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DILJA/1306: Chile - Unterdrückung der Mapuche wirft ein Schlaglicht auf das Regime (SB)


Die Mapuche sind nicht länger eine politisch isolierte Minderheit

Nach zweimonatigem Hungerstreik wird der Demokratieanspruch Chiles am Umgang mit den indigenen Völker des Landes zu messen sein


In Chile stehen am kommenden Samstag die wohl spektakulärsten Staatsfeiern der jüngeren Geschichte des Landes bevor, begeht doch der südamerikanische Andenstaat an diesem Tag den 200. Jahrestag seiner Unabhängigkeitserklärung. Sichtbarer Ausdruck der öffentlichen Zurschaustellung nationaler Größe sowie des keineswegs neuen Selbstbewußtseins der chilenischen Rechten, die mit dem Milliardär Sebastián Piñera einen würdigen Stellvertreter ihrer Oligarchie in das Präsidentenamt plazieren konnte, wird die Fahne sein, die am Samstag vor dem Regierungssitz in der Hauptstadt Santiago de Chile gehißt wird und bei der es sich um die weltweit größte Nationalflagge handeln soll, die je ein Staat zur symbolischen Präsentation des von ihm in der Welt beanspruchten Stellenwertes hat flattern lassen.

Die Euphorie über diesen "enormen Geburtstag", wie Alberto Cademil von der regierenden rechten Koalition dieses Ereignis nannte, hält sich jedoch in Chile selbst in Grenzen, da vielen Oppositionellen die Lust am Feiern gänzlich vergangen ist. Dies liegt im wesentlichen, aber keineswegs ausschließlich am Protest der Mapuche-Indianer, der in einem von 36 Gefangenen seit über zwei Monaten geführten Hungerstreik einen Kulminationspunkt erreicht hat, der dem sich scheinbar ungezügelt entfachenden Nationalstolz entgegenwirkt und sich anschickt, der Regierung um Präsident Piñera die Tour zu vermasseln. Dies ist den Mapuche-Aktivisten am allerwenigsten anzulasten, auch wenn Abgeordnete und Regierungsanhänger wie Cademil, der nicht müde wird zu betonen, sich diesen Tag "nicht von einer Handvoll erpresserischer Terroristen vermiesen" [1] lassen zu wollen, genau darauf abstellen.

Der Protest der Mapuche und damit des größten Volkes indianischer Ureinwohner Chiles, das mit rund einer Million Angehörigen rund 7 Prozent der Gesamtbevölkerung stellt und insofern zumindest als eine recht große Minderheit zu bezeichnen wäre, ist auf die politische Opposition des ganzes Landes übergesprungen und wird inzwischen auch von Abgeordneten der Nationalversammlung aufgegriffen. Wenn am kommenden Samstag die 200jährige Unabhängigkeit des Landes gefeiert wird in Hinsicht auf die historische Tatsache, daß sich die Chilenen wie fast alle Völker bzw. Staaten Lateinamerikas vor rund zweihundert Jahren vom Joch der spanischen Konquistadoren befreien konnten, dürfte dies einhellig von allen Bewohnern des Landes gutgeheißen werden. Die Gleichsetzung der nationalen Unabhängigkeit mit einem tatsächlichen Ende der Kolonialherrschaft wird jedoch nur von denjenigen Interessengruppen behauptet bzw. unterstellt werden können, die noch heute zu den Nutznießern der dem Anschein nach postkolonialen Gesellschaftsstrukturen und Herrschaftsverhältnissen gehören, bei denen es sich bestenfalls um eine modifizierte und nun von einheimischen statt spanischen Eliten dominierte Ausbeutungsordnung handelt.

