Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → MEINUNGEN

DILJA/1324: Militärgewalt in der Westsahara - Unheilige Allianz alter und neuer Besatzer (SB)


Westsahara - Zehntausende Menschen sind im "Lager der Würde" militärischen Angriffen schutzlos ausgeliefert

Stillschweigende Rückendeckung für die marrokanische Besatzungsmacht durch die internationale Gemeinschaft


Ohne Öffentlichkeit kein Schutz. Diese einfache Gleichung geht schon lange nicht mehr auf. Davon zeugen Kriege, militärische Interventionen, gezielte Tötungen und systematische Folterungen, die als repressive Mittel eingesetzt werden können und eingesetzt werden von jenen weltpolitischen Akteuren bzw. ihren Hilfskräften, die im Weltmaßstab in diesen Angelegenheiten über die Deutungs- und Medienhoheit verfügen. Der Schrei nach Berichterstattung und Öffentlichkeit wird gleichwohl nicht verstummen, läuft jedoch seinerseits Gefahr, von den eben erwähnten Kräften, die manipulativ und auf der Basis ihres faktischen Macht- und Gewaltmonopols eine ihren Interessen dienliche Informations- bzw. Desinformationspolitik durchzusetzen imstande sind, so systematisch ignoriert und ausgeblendet zu werden, daß ihn so gut wie niemand überhaupt hört.

Die durch die vielen Kriege der Gegenwart und die ebenso systematisch wie langfristig angewandte Politik gewaltsamer Repression und Einschüchterung widerlegte und doch mit dem Schrei nach Öffentlichkeit verbundene Hoffnung auf wirksamen Schutz vor Über- und Angriffen welcher Repressionsorgane auch immer stirbt nicht aus, auch wenn sie sich schon so oft als trügerisch erwiesen hat. Gleichwohl steht außer Frage, daß das völlige Fehlen bzw. das gelungene Unterdrücken einer und sei es noch so fragmentarisch betriebenen Berichterstattung das Ausmaß repressiver Gewalt, die deren Anwender zum Einsatz bringen können, ohne für sich selbst auch nur die geringsten Negativwirkungen erwarten zu müssen, noch erhöht. Es liegt auf der Hand, daß bei einem militärischen Angriff auf unbewaffnete Zivilisten die diesen angetane Gewalt noch ungebremster zum Ausbruch gebracht werden kann, wenn die politischen und militärischen Verantwortlichen bzw. Machthaber es geschafft haben, jegliche Augen und Ohren vom Ort des Geschehens fernzuhalten.

Eben dies trifft in diesen Tagen und Stunden auf einen Konflikt zu, dessen repressive Qualität seit vielen Jahrzehnten mit der wenn auch gezielt herbeigeführten und aufrechterhaltenen Ignoranz und Gleichgültigkeit korrespondiert, die die sogenannte internationale Gemeinschaft, was ja nichts anderes als eine Metapher für die weltpolitischen Akteure darstellt, denen es gelungen ist, eine Dominanzposition einzunehmen, ihm gegenüber aufbringt. Die Rede ist von der Westsahara, einem an der Westküste Afrikas gelegenen Küstenstrich, der als "die letzte Kolonie Afrikas" gilt und dessen ursprüngliche Bewohner bis heute die letzten des gesamten Kontinents sind, die nicht einmal dem bloßen Anschein nach dekolonialisiert wurden. Die Sahrauis sind nicht etwa ein Anachronismus der Geschichte, sondern der lebende Beweis dafür, welche Qualität die von den imperialen Kolonialmächten in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts durchgeführte Dekolonialisierung Afrikas tatsächlich aufweist.

Da die formal in ihre Unabhängigkeit entlassenen ehemaligen Kolonien welcher westlichen Staaten auch immer lediglich die eine Form der Fremdherrschaft, Ausbeutung und Besatzung durch eine andere, Schuldknechtschaft genannte austauschen konnten, stellt die Westsahara keineswegs einen Hort der Unfreiheit inmitten eines Meeres befreiter und tatsächlich unabhängiger Staaten und Völker Afrikas dar, sondern bestenfalls ein besonders anschauliches und bedrückendes Beispiel dafür, wie verlogen die versprochene und von den alten wie neuen Kolonialmächten verliehene "Freiheit" Afrikas heute noch ist. Wäre dem nicht so, wäre kaum zu erklären, daß in der Westsahara der Wechsel der Fremdherrscher (von Spanien zum Königreich Marokko) vollzogen werden konnte, ohne daß es je anderen afrikanischen Staaten, internationalen Akteuren oder den Vereinten Nationen gelungen ist, den Sahrauis zu dem ihnen in so vielen UN-Resolutionen zugesprochenen Recht, in einem Referendum darüber zu entscheiden, ob sie einen eigenen Staat oder den Anschluß an Marokko wollen, zu verhelfen.

