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DILJA/1099: Waffenruhe in Gaza - Die Kriegsgemeinschaft verhandelt das politische Erbe (SB)


"Waffenruhe" - Israel stellt das Morden im Gazastreifen vorerst ein

Die internationale Kriegsgemeinschaft verhandelt über das politische Erbe des Krieges


UN-Generalsekretär Ban Ki Moon hat sich am vergangenen Donnerstag bei Verhandlungen oder Konsultationen, die gegenüber der Öffentlichkeit als "Vermittlungsgespräche" bezeichnet wurden, angesichts der Bombardierung des Hauptquartiers des UN-Hilfswerks (UNWRA) in Gaza "empört" gezeigt. Da die Vereinten Nationen der israelischen Armee die GPS-Daten dieses Gebäudes übermittelt hatten, um zu verhindern, was dann doch geschah, kann ein unabsichtlicher Beschuß ausgeschlossen werden. Bei diesem Angriff wurden drei UN-Mitarbeiter verletzt und Hunderte Tonnen dringend benötigter Hilfsgüter durch das in Brand geschossene Lager zerstört. Die Folgen dieses Angriffs waren so verheerend, daß UNWRA wie auch die Hilfsorganisation CARE ihre Hilfeleistungen vollständig einstellen mußten.

Einen Tag später zog Tony Laurance, der Leiter des Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Gaza, eine erste Schreckensbilanz dieses Krieges, in dem allen internationalen Vereinbarungen zum Trotz ebenso gezielt wie systematisch medizinische Einrichtungen und Hilfsdienste zu Angriffszielen gemacht worden sind. Laurance zufolge wurden seit Beginn der Angriffe am 27. Dezember 16 Krankenhäuser und Sanitätsstationen beschädigt und 16 Krankenwagen zerstört, und es bedarf keiner weiteren Erwähnung, daß diese Schäden durch die israelische Armee und nicht durch die Milizen der Hamas oder eine der anderen palästinensischen Organisationen angerichtet wurden. Die israelische Armee tötete in den drei zurückliegenden Kriegswochen 13 Rettungshelfer und Ärzte, 22 weitere wurden verletzt.

Die Zahl der durch Israel im Gazastreifen getöteten medizinischen Helfer entspricht der Zahl der Toten, die Israel in diesem Krieg insgesamt verzeichnen konnte. Dreizehn tote Israelis, drei Zivilisten und zehn Soldaten, von denen etliche durch Feuer aus der eigenen Truppe ums Leben kamen, machen ein Hundertstel des Blutzolls aus, der auf palästinensischer Seite zu beklagen ist. Nach palästinensischen Angaben sind 1310 Menschen in diesem Krieg getötet und über 5400 verletzt worden. Die tatsächliche Asymmetrie dieses Krieges, die sich mit diesen nackten Zahlen und den dahinterstehenden menschlichen Tragödien keineswegs in angemessener Weise widerspiegeln läßt, dürfte ein noch weitaus eklatanteres Unverhältnis ergeben, da auf palästinensischer Seite durch die permanenten Luft-, Panzer- und Infanterieangriffe die Infrastruktur der gesamten im Gazastreifen lebenden Bevölkerung so sehr und systematisch in Mitleidenschaft gezogen und zerstört wurde, daß die Notlagen und Sorgen um das tägliche Überleben im Vergleich zum Vorkriegszustand noch immens gestiegen sein müssen.

Doch diese Nöte sind nicht die Nöte der sogenannten internationalen Gemeinschaft und schon gar nicht diejenigen Israels. Die Empörung des UN-Generalsekretärs Ban verebbte so schnell, wie sie ihre Pflicht gegenüber der Öffentlichkeit getan hatte. John Ging, der Koordinator des UN-Hilfswerks, erklärte, in der Nähe der Lagerhallen des bombardierten UNWRA-Hauptquartiers stehend, in denen wenige Stunden zuvor Lebensmittel für 750.000 Palästinenser verbrannt waren, daß der Angriff am Donnerstagmorgen genau eine Stunde, nachdem 700 Zivilisten dort angekommen und Schutz gesucht hatten, erfolgt war. Ging wies die Behauptung Israels zurück, es hätten sich militante Kämpfer in dem angegriffenen Gebäude aufgehalten, denen der Angriff gegolten hätte. Es müsse eine unabhängige Untersuchung geben, so die Forderung des UN-Koordinators, der erklärte, daß diese Gebäude das "zentrale Nervensystem unserer Arbeit in Gaza" gewesen seien und daß die israelische Armee dies genau gewußt habe.