Gemessen an dem Anspruch einer tatsächlichen Entkolonialisierung müßte die Lage der sogenannten Indigenen in den Zenit des öffentlichen Interesses rücken, handelt es sich bei ihnen doch um die Nachfahren jener heute als "Ureinwohner" titulierten Menschen, die im Gebiet des heutigen chilenischen Staates lebten, lange bevor die spanischen Eroberer im westlichen Gesamtinteresse die aus ihrer Sicht "neue" Welt besetzten, deren Bewohner beherrschten und versklavten und die Ressourcen der Region auszuplündern begannen. Das heute behauptete Ende der Kolonialzeit müßte sich - welche bessere Nagelprobe könnte es geben? - an der Situation und Einschätzung der indigenen Völker Chiles selbst messen und überprüfen lassen. Es versteht sich von selbst, daß es handfeste Gründe für die Tatsache gibt, daß dies nicht nur unterbleibt, sondern daß die Mapuche und damit das größte, noch heute bestehende indianische Volk Chiles zu den politisch am meisten verfolgten Gruppierungen gehört.

Die Mapuche kämpfen um ihre Selbstbestimmung sowie um ihr Land. Seit der Pinochet-Diktatur mußten sie bzw. ihre Siedlungsgebiete mehr und mehr den sich ausbreitenden großen Plantagen der Zellstoffkonzerne weichen, die sich zu zwei Dritteln auf ehemaligem Mapuche-Gebiet befinden. Auch Bergbau- und Erdgasprojekte haben zum Landverlust der Mapuche beigetragen, so beispielsweise in der Nähe des Lleu-Lleu-Sees. Der jetzige Hungerstreik der Mapuche-Gefangenen beruht nach Angaben eines ihrer Anwälte auf deren Verzweiflung, weil sie "sehen, daß es keinerlei Bereitschaft gibt, zu reden" [2]. Seit vielen Jahren gibt es im Hauptsiedlungsgebiet der Mapuche um den Fluß Bío Bío Auseinandersetzungen zwischen indianischen Aktivisten und den staatlichen Sicherheitsorganen, die unter Präsident Piñera mehr noch als zur Regierungszeit seiner Vorgängerin Michelle Bachelet, die am Ende ihrer Amtszeit die Vorschläge diverser UN-Berichterstatter für die Gründung eines Indigena-Ministeriums aufgegriffen und etliche Projekte mit indianischen Gemeinschaften auf den Weg gebracht hatte, von einer seitens des Staates ausschließlich auf Strafverfolgung und Repression fokussierten Politik bestimmt sind.

Die Proteste der Mapuche sowie der von inhaftierten Angehörigen dieser Volksgruppe seit dem 12. Juli durchgeführte Hungerstreik sind nicht nur auf die Abschaffung der sogenannten Antiterrorgesetze aus der Zeit der Pinochet-Diktatur gerichtet, sondern beinhalten nicht minder die politischen Kernforderungen der Mapuche nach einer Mitbestimmung über die Ausbeutung der Bodenschätze in den von ihnen besiedelten Gebieten. Am 15. August, als sich etwa 50 Mapuche bereits seit einem Monat im Hungerstreik befanden, hatte einer ihrer führenden Aktivisten, Jorge Huanchullan, gegenüber chilenischen Medien erklärt: "Wir wehren uns gegen den Versuch der Regierung, die gerechten Forderungen der Mapuche-Gefangenen vor der Öffentlichkeit zu verschweigen." [3] Den inhaftierten Indianern werden strafrechtliche Vorwürfe wie versuchter Mord, Brandstiftung, Bildung einer kriminellen Vereinigung, Gewalt gegen die Polizei etc. vorgeworfen, und stets wird ihr Handeln, sobald es im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um die Landfrage steht, als "terroristisch" eingestuft.

Kernpunkt des Konfliktes um das Land der Mapuche sind immer die hier verfügbaren Ressourcen Wasser, Holz für die Papierproduktion und weitere Bodenschätze, weshalb zwischen den Mapuche auf der einen und der chilenischen Regierung sowie den an diesem Abbau oder vielmehr Raubbau beteiligten Bergbau- und Zellulosekonzernen ein politisch schwer lösbarer Konflikt besteht. Dabei wird den Mapuche ein politisches Betätigungsfeld kaum zugestanden, was zu einer Verschärfung der Auseinandersetzungen beigetragen hat. So stellte Nicole Hantzsche von der Gesellschaft für bedrohte Völker e.V. zu dieser Frage fest: "Das Problem ist, dass, wenn die Mapuche friedliche Demonstrationen oder Landbesetzungen organisieren, die Regierung sofort einschreitet. Den Mapuche fehlt die Möglichkeit, sich engagieren zu können". [4] Doch nicht nur Bergbau und Zellulose-Produktion, auch Großstaudämme sowie Pinien- und Eukalyptusplantagen haben das angestammte Land der Mapuche in der rund 600 Kilometer südlich der Hauptstadt gelegenen Araucanía-Region für diese dezimiert.