1975, als das Franco-Regime Spaniens und damit der bisherige Kolonialherr der Westsahara in seinen letzten Zügen lag, nutzte Marokko die Gunst der Stunde. König Hassan II. ließ 350.000 marokkanische Zivilisten in das Küstengebiet einmarschieren, um auf diese Weise die 1976 durchgeführte Annexion begründen zu können. Dies geschah fast auf den Tag genau vor 35 Jahren, nämlich am 6. November 1975. Spanien trat daraufhin die bis dahin von ihm gehaltene Kolonie an Marokko und Mauretanien ab. Dem marokkanischen König genügte diese Aufteilung nicht. Marokko annektierte 1976 den größten Teil der Westsahara, bis es ihm drei Jahre später gelang, Mauretanien zum Rückzug aus seinem Teil der von ihm beanspruchten Beute zu verdrängen. All dies geschah selbstverständlich unter den Augen oder vielmehr den geschlossenen Augen der sogenannten Weltöffentlichkeit, die zwar in Gestalt des Weltsicherheitsrates Resolutionen verabschiedete, die den Sahrauis ihr Recht versprachen, doch zu keinem Zeitpunkt Maßnahmen ergriffen, um diesem auch zur Durchsetzung zu verhelfen.

1973 hatte sich mit der Frente Polisario eine sahrauische Unabhängigkeitsbewegung konstituiert, die gegen die Kolonialisierung durch Spanien kämpfte und diesen Befreiungskampf gegen die neue Kolonialmacht Marokko fortsetzte. 1979, nach dem Rückzug Mauretaniens aus dem südlichen Teil der Westsahara, errichtete Marokko einen 2400 Kilometer langen, verminten Sandwall durch die Wüste, um die sahrauischen Guerillakämpfer fernzuhalten. 1991 wurde unter Vermittlung der Vereinten Nationen eine Vereinbarung zwischen Marokko und der Polisario getroffen, die Waffenstillstand genannt wurde und zur Folge hatte, daß UN-Truppen in die Westsahara einrückten, angeblich, um den Waffenstillstand, so als wäre dieser tatsächlich so etwas wie ein Friedensschluß, zu überwachen. Der Begriff Waffenstillstand ist deshalb irreführend, weil die marokkanische Armee seitdem keineswegs darauf verzichtet hat, als Besatzungsmacht von ihren Gewaltmitteln Gebrauch zu machen, während die Polisario von weiteren Kampfmaßnahmen absah und im Zuge der rund einhunderttausend Sahrauis, die vor den marokkanischen Truppen in der algerischen Wüste geflohen waren, in der dortigen Stadt Tindouf eine Art Regierung sowie die "Demokratische Arabische Republik Sahara" ausrief.

Heute leben infolge der marokkanischen Umsiedlungspolitik in der noch immer marokkanisch besetzten Westsahara bereits mehr Marokkaner als Sahrauis, die als Ursprungs- und weitgehend vertriebene Bevölkerung ein Schattendasein zu führen sich gezwungen sehen, weil sie von den marokkanischen Behörden als Bürger zweiter Klasse benachteiligt und systematisch gedemütigt werden. Im Exil leben, zum Teil schon in der dritten Generation, nicht minder viele Sahrauis, die wie auch die direkt unter marokkanischer Besatzung stehenden Landsleute noch immer einen eigenen Staat wollen. Dies sind jedoch nicht die Forderungen, derentwillen sich vor über einem Monat rund 20.000 Sahrauis zur größten Protestveranstaltung seit 1975 zusammengeschlossen haben. Sie verließen die Städte, in denen sie zuvor unter erbärmlichsten Bedingungen lebten bzw. leben mußten, und zogen in ein, wie sie es nannten, "Lager der Würde", ein neu errichtetes Zeltlager in etwa 15 Kilometer Entfernung der 1938 von den Spaniern errichteten Stadt Laayoune, aus der die meisten Lagerbewohner stammen und die als Hauptstadt der Westsahara gilt.

