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DILJA/1158: Frontabschnitt Afghanistan - US-Streitkräfte handeln nur bedingt rational (SB)


Die militärische Ratio würde den Rückzug westlicher Truppen aus Afghanistan angeraten erscheinen lassen

Tatsächlich ist die Obama-Administration zur bedingungslosen Kriegführung entschlossen


Um die Verlängerung des UN-Mandats für die im Afghanistankrieg kämpfenden westlichen Truppen um ein weiteres Jahr zu begründen, hatte UN-Generalsekretär Ban Ki Moon dem Weltsicherheitsrat bereits im März einen Bericht vorgelegt, aus dem hervorging, daß die USA und ihre Alliierten wie auch die afghanische Polizei sowie das Militär der Regierung Karsai von den Aufständischen so hart bedrängt werden wie noch nie seit Beginn der Invasion. Die nächsten Monate wurden in diesem Bericht als entscheidend für den Krieg in dem Land am Hindukusch bewertet. Wenngleich diese Lagebeschreibung eindeutig dem Zweck geschuldet ist, das UN-Mandat für diesen Krieg zu verlängern, scheint doch die darin angedeutete defensive Lage der ihren Gegnern eigentlich haushoch überlegenen westlichen Truppen keineswegs gegenstandslos zu sein.

Als der neue US-Präsident Barack Obama noch im gleichen Monat von seinen Militärs "eine umfassendere, eine klarer fokussierte, eine diszipliniertere Strategie" im Afghanistan-Krieg verlangte, begründete er dies Medienberichten zufolge damit, daß es für die US-Streitkräfte wichtig sei, in der Offensive zu bleiben und die Aufstandsbewegung am Hindukusch zu zerschlagen. Zugleich kündigte Obama die Aufstockung der in Afghanistan stationierten US-Soldaten um weitere 17.000 und zusätzliche 4.000 Militärausbilder an, womit er allerdings weit unter der von dem inzwischen abberufenen Oberbefehlshaber für die US- und NATO-Truppen in Afghanistan, General David McKiernan, geforderten Truppenverstärkung um 30.000 Soldaten geblieben ist. Allerdings steht zu bezweifeln, ob eine personelle Aufstockung der Kampftruppen, ganz gleich, in welcher Höhe, überhaupt zweckdienlich sein kann, um die aus US-amerikanischer Sicht desolate militärische Lage in diesem Krieg zu einer entscheidenden Wende bringen zu können.

Ein ranghoher US-Geheimdienstmitarbeiter, der namentlich nicht genannt werden wollte, erklärte ebenfalls Ende März vor Journalisten, daß nach Einschätzung des Geheimdienstes der stete Machtzuwachs der Taliban durch eine Truppenaufstockung nicht zu bremsen sei. Demnach haben sich die westlichen Streitkräfte und ihre inländischen Verbündeten schon im März erheblich in der Defensive befunden. Der anonyme Geheimdienstmitarbeiter bestätigte auch, daß die Taliban den Süden und Osten Afghanistans bereits wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben. Die Erklärung des deutschen Bundesaußenministers Frank-Walter Steinmeier auf der internationalen Afghanistan-Konferenz in Den Haag am 31. März, die Taliban könnten nur dauerhaft besiegt werden, wenn "mehr" zivile Aufbauhilfe geleistet werde, wirkt denn auch einigermaßen hilflos; schließlich ist dies keine neue Idee. Die Mär vom Aufbauhelfer in Uniform, von den freundlichen Soldaten, die dem geschundenen Land nach der Invasion beim Wiederaufbau der Infrastruktur behilflich sein möchten und diese Hilfsmaßnahmen lediglich militärisch absichern wollen, verfängt nach sieben Jahren militärischer Besatzung längst nicht mehr.

Einen Monat später kündigten die Taliban via Internet ihrerseits eine Ausweitung ihrer Operationen an, die sie nun auf das ganze Land ausdehnen. Die daraufhin tatsächlich in allen Landesteilen intensivierten Angriffe auf die Besatzungsstreitkräfte setzen diese mehr und mehr unter Druck. Auch die deutsche Bundeswehr, die sich bis dahin von heftigeren Kämpfen weitgehend freihalten konnte, geriet durch die derzeitige Offensive der afghanischen Widerstandsbewegung in Bedrängnis. Bereits am 30. April hatte Generalinspekteur Schneiderhan, der ranghöchste deutsche Offizier in Afghanistan, nachdem bei Anschlägen am Tag zuvor in Nordafghanistan ein deutscher Soldat getötet worden war, bestätigt, daß die Bundeswehr von einer neuen Qualität der Angriffe ausgehen müsse.