Dieser Vorfall ist beileibe kein Einzelfall, denn von Beginn an war die israelische Militärmaschinerie gegen die im Gazastreifen lebenden Menschen und deren Infrastruktur eingesetzt worden. Die Erklärung des israelischen Ministerpräsidenten Ehud Olmert, der am Samstag in einer Fernsehansprache behauptet hatte, daß Israel versucht habe, "zivile Opfer zu minimieren, was nicht viele Staaten der Welt so gemacht hätten", kann insofern nur als eine weitere Präsentation der politischen Position, die Israel vor der Weltöffentlichkeit nach und trotz dieses mörderischen Krieges glaubt einnehmen zu können, aufgefaßt werden. Eine Androhung weiterer Kriege dieser oder noch schlimmerer Art ließe sich wohl ebenfalls aus Olmerts Worten heraushören, der bei dieser Gelegenheit einmal mehr die Hamas zum Feind erklärte und ihr die Toten der israelischen Kriegführung durch die an die im Gazastreifen lebenden Menschen gerichtete Behauptung vollständig zuzulasten versuchte: "Wir hassen euch nicht in Gaza. Israel ist nicht euer Feind. Jedes tote Kind ist ein Opfer der Hamas. Hamas ist der Feind."

Hamas ist der Feind - das mag Israel so sehen, und auch die westlichen Verbündeten Israels, mehr oder minder offen in die Kriegführung und politische Rückendeckung dieser Offensive eingebunden, werden nicht müde, diese Kriegsrhetorik wieder und wieder nachzubeten. Mit der Realität, dem tatsächlichen Wollen, Denken und Wünschen der im Gazastreifen lebenden Menschen, hat diese Lesart selbstverständlich nicht den geringsten Berührungspunkt. Die internationale Kriegsgemeinschaft, zu der neben den durch Waffenlieferungen direkt in die Kriegführung involvierten US-amerikanischen auch die EU-europäischen Partner zu zählen sind, ging nach der von israelischer Seite in der Nacht von Samstag auf Sonntag um 1 Uhr mitteleuropäischer Zeit in Kraft getretenen "einseitigen" Waffenruhe unmittelbar zur Tagesordnung über. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon, der kurz zuvor noch beim israelischen Verteidigungsminister Ehud Barack gegen den israelischen Angriff auf das UNWRA-Hauptquartier protestiert und die hohe Zahl der palästinensischen Todesopfer moniert hatte, stellt nun an Israel lediglich die Forderung, die Truppen rasch aus dem Gazastreifen zurückzuziehen.

Nichts anderes hatte Israel jedoch ohnehin vor, so daß eine solche Forderung einer Null-Aussage gleichkommt. Am Sonntag war der Rückzug der israelischen Truppen bereits im Gange. Im ägyptischen Badeort Scharm el Scheich findet bereits eine "internationale Konferenz" statt, auf der über die Zeit nach dem Krieg und die Zukunft des Gazastreifens verhandelt wird - selbstverständlich ohne Beteiligung der Hamas und damit der 2006 gewählten Palästinenserregierung, die zu diesem Treffen gar nicht eingeladen wurde. Die Kriegsgemeinschaft blieb unter sich, und so verhandeln israelische Delegierte wie gewohnt mit ihren Partnern aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien sowie mit Gastgeber Ägypten über das politische Erbe dieses Krieges.

Da Deutschland, Frankreich und Großbritannien sich darin einig sind, im Interesse Israels dafür zu sorgen, den "Waffenschmuggel" zu unterbinden (gemeint sind etwaige Verbindungen zwischen dem Gazastreifen und Ägypten, durch die Waffen und mehr noch Lebensmittel in das drangsalierte Küstengebiet gelangen, während die Waffenlieferungen des Westens an Israel überhaupt nicht thematisiert werden), scheint die Implementierung internationaler Truppen in das Kerngebiet des Nahostkonfliktes nähergerückt zu sein. Dies könnte unter anderem zur politischen Ernte dieses Krieges gehören, dessen Früchte seine Initiatoren und Nutznießer unmittelbar nach der Verkündung der Waffenruhe einzufahren bestrebt sind.