Umgehend wurde dieses Lager von der marokkanischen Armee umzingelt. Journalisten wurde, schlimmer noch, der Zugang verwehrt. Sahrauis dürfen das Lager zwar verlassen, doch die Armee versucht, die Versorgung der Menschen mit Lebensmitteln zu unterbinden. Zu ersten militärischen Angriffen auf das Protestcamp und seine Bewohner, unter ihnen Kinder und alte Menschen, kam es nach kurzer Zeit. Die marokkanischen Behörden gingen und gehen mit aller Härte gegen diesen Schritt der Sahrauis vor, der darauf abzielte, auf ihre Situation aufmerksam zu machen und ihren dringendsten Forderungen nach Arbeit und Wohnungen Nachdruck zu verleihen. Daß die marokkanische Armee nicht davor zurückschrecken würde, unbewaffnete Zivilisten zu töten, hatte sich bereits in der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober erwiesen, als der 14jährige Garhi Nayem von marokkanischen Sicherheitskräften erschossen wurde, als er mit anderen in einem Geländewagen in Richtung des Camps unterwegs war.

Am Montag ist die Armee dazu übergegangen, das Zeltlager des einstigen Nomadenvolkes direkt anzugreifen. Da die in- wie ausländische Presse nach wie vor nicht hineingelassen wird, befinden sich die 20.000 Bewohner in höchster Gefahr, da nicht einmal der Minimalschutz einer internationalen Berichterstattung und darauf fußender etwaiger Maßnahmen anderer Staaten oder auch der Vereinten Nationen der marokkanischen Armee Einhalt gebieten kann. Die Frente Polisario meldete zunächst zwölf Todesopfer unter den Lagerbewohnern. Die amtliche Presseagentur der Westsahara, SPS, berichtete, daß sogar von Hubschraubern aus in die Menschenmenge geschossen werde [1]. Doch nicht nur das Camp, auch dessen Verbindungsstraße nach Laayoune sowie die Stadt selbst wurden unter die Kontrolle des Militärs gestellt. In Laayoune kam es, kaum daß die Angriffe auf das Zeltlager bekannt wurden, zu Protesten, gegen die das Militär ebenfalls gewaltsam vorging.

Auch dabei sollen bereits Menschen getötet worden sein. Die genaue Zahl der Todesopfer und Verletzten läßt sich angesichts dieser Umstände nicht annähernd beziffern, sie könnte längst bei Hunderten, wenn nicht Tausenden liegen. Da die Auseinandersetzungen noch immer anhalten und zahlreiche Gebäude in Laayoune in Flammen stehen, richten die Sahrauis dringende Appelle an die Weltöffentlichkeit, endlich tätig zu werden. In einem dringenden Aufruf der "Western Sahara Campaign", einer britischen Unterstützerorganisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, für das Recht auf Selbstbestimmung sowie den Schutz der Menschenrechte für das sahrauische Volk einzutreten [2], wurde in diesem Zusammenhang unterstrichen, daß die Vereinten Nationen bei ihrem Auftrag, die Opfer dieses Konflikts vor Übergriffen zu schützen, offensichtlich versagen. Tatsächlich jedoch dürfte dieses "Versagen" als Ausdruck und Folge einer unheiligen Allianz zwischen den ehemaligen und jetzigen Besatzern der Westsahara und einer Weltgemeinschaft, die nicht minder imperialistischen Zielsetzungen und Interessen verpflichtet ist, in Erscheinung treten mit zur Stunde unabsehbaren Folgen für die 20.000 Menschen des sahrauischen Protestcamps.



Anmerkungen

[1] Massaker in der Wüste. Marokkanische Truppen zerstören Protestcamp in der besetzten Westsahara, junge Welt, 09.11.2010, S. 2

[2] The Western Sahara Campaign UK, Aufruf vom 09.11.2010, siehe
Schattenblick -> INFOPOOL -> POLITIK -> TICKER unter EL-AAIUN/002

10. November 2010