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LAIRE/1349: Hunger - Verwertungs- und Verteilungsbrüche ... (SB)



Die Zahl der Hungernden weltweit ist das dritte Jahr in Folge gleich geblieben oder leicht gestiegen. Hatte die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, FAO, vor einigen Jahren noch durch eine Modifikation der Zählweise den Eindruck vermittelt, der Hunger sei auf dem Rückzug, läßt sich inzwischen nicht mehr verbergen, daß immer weniger Menschen genügend zu essen haben. Zumal inzwischen offiziell über zwei Milliarden Menschen zwar nicht akut hungern, aber chronisch unterernährt bzw. mangelernährt sind. Einen unmittelbaren Hungertod erleiden Schätzungen zufolge etwa neun Millionen Menschen pro Jahr; davon betroffen sind vor allem Kinder.

Die Weltgetreideernte hat zwar zugenommen, aber das vermochte die Not nicht zu verringern, denn ein wachsender Anteil des Getreides geht in die Tiermast, von der wiederum vergleichsweise weniger Menschen profitieren. Außerdem wird nach wie vor viel Getreide zu Biosprit verarbeitet oder geht auch deshalb verloren, weil die ärmeren Länder keine ausreichende Unterstützung für eine relativ einfache Maßnahme, den Bau und Betrieb von Lagerhäusern erhalten, in denen weder Nager, Insekten noch Pilze das Getreide verderben. Schätzungen zufolge wird weltweit bis zu einem Drittel der produzierten Nahrung weggeworfen.

Vor kurzem haben die FAO und Partnerorganisationen den Bericht "The State of Food Insecurity and Nutrition in the World: Safeguarding Against Economic Slowdowns and Downturns 2019" veröffentlicht. [1] Demnach hatten im vergangenen Jahr 821,6 Millionen Menschen Hunger erfahren (2017: 811 Mio.). Bei 113 Millionen von ihnen war die Nahrungsnot sogar akut. Die meisten Hungernden gibt es in den Subsaharastaaten, in Westasien und der Karibik.

Seit den 1960er Jahren hat sich die Weltgetreideernte von 200 Kilogramm pro Kopf und Jahr auf 400 Kilogramm pro Kopf und Jahr verdoppelt, obschon in der gleichen Zeit die Zahl der Menschen von drei Milliarden auf über sieben Milliarden gestiegen ist. Bis 2050 werden voraussichtlich zehn Milliarden Menschen die Erde bevölkern, was nach Einschätzung der Vereinten Nationen eine Zunahme der Weltgetreideernte um 50 Prozent erforderlich macht - allerdings ohne daß dabei die Anbaufläche ausgedehnt werden darf, weil das wiederum Entwaldung und Trockenlegung von Mooren einschlösse. Das würde die Erderwärmung weiter befeuern und die Nahrungsnot verstärken.

Die FAO nennt drei Gründe für den wachsenden Hunger: Bewaffnete Konflikte, Klimawandel und ökonomische Schocks. Ein Grund, eine Ursache oder eine Voraussetzung für den Hunger wird jedoch nicht genannt: Das vorherrschende Vorteilsstreben von Staaten, Gesellschaften und Individuen.

Der Hunger entsteht in einer Welt, in der sich das globale Klima in Folge des energie- und ressourcenintensiven Lebensstils des geringeren Teils der Menschen verändert. Die Erde heizt sich auf, was vielfältige Auswirkungen auf nahezu alle Natursysteme hat. Davon sind auch jene klimatisch benachteiligten und ärmeren Regionen betroffen, die am wenigsten für die klimatische Veränderung verantwortlich sind.

Ebenfalls entsteht Hunger in einer Welt, in der bewaffnete Konflikte nicht nur, aber auch und manchmal sogar wesentlich von außen geschürt oder befördert werden, damit die wohlhabenderen Menschen, die außenstehende Beobachter des Hauens und Stechens bleiben, weiterhin ihre Privilegien genießen können.

Nicht zuletzt entsteht der Hunger in einer Welt, in der ökonomische Schocks - die FAO nennt hier explizit die Jahre 2008/2009 - im Ergebnis dazu führen, daß einige Staaten davon profitieren, andere dagegen dauerhaft Nachteile erleiden.