Daß das "Antiterrorgesetz" der Diktatur noch heute - und zwar zu neunzig Prozent - auf Mapuche-Indianer angewandt wird, wird vielfach als fortgesetzter Rassismus der politischen Elite Chiles aufgefaßt. Die Forderungen der Hungerstreikenden richten sich gegen dieses die Mapuche kriminalisierende Gesetz sowie die Möglichkeit, sie vor Militärgerichte zu stellen und somit doppelt zu bestrafen, aber auch ganz generell gegen die Militarisierung der Siedlungsgebiete, in denen die Mapuche für ihre Rechte kämpfen. Da in den gegen die Mapuche angestrengten Gerichtsverfahren anonyme Zeugen aussagen, den Anwälten die Akteneinsicht verwehrt und in vielfacher Hinsicht gegen die Rechte der Gefangenen verstoßen wird, fordern die Hungerstreikenden für sich und andere ein faires Verfahren. Bei Razzien in ihren Gemeinden, so lauten weitere Vorwürfe der Mapuche, komme es immer wieder zu Mißhandlungen, Bedrohungen und Beleidigungen älterer Menschen, aber auch von Kindern [5].

Das "Antiterrorgesetz" wird gegen Angehörige der Mapuche so exzessiv angewandt, daß Demonstranten, die einen Molotow-Cocktail geworfen haben sollen, wegen "terroristischer Aktionen" [6] auf unbegrenzte Zeit und ohne Prozeß in Untersuchungshaft gehalten werden. Es gibt unter den Mapuche viele, die sich bereits seit Jahren im Gefängnis befinden, weil sie gegen Landenteignungen und Vertreibungen im Süden Chiles demonstriert haben. Im Zuge des Hungerstreiks wurden die Haftbedingungen, denen die Mapuche ausgesetzt sind, sogar noch verschärft, um ihren Widerstand zu brechen. Staatsanwältin Mónica Maldonado beschrieb die aktuellen Haftbedingungen folgendermaßen: Einzelhaft in verdunkelten Zellen und Versuche, die Inhaftierten zwangszuernähren [1]. Demnach ist das Wachpersonal bereits seit Wochen bemüht, den Hungerstreik der Mapuche-Gefangenen, die sich in einem zunehmend geschwächten körperlichen Zustand befinden, mit solchen harten Maßnahmen zu beenden.

Doch ohne Erfolg. Die Hungerstreikenden sind ungeachtet der kritischen Phase, in die ihr Protest längst eingetreten ist, nicht gewillt, ohne eine glaubwürdige Erfüllung ihrer Forderungen diese Aktion abzubrechen. Auf diese Weise ist es ihnen schon gelungen, die Tabuisierung des gesamten Konfliktes in Chile, aber auch international, zu durchbrechen. In einem Offenen Brief haben 22 Abgeordnete chilenischer wie europäischer Parlamente die Regierung in Santiago aufgefordert, den Hungerstreik der Mapuche durch eine "umgehende humanitäre Lösung" [1] zu beenden. Zwar blieben auch Appelle dieser Art bislang erfolglos und wurden von der Regierung nicht einmal beantwortet, doch das politische Klima verändert sich in Chile wie auch im Ausland mit jedem solchen Schritt.

