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DILJA/1313: Lehrstunden in Sachen Demokratie - Brachialer Polizeieinsatz in Stuttgart (SB)


Brutaler Polizeieinsatz zur Durchsetzung des Bauprojekts "Stuttgart 21"

Vorwiegend jugendliche Demonstranten machen schmerzliche Bekanntschaft mit der Staatsgewalt


Der 30. September 2010 wird als ein besonders rabenschwarzer Tag nicht nur in die Geschichte der baden-württembergischen Hauptstadt Stuttgart, sondern der gesamten Bundesrepublik Deutschland eingehen. Dieser Tag markiert einen vorläufigen Höhepunkt in einer bereits seit Wochen und Monaten schwelenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung, hatten sich doch an diesem höchst umstrittenen Bauprojekt der Bundesbahn, die unter dem Titel "Stuttgart 21" eines ihrer teuersten, in Deutschland je realisierten Vorhaben durchsetzen will, Proteste entzündet, die inzwischen die Schwelle zu einer anwachsenden Bürgerbewegung überschritten haben. Dazu dürften die nicht anders als gewaltsam zu bezeichnenden Einsätze der Polizei - mit 600 Beamten aus insgesamt vier Bundesländern sowie der Bundespolizei - erheblich beigetragen haben. Eine friedliche Protestbewegung, die sich, ausgehend von einer ordnungsgemäß angemeldeten Demonstration, gegen die für den gestrigen Abend angekündigte Fällung der ersten von insgesamt 300 Bäumen formiert hatte, um durch Methoden des passiven Widerstands die Baumfällarbeiten zu verhindern, hatte unliebsame und in sehr vielen Fällen überaus schmerzliche Bekanntschaft mit der Staatsgewalt machen müssen.

Mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und sogar Pfefferspray, einer chemischen Waffe, die im Nahbereich überhaupt nicht gegen Menschen eingesetzt werden darf, rückten die Beamten gegen die größtenteils jugendlichen Protestierenden vor. Die Lehrstunden in Demokratie, die diesen, aber auch den älteren Teilnehmern nun bevorstanden, umfaßten das gesamte Spektrum des staatlichen Vorgehens, wenn es gilt, staatlicherseits beschlossene Maßnahmen selbst dann durchzusetzen, wenn die Bevölkerung zu einem großen Teil nicht mit ihnen einverstanden ist. Formal gesehen hat das "Stuttgart 21"-Projekt alle juristischen Hürden genommen und alle erforderlichen Genehmigungen erhalten. Dem steht nicht im mindestens entgegen, daß dies an den in der baden-württembergischen Metropole lebenden Menschen vorbeigeht und ihren Protest, um nicht zu sagen Widerspruch und Widerstand hervorruft in dem gleichen Maße, in dem "über ihre Köpfe hinweg" Entscheidungen getroffen und dann auch noch durchgesetzt werden.

Ein halbes Jahr vor den bevorstehenden Landtagswahlen im "Ländle" hat sich dieser Konflikt zu einer landespolitischen Krise ausgewachsen nicht nur wegen des höchst umstrittenen Bahnprojekts, sondern zugleich auch wegen der tatsächlichen Negativerfahrungen in Sachen Demokratie, die mehr und mehr Menschen machen und machen müssen, je engagierter sie bestrebt sind, ihrem Anliegen, den Stopp dieses Projekts zu erreichen, nachzugehen und zu einem Erfolg zu verhelfen. Als sich am gestrigen Donnerstag herumsprach, daß am frühen Abend desselben Tages mit den Baumfällarbeiten begonnen werden sollte, um den mittleren Schloßgarten der Stadt für die Errichtung einer für das Bauprojekt erforderlichen Grundwasseraufbereitungsanlage "freizuräumen", sprich von den dort zum Teil seit 200 Jahren stehenden Bäumen zu "befreien", strömten spontan rund 12.000 Menschen in den Schloßgarten, unter ihnen sehr viele Kinder und Jugendliche, die zuvor an einer Schüler-Demonstration zum selben Thema teilgenommen hatten.

Was dann geschah, stellte eine Lehrstunde der besonderen Art in Sachen Demokratie dar, da gegen protestierende Menschen, die weder bewaffnet waren noch in irgendeiner Weise auch nur Anstalten machten, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu gefährden, mit gewaltsamen Methoden vorgegangen wurde. Was sollen unsere jungen Leute von einem Staat halten, der sie von den Straßen spritzt? lautete die Frage eines älteren Teilnehmers angesichts der Wasserwerfereinsätze, angesichts des rücksichtslosen und brutalen Vordringens martialisch anmutender und agierender Polizeiketten, die gegen jugendliche Demonstranten in einer Weise vorgingen, daß diese gar nicht mehr wußten, wie ihnen geschah. Ein aus rund 40 Sozialpädagogen, Seelsorgern und Pfarrern zusammengestelltes "Kopf-Hoch-Team" (kein Witz) kümmerte sich im Stuttgarter Schloßgarten um die zum Teil sehr jungen Menschen. "Bei uns waren Leute mit Heulkrämpfen und körperlichen oder psychischen Zusammenbrüchen", so Anja Müller-Hesse, eine der Betreuerinnen des Teams.