Genauso wie an dieser Stelle nicht behauptet werden soll, daß bei jenem weltweiten wirtschaftlichen Einbruch alles von vorne bis hinten durchkalkuliert und gesteuert war, wird hier doch davon ausgegangen, daß manche Entwicklungen gelenkt wurden, um bestimmte Interessen zu bedienen. Welche das sind, ist kein Geheimnis, das Ergebnis spricht für sich. In der globalen Nationenkonkurrenz geht es um die Wahrung des eigenen Vorteils, ob durch multilaterale Bündnisse in Abgrenzung zu denen, die nicht daran teilhaben, oder aktuell durch den Trumpschen Protektionismus und seine "America-first"-Politik.

Viele Millionen Menschen, acht Prozent der Bevölkerung, in Nordamerika und Europa haben 2018 moderate Ernährungsunsicherheit erlebt und werden von der FAO der Gruppe der gut zwei Milliarden Menschen zugerechnet, die entweder gehungert oder eben Ernährungsunsicherheit erfahren haben.

Das bedeutet, daß die Spaltung der Menschheit zwar hauptsächlich, aber nicht ausschließlich zwischen dem Globalen Norden und Globalen Süden verläuft, und daß die Lebensverhältnisse von Wohlstandsregionen wie Deutschland nicht so vorteilhaft bleiben müssen, wie sie gegenwärtig noch sind. In einer Welt, in der 26 Milliardäre soviel Vermögen angehäuft haben wie die ärmere Hälfte der Menschheit, dürfte sich der Trend zu Hunger und Ernährungsunsicherheit fortsetzen, wenn ihm nicht grundsätzlich Einhalt geboten wird. In diesem Zusammenhang bleibt der UN-Statusbericht jedoch eher vage, wenn er Empfehlungen ausspricht wie:

"Um die Ernährungssicherheit und -ernährung * zu gewährleisten, ist es von entscheidender Bedeutung, bereits über eine Wirtschafts- und Sozialpolitik zu verfügen, um den Auswirkungen widriger Wirtschaftszyklen bei deren Eintreffen entgegenzuwirken und gleichzeitig Kürzungen bei grundlegenden Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung und Bildung um jeden Preis zu vermeiden. Längerfristig wird dies jedoch nur durch die Förderung eines armutsorientierten und integrativen Strukturwandels möglich sein, insbesondere in Ländern, die stark vom Handel mit Primärrohstoffen abhängig sind."

Der Begriff "Strukturwandel" ist vieldeutig. Es stellen sich Fragen wie: Würde nach dem Strukturwandel noch eine Vermögensanhäufung möglich sein, wie sie oben erwähnt wird? Bedeutet Strukturwandel, daß sich die Vereinten Nationen in Zukunft mit aller Kraft dafür einsetzen, daß die Voraussetzung der Vermögensanhäufung, die Eigentumsordnung, hinterfragt wird?

Weiter heißt es in dem Bericht: "Um sicherzustellen, daß der Strukturwandel armutsorientiert und integrativ ist, müssen Nahrungsmittelsicherheit und Ernährungsweise in die Bemühungen zur Armutsbekämpfung einbezogen werden, während gleichzeitig gewährleistet wird, daß die Verringerung der geschlechtsspezifischen Ungleichheiten und der sozialen Ausgrenzung von Bevölkerungsgruppen entweder das Mittel oder das Ergebnis einer verbesserten Nahrungsmittelsicherheit und Ernährungsweise ist."

Hier wird von "Verringerung der (...) Ungleichheiten" und der sozialen Ausgrenzung, nicht aber von deren Beseitigung gesprochen. Und wenn von einer Verbesserung der Nahrungsmittelsicherheit die Rede ist, dann wäre sie theoretisch schon erreicht, wenn auch nur ein einziger Mensch unter den 821,6 Mio. hungernden Menschen weniger hungert.

Solch einen Statusbericht zu erstellen, erweist sich als keine Maßnahme zur entschiedenen Bekämpfung von Hunger und seinen sozialen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, sondern zu deren Legitimation und zur Beschwichtigung der davon Betroffenen sowie aller, die sich für sie einsetzen. Bei solchen Statusberichten wundert es nicht, daß die Beseitigung des Welthungers ein Dauerthema bleibt, das weit ins vergangene Jahrhundert zurückreicht und, wie man erwarten kann, es auch über das von den Vereinten Nationen ausgewiesene Nachhaltigkeitsziel 2 zur Beendigung des Hungers über die zeitliche Zielmarke des Jahres 2030 hinaus bleiben wird.


Fußnote:

[1] http://www.fao.org/state-of-food-security-nutrition/en/

23. Juli 2019


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