Mit einem Frieden, der etwas anderes bedeutet als die vollständige Überantwortung der Palästinenser unter die Maßgaben einer internationalen Phalanx, in der Israel neben den USA sogar die Wortführerschaft innezuhaben scheint, ist bei diesen Gesprächen in Scharm el Scheich nicht zu rechnen. Die Berechnung des politischen Erbes könnte sich jedoch aus Sicht dieser Strategen als durchaus fehlerhaft herausstellen, weil sie in dem Rausch des vermeintlichen militärischen Sieges der israelischen Armee gern vernachlässigen, daß sie zwar Menschen in unbegrenzter Zahl töten, verletzen und ihrer Lebensgrundlagen berauben können, nicht jedoch deren Denken und Handeln darüber kontrollieren und bestimmen können. Wie Uri Avnery, der wohl renommierteste Kriegsgegner und Friedensaktivist in Israel, am heutigen Montag gegenüber NDR Info ausführte, ist der Schlag, den die israelische Armee den Hamas-Kämpfern, von denen nach israelischen Angaben mehrere hundert, nach Angaben der islamischen Organisation 48 getötet wurden, "militärisch betrachtet eine Bagatelle".

Die politische Frage hingegen, ob die Hamas durch diesen Krieg populärer oder unpopulärer geworden sei, beantwortete Avnery damit, daß sie "bei weitem noch populärer" geworden ist. Die Wut der Bevölkerung gegen die israelische Militärmacht sei so groß geworden, daß die Hamas nicht nur im Gazastreifen, sondern in allen Palästinensergebieten sowie in der gesamten arabischen Welt als Helden betrachtet würden, denen es gelungen sei, als kleine Guerillatruppe 22 Tage lang der ungeheuren militärischen Maschine Israels standzuhalten. Die Palästinenserbehörden unter Präsident Mahmud Abbas hingegen, die als einzige Verhandlungspartner von Israel akzeptiert werden würden und die auch die bevorzugten Ansprechpartner der westlichen Staaten sind, haben nach Ansicht Avnerys im Zuge dieses Krieges, sofern dies überhaupt noch möglich ist, noch mehr an Ansehen verloren. Die sogenannten Autonomiebehörden werden, so Avnery, von den meisten Palästinensern als Kollaborateure angesehen, als eine Art "Vichy-Regime", das ohnehin in dem schlechten Ruf steht, trotz jahrelanger Verhandlungen mit Israel nicht das geringste Zugeständnis erwirtschaftet zu haben.

Wenn dies die Partner sind, mit denen die israelisch-europäisch-amerikanische Kriegsallianz im Nahen Osten ihre Befriedungspläne zu Lasten der palästinensischen Bevölkerung, die nicht nur seit Jahrzehnten unter israelischer Besatzung, sondern im Gazastreifen unter einer Totalblockade und im Westjordanland durch Mauerbau und jüdischen Siedlungsbau seit Jahren mehr und mehr in die Enge getrieben wird, durchsetzen möchte, ist es um deren Realisierungschancen denkbar schlecht bestellt. Derweil feiert Israel einen Krieg, dem ihren eigenen Angaben zufolge tausende Zivilisten zum Opfer fielen, als einen Erfolg. Ministerpräsident Olmert zeigte sich zufrieden, weil "die Wirklichkeit im Süden Israels nach der Militäroperation eine andere" sei; Außenministerin Zipi Livni meinte, Israel habe seine Mission im Gazastreifen erfüllt. Sie verwechselt die Unterstützung, die Israel von seiten der führenden westlichen Staaten fraglos erhalten hat und auch zukünftig erhalten würde, mit einer Position tragfähiger politischer Stärke. Gemünzt auf die Hamas erklärte sie laut NDR Info, daß diese nun wüßte, "was Israel tut, wenn man es trifft" und daß auch "die Welt" dies wisse und sogar akzeptiere. "Die Welt" allerdings besteht aus weitaus mehr Menschen, als diese Kriegsallianz dominieren zu können glaubt, und um deren Akzeptanz dieses Krieges ist es denkbar schlecht bestellt.

19. Januar 2009