Alsbald waren die Krankenhäuser in Stuttgart mit der Aufnahme und Behandlung der vielen Verletzten überfordert. Über ihre genaue Zahl herrscht noch Unklarheit, die Schätzungen belaufen sich auf mehrere hundert. Auf seiten der Polizei konnte kein Verletzter vermeldet werden, obwohl, wie eine Polizeisprecherin behauptete, es auch Gewalt gegen Beamte gegeben habe. Zu den unmittelbaren Negativerfahrungen in Sachen Demokratie und Demonstrationsfreiheit gehört die Bezichtigung derjenigen, gegen die Polizeigewalt angewandt wurde zur Rechtfertigung derer, die derartige Einsätze angeordnet bzw. durchgeführt haben. Nach diesem Muster wurde selbstverständlich auch in Stuttgart verfahren. So wurde aus dem baden-württembergischen Innenministerium zunächst verlautbart, daß Demonstranten mit Pflastersteinen auf Polizisten geworfen hätten. Diese Behauptung diente dem CDU-Innenminister des Landes, Heribert Rech, zur Rechtfertigung des harten Polizeieinsatzes, in dem er die Schuld an der Eskalation den Demonstranten zuwies.

Bezeichnenderweise mußte eine Sprecherin des Innenministeriums noch am Abend desselben Tages einräumen, daß kein Demonstrant mit Pflastersteinen geworfen hatte, was sie mit der lapidaren Erklärung "Da waren wir falsch informiert" [2] abtun zu können glaubte. Unterdessen wird bereits der Rücktritt von Innenminister Rech gefordert, so etwa von Ulrich Mauer, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Linksfraktion, der dies folgendermaßen begründete [3]:

Wer versucht, angemeldete Schülerdemos mit Schlagstöcken, Reizgas und Wasserwerfern aufzulösen, hat mit der Demokratie gebrochen und muss als Innenminister seinen Hut nehmen.

Danach sieht es jedoch ebensowenig aus wie nach einer Kurskorrektur in Sachen Polizeistrategie, weshalb damit zu rechnen ist, daß bei weiteren Demonstrationen gegen den Polizeieinsatz sowie das Bahnprojekt - die nächste Demonstration ist bereits für den heutigen Freitagabend angemeldet worden - abermals zu Wasserwerfern, Pfefferspray und Knüppeln gegriffen wird, selbst dann, wenn es sich um unbewaffnete und sich friedlich verhaltende Demonstranten handelt.

Inzwischen ist diese Auseinandersetzung keine mehr, die allein Stuttgart bzw. Baden-Württemberg betrifft. Gerade durch diesen brutalen Polizeieinsatz, der bundesweit für Aufsehen und für weitere Proteste in 22 Städten der Bundesrepublik noch in derselben Nacht sorgte, ist der Streit um "Stuttgart 21" ein bundesweiter geworden. Die Bundesregierung hat es unterdessen verabsäumt, zur Deeskalation der Situation beizutragen, und nicht einmal der Bundestag bzw. die in ihm dominierenden politischen Kräfte hatten die Courage, sich dem Konflikt in einer von der Opposition beantragten Aktuellen Stunde zu stellen.

All dies wird seine kurz- bis mittelfristigen Wirkungen nicht verfehlen können, da die bereits erwähnte Frage eines älteren Demonstrationsteilnehmers, was denn die jungen Menschen von einem Staat halten sollen, der auf diese Weise mit ihrem politischen Engagement und ihrem Protest umgeht, von immer mehr Menschen aufgegriffen, gestellt und auf eine Weise beantwortet werden wird, die sich die Repräsentanten der etablierten Parteienkultur, allesamt höchst erfahren im Geschäft des herrschenden Politbetriebs, kaum wünschen können.

Anmerkungen

[1] "Die Stimmung ist unglaublich aufgeheizt". Verletzte bei Einsatz gegen "Stuttgart 21"-Gegner, heute.de, 30.09.2010,
http://www.heute.de/ZDFheute/inhalt/30/0,3672,8116958,00.html

[2] Proteste in Stuttgart, Ministerium zieht Meldung über Steinewerfer zurück, spiegel.de, 30.09.2010,
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,720612,00.html

[3] Stuttgart 21. Hunderte Verletzte nach Polizeieinsatz, focus.de, 30.09.2010,
http://www.focus.de/politik/deutschland/stuttgart-21-hunderte-verletzte-nach-polizeieinsatz_aid_557820.html

1. Oktober 2010