Seitdem mehren sich die auch gegen deutsche Soldaten und Stützpunkte gerichteten Angriffe. Am 10. Mai sprach der Bundeswehrverband von einer "neuen Qualität des Kampfes", nachdem eine Woche zuvor ein 21jähriger Bundeswehrsoldat bei Kundus von Aufständischen getötet und wenige Tage später eine aus 30 Soldaten bestehende Patrouille mit Panzerabwehr- und Handwaffen angegriffen worden war. Ulrich Kirsch, Chef des Bundeswehrverbandes, erklärte gegenüber der "Neuen Osnabrücker Zeitung", daß die Taliban-Kämpfer Gefechte über mehrere Stunden führen könnten und daß dies die Bundeswehr "zum Handeln" zwinge. Auch hier klingt an, wie bedrängt die Bundeswehr im eigentlich als ruhig geltenden Norden Afghanistans schon ist, und tatsächlich erklärte Kirsch frank und frei: "Der Druck der Taliban, um Kundus herum, wird immer stärker."

Unterdessen machen die US-Streitkräfte jeden taktischen Versuch, durch ein "zivileres" Auftreten die mangelnde Akzeptanz der Besatzung in der afghanischen Bevölkerung zu beheben, durch eine Fortsetzung ihrer mörderischen Luftangriffe zunichte. Am 5. Mai tötete die US-Luftwaffe bei einem Angriff in der südwestafghanischen Provinz Farah in dem Dorf Girani über einhundert Bewohner. Ungeachtet der massiven, auch internationalen Kritik an diesem Blutbad erklärte das US-Militär, auf Bombardierungen nicht verzichten zu wollen. "Wir können nicht kämpfen, wenn wir eine Hand hinter dem Rücken festgebunden haben", lautete die zynische Begründung des Sicherheitsberaters der US-Regierung, James Jones. Der afghanische "Präsident" Hamid Karsai forderte nach diesem Vorfall, bei dem bis zu 130 Zivilisten ums Leben kamen, einmal mehr vergeblich eine Einstellung der US-Luftangriffe.

Am 1. Juni forderte der US-amerikanische Kriegsminister Robert Gates die Europäer, aber auch China auf, ihre Beteiligung an diesem Krieg zu intensivieren. Die USA, so Gates, könnten "die Probleme" am Hindukusch "nicht allein" lösen. Damit scheint sich zu bewahrheiten, daß die Falle, die US-Strategen vom Schlage Zbigniew Brzezinskis einst der Sowjetarmee stellten, die dann auch tatsächlich in dem für sie nicht gewinnbaren Krieg in Afghanistan "ihr Vietnam" fand, nun auch für die USA und ihre Verbündeten besteht. So vertraten hochrangige Veteranen des damaligen Krieges der seinerzeit noch sowjetischen Armee in einem kürzlich veröffentlichten Artikel [1] einhellig die Auffassung, daß eine reguläre ausländische Armee einen Krieg in Afghanistan nicht gewinnen könne und daß diese die Bevölkerung nur umso mehr gegen sich aufbrächte, je mehr Truppen sie entsandte. Man könne, so das Fazit der russischen Kriegsveteranen, die Menschen in Afghanistan am ehesten für sich gewinnen, wenn man zivile Hilfe leiste und im übrigen nicht einmal den Versuch unternehme, auf die Machtverhältnisse im Lande Einfluß zu nehmen.

Diese gewiß klugen Ratschläge werden die für den heutigen Krieg Verantwortlichen in den Wind schlagen. Sie bräuchten im Grunde nur auf die Einschätzungen ihrer eigenen Experten und Geheimdienste zu hören, um als ultimativen Ausweg aus diesem Dilemma den sofortigen, vollständigen und bedingungslosen Rückzug ihrer Besatzungstruppen zu beschließen. Nichts könnte der neuen US-Administration ungeachtet des "Change"-Images ihres Präsidenten allerdings ferner liegen, weshalb anzunehmen ist, daß dieser Krieg keineswegs, wie von Obama behauptet, der Bekämpfung und Auslöschung wahlweise der Taliban-Milizen oder auch Al Kaidas gewidmet ist, von denen nach Angaben des US-Präsidenten eine Bedrohung für die USA ausgehe. Die bedingungslose Fortsetzung der Besetzung Afghanistans scheint vielmehr geostrategische Gründe zu haben.

Das Land am Hindukusch liegt in unmittelbarer Nähe zu den tendenziell prorussischen Staaten Zentralasiens und stellt für die USA bzw. die NATO einen unverzichtbaren Brückenkopf dar, um den russischen Einfluß in dieser Region zurückzudrängen. Afghanistan der afghanischen Bevölkerung zu überlassen, stellt allem Anschein nach für die westlichen Besatzer eine vollkommen inakzeptable Option dar, was Rückschlüsse auf ihre hintergründigen Absichten zuläßt. Unter der Annahme, die USA und ihre Verbündeten wollten ihre politische Dominanz zu einer militärisch unangreifbaren Position ausbauen, wäre Afghanistan eine unverzichtbare Bastion in dem Bestreben, mittel- bis langfristig rivalisierende Großmächte wie Rußland und China unter die eigene Kontrolle zu bringen.

[1] "Russian advice: More troops won't help in Afghanistan", von Tom Lasseter, von McClatchy am 2. Juni 2009 veröffentlicht

10. Juni 2009