengen-Raum könnte zu einer kurzen, vorübergehenden Phase der Geschichte werden. In Ländern wie Deutschland, Dänemark, Österreich, Schweden und dem Nicht-EU-Mitglied Norwegen sind längst wieder Grenzkontrollen eingeführt. Einige Länder wie Österreich und Ungarn errichteten entlang ihrer Grenze Zäune, die dort nie zuvor existiert hatten. Mit jedem weiteren Anschlag in Europa, der vom Islamischen Staat oder anderen dschihadistischen Organisationen begangen wird, verstetigt sich die bereits verhängte "vorübergehende" Aufhebung der Reisefreizügigkeit innerhalb des Schengen-Raums. Dabei war genau das eines der wichtigsten Leckerlis, mit denen die EU-Befürworter für ihr Projekt geworben haben: Von Skandinavien bis Sizilien fahren, ohne einen einzigen Schlagbaum passieren zu müssen - die Reisefreizügigkeit stand und steht wie kaum etwas anderes als ein Symbol für die politische Offenheit und angebliche Überlegenheit des Europas der Aufklärung, kurzum für ein durch und durch demokratisches Europa.

Diese Demokratie wird auf einmal angegriffen, lautet die im allgemeinen sehr verkürzte Deutung der Anschläge von Paris, Nizza, Brüssel, Berlin und anderen europäischen Städten. Doch es war nicht der Islamische Staat, der "uns" zuerst angegriffen hat, sondern "wir" waren es, die die Menschen im Nahen und Mittleren Osten zuerst attackierten und bluten ließen. Es zieht sich eine rote Linie vom Sykes-Picot-Abkommen von 1916, in dem die Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien die Grenze ihrer Einflußgebiete im Osmanischen Reich aufgeteilt haben, über die Golfkriege 1990/91 und 2003, die von den USA und ihren Verbündeten gegen Irak geführt wurden, bis zum Sturz des libyschen Revolutionsführers Muammar Gaddafi 2011 durch ein NATO-angeführtes Bündnis und dem bislang gescheiterten Sturzversuch des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad durch eine Allianz westlicher Staaten unter anderem mit arabischen Ölförderstaaten. Eine der Wurzeln des IS bilden jene Sunniten, die im Irak nach Saddam Hussein von der schiitisch dominierten Regierung marginalisiert wurden. Der Westen ist ein wesentlicher Geburtshelfer des IS.

Diesen hier nur angerissenen historischen Kontext nicht zu vernachlässigen ist insofern wichtig, als daß sich daran zeigt, wer der ursprüngliche Aggressor ist. Wenn jetzt gefragt wird, ob man bei strengeren Grenzkontrollen und der Einrichtung von sogenannten Transitzentren, wie sie unter anderem von CSU- und CDU-Mitgliedern gefordert werden, nicht hätte verhindern können, daß der Tunesier Anis Amri zwölf Menschen in Berlin tötet und Dutzende verletzt, dann wird derjenige, der sich gegen eine solche Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen ausspricht, von vornherein in eine argumentativ defensive Position manövriert. Würde er sich doch mit seiner Einstellung über den Tod von zwölf Menschen hinwegsetzen.

Das Kernproblem bleibt jedoch unerwähnt: Wir, der Westen, auch Deutschland, führen einen Krieg gegen die anderen, und dieser Krieg wird hierzulande gar nicht wahrgenommen. Aber das gilt nicht für die Welt, aus der heraus der IS entstanden ist. Dort ist man sich der räuberischen Konsequenzen der hegemonialen Interessen des Westens, einst wie heute, sehr gewahr. Damit soll nicht behauptet werden, daß der Anschlag von Berlin als Bestandteil eines antikolonialen Befreiungskampfs anzusehen wäre. Vielmehr handelt es sich um einen schon sehr viel älteren Kampf der Kulturen, dessen Schlachtfeld inzwischen entgrenzt ist.

Das Wohlstandsgefälle zwischen Europa und Afrika ist in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen - treffend ins Bild gesetzt durch die immer höheren Zäune und aufwendigeren Grenzbefestigungsanlagen an den wenigen Stellen, an denen ein europäisches Land direkt an ein afrikanisches grenzt. Noch Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre gab es zwischen den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla und Marokko Grenzen mit Schlagbäumen, aber die waren meist hochgestellt. Jeder konnte nahezu beliebig nach Europa einwandern, wenn er wollte. Doch das wurde nicht in Anspruch genommen. Seitdem wächst das Wohlstandsgefälle so stark an, daß Europa ungeheuer attraktiv wird.

Die hochgestellten Schlagbäume in den spanischen Exklaven sind zwei sechs Meter hohen Zäunen sowie anderen Hightech-Grenzbefestigungsanlagen gewichen. Die EU, die so sehr mit der Freizügigkeit im Schengen-Raum geworben hat, errichtet im Innern inzwischen wieder Schlagbäume, weil durch ihre Politik laufend weitere Gründe geschaffen werden, die dies vernünftig erscheinen lassen.

Hätte es genauere Grenzkontrollen, einen engeren Zusammenschluß der nationalen Sicherheitsapparate innerhalb der EU und grenznahe Transitzentren, bei denen Verdachtspersonen einer genaueren Überprüfung unterzogen werden können, bereits vor längerer Zeit gegeben, wäre dann der Anschlag von Berlin ausgeblieben und wären jene zwölf Menschen noch am Leben? Möglicherweise ja. Sie wären aber wahrscheinlich ebenfalls noch am Leben, hätte der Westen schon vor langer Zeit darauf verzichtet, einen Kampf der Kulturen zu führen, hegemoniale Absichten zu entwickeln und vor diesem Hintergrund Ressourcensicherung sowohl mittels Waffen- als auch Handelsgewalt zu betreiben.

2. Januar 2017


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