Sergio Aguiló, ein chilenischer Abgeordneter der Sozialistischen Partei (PS), der sich mit drei weiteren Mandatsträgern am 9. September dem Hungerstreik der Mapuche aus Solidarität anschloß, kritisierte die Haltung der Regierung und zog eine Parallele zur Diktatur. "In diesem Punkt ist sie dem Regime Augusto Pinochets nicht unähnlich. Auch die Militärjunta stellte sich gegenüber internationaler Kritik stets taub", so Aguiló [1]. Er erteilte den Reformplänen der Regierung zum Antiterrorgesetz eine glatte Abfuhr und erklärte, daß diese das Gesetz nicht abschaffen, sondern dessen Anwendung sogar noch ausweiten würden. Seine größte Sorge gilt jedoch den Mapuche-Gefangenen im Hungerstreik, die er folgendermaßen zum Ausdruck brachte: "Vorsichtig formuliert, ist es absehbar, dass sie in den kommenden Tagen irreparable Schäden davontragen werden, wenn sie den Hungerstreik fortsetzen." [1]

Wie Aguiló könnten sich viele Chilenen und Chileninnen in diesen Tagen radikalisieren, bringt doch der Hungerstreik der Mapuche den eklatanten Widerspruch zwischen dem demokratischem Selbstverständnis des chilenischen Staates und der tatsächlichen Lage seiner Bevölkerung, zu der die Mapuche nun einmal gehören, auf den Punkt. Der sozialistische Abgeordnete erklärte, noch vor einer Woche "von unserer Zweihundertjahrfeier geschwärmt" zu haben, doch dann habe er seinen Blick "radikal wandeln" müssen. Seine Forderung nach direkten politischen Gesprächen zwischen den Mapuche und der Regierung begründete er mit den Worten: "In diesem Land gibt es absolut gar nichts zu feiern, solange die Mapuche und die übrigen Chilenen nicht eine freundschaftliche Beziehung aufbauen, die ein gerechtes Zusammenleben ermöglicht." [1]

Allem Anschein nach geht das Piñera-Regime nach bewährtem repressiven Muster auch gegen die sich anbahnende Solidarisierung oppositioneller Parlamentarier mit den Hungerstreikenden vor. Internationale Kritik seitens der führenden westlichen Staaten hat sie aller Voraussicht nach nicht zu befürchten; schließlich hätte sich die sogenannte internationale Gemeinschaft schon längst daran stören können, daß die indigenen Völker in Chile auch nach 200 Jahren "Unabhängigkeit" noch immer nicht anerkannt und ihre Rechte in der Verfassung niedergelegt sind, wie dies in den meisten Staaten Lateinamerikas inzwischen der Fall ist. Die bevorstehenden Feierlichkeiten am 18. September werden unter diesen Umständen kaum zu der von der regierenden rechten Oligarchie des Landes sowie ihrer Verbündeten gewünschten Sieges- und Nationalfeier entufern können, sondern werden womöglich ganz im Zeichen einer politisch-kontroversen Auseinandersetzung um die Zukunft Chiles und keineswegs nur um die der Mapuche stehen.

Anmerkungen

[1] Hungerstreik zur Zweihundertjahrfeier. Chiles Regierung verweigert sich nach wie vor einem Dialog mit den Mapuche. Von Nils Brock, Neues Deutschland, 14.09.2010. Zit. aus:
http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Chile/mapuche5.html

[2] Chile: Regierung verfolgt Ureinwohner mit Antiterrorgesetz aus Pinochet-Zeiten, Der Standard, 23.08.2010,
http://derstandard.at/1282273330332/

[3] Chile: Mapuche einen Monat im Hungerstreik, amerika21.de, 15.078.2010,
http://amerika21.de/meldung/2010/08/9377/mapuche-chile-hungerstreik

[4] Mapuche-Indianer hungern seit 60 Tagen, von Marco Müller, Deutsche Welle - DW-World.de, 10.9.2010,
http://www.dw-world.de/dw/article/0,,5993278,00.html

[5] Chile. Einzelne Gewaltherde oder ein ganzer Bürgerkrieg. Der Mapuche-Konflikt gerät zunehmend außer Kontrolle, von Claudius Prößer, Lateinamerika-Nachrichten, Nr. 427, Januar 2010,
http://www.lateinamerikanachrichten.de/index.php?/artikel/3750.html

[6] Kirche in Chile vermittelt im Drama um hungerstreikende Indios. 34 Häftlinge aus dem Stamm der Mapuche seit über neun Wochen in verschiedenen Gefängnissen Chiles im Hungerstreik, 15.09.2010,
http://www.kathweb.at/content/site/nachrichten/database/34638.html

15. September 2010