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DILJA/1350: Keine offiziellen Vorwürfe oder Sanktionen - Repression in Kolumbien sakrosankt (SB)


Folterungen, Entführungen und politische Morde

Die internationale Gemeinschaft stützt das Repressionsregime Kolumbiens


Die kolumbianische Regierung unter Präsident Juan Manuel Santos, der dieses Amt am 7. August 2010 von seinem Vorgänger Álvaro Uribe übernahm, ist in der internationalen Gemeinschaft wie auch der von deren Interessen dominierten Mehrheitspresse wohlgelitten. Bogotá unterhält enge politische und wirtschaftliche Beziehungen sowohl zu den USA als auch zu den maßgeblichen EU-Staaten und hat im Kreise dieser Partner und Förderer nicht das Geringste zu befürchten. Es liegt auf der Hand, daß die westlichen Staaten das heutige Kolumbien innerhalb Lateinamerikas als einen ihrer engsten Verbündeten begreifen und wertschätzen; und so darf auch angenommen werden, daß sich Bogotá in Fragen der politischen Repression, Aufstandsbekämpfung und Kriegführung mit den genannten Staaten im Kern einig weiß. Das repressive Instrumentarium, daß seitens internationaler Organisationen wie der Vereinten Nationen oder sonstiger Institutionen eigens geschaffen wurde, um Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu bekämpfen, wird in kaum nennenswerter Weise in Aktion versetzt, wenn es um Kolumbien geht.

Dabei gäbe es gerade in diesem südamerikanischen Staat nach wie vor traurige Vorfälle in großer Zahl, die die selbsternannten Menschenrechtskrieger zum Anlaß für Proteste und Maßnahmen bis hin zur Verhängung von Sanktionen nehmen könnten. Allem Anschein nach sind der Kampf gegen Folter sowie die von staatlichen Organen und/oder den von diesen geduldeten paramilitärischen Verbänden verübten Entführungen und politischen Morde den Hegemonialinteressen der internationalen Gemeinschaft nachgeordnet. Während in Staaten, für die "Regimechange" vorgesehen ist, die Karte "Menschenrechte" gern und schnell gezogen wird, können andere Staaten, die offensichtlich in dieser Frage das Wohlwollen derselben Kräfte genießen, mit einer Kritiklosigkeit rechnen, die mit der Straflosigkeit, die sie den eigenen Akteuren in ihren Polizei- und Geheimdienstapparaten oder dem Militär gewähren, voll und ganz zu korrespondieren scheint.

Wenn dennoch eine gewisse Kritik an der Repression in Kolumbien laut wird, ist dies zumeist auf die Initiative einheimischer Akteure oder Organisationen zurückzuführen, die persönliche Risiken einzugehen bereit sein müssen, um in dieser Frage eine kritische Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. Es kommt allerdings auch vor, daß die zu diesem Zweck eingesetzten internationalen Gremien die Ergebnisse ihrer Untersuchungen publizieren, auch wenn ein auffälliges Desinteresse bei den führenden Staaten und Interessengruppen auszumachen ist. So trat beispielsweise am 23. Mai Christian Salazar, der Vertreter des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte in Kolumbien, auf einer Konferenz in Bogotá mit schweren Vorwürfen und bedrückenden Fakten an die Öffentlichkeit.

Salazar bezeichnete das Verschwindenlassen von Menschen als eines der schwersten Menschenrechtsverbrechen und erklärte, daß Kolumbien "eines der Länder mit der höchsten Zahl an Verschwundenen weltweit" [1] sei. Salazar zufolge können die meisten dieser Verbrechen auf "staatliche Akteure und mit ihnen kooperierende paramilitärische Kräfte" zurückgeführt werden. Salazars schwerwiegenden Vorwürfe gegen die kolumbianische Führung enthielten zudem den der Straflosigkeit, erklärte er doch, daß bereits seit Jahrzehnten "Angehörige der Sicherheitskräfte für eine Vielzahl von schwersten Verbrechen verantwortlich" gemacht werden, darunter außergerichtliche Exekutionen, die mit dem gewaltsamen "Verschwindenlassen" im Zusammenhang stünden.

Der UN-Vertreter für Menschenrechte in Kolumbien erhob desweiteren den Vorwurf, daß weder die Regierung noch die Sicherheitskräfte die von ihnen eingegangenen Verpflichtungen im Kampf gegen die Straflosigkeit umgesetzt hätten. So habe Kolumbien zwar das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs aus dem Jahre 2000 ratifiziert und 2005 die Interamerikanische Konvention über das Verschwindenlassen unterzeichnet. An der mörderischen Praxis, die mit diesem Begriff umschrieben wird, hat sich in Kolumbien jedoch nichts geändert. Nach Salazars Angaben sind in den zurückliegenden drei Jahrzehnten in Kolumbien über 57.200 Menschen "verschwunden", während die offiziellen Opferzahlen nur von 15.600 Verschwundenen sprechen. Offensichtlich ist die kolumbianische Führung zwar bereit, Verpflichtungen einzugehen oder Erklärungen zu unterschreiben, die perspektivisch geeignet sind, ihrer Reputation zweckdienlich zu sein, ohne jedoch die geringsten Schritte zu unternehmen, ihre langjährige Todesschwadronenpolitik und Folterpraxis einzustellen.

So machte das kolumbianische Netzwerk im Kampf gegen Folter ("La Coalición Colombiana contra la Tortura") unlängst in einer Erklärung darauf aufmerksam, daß sich die Regierung des Landes weigere, ein freiwilliges Protokoll zur Ächtung der Folter zu unterzeichnen. Unter Berufung auf das Anwaltskollektiv José Alvear Restrepo verlautbarte die Nachrichtenagentur Adital, daß Kolumbien sich mit der Unterzeichnung dieses Protokolls verpflichtet hätte, nationalen wie auch internationalen unabhängigen Institutionen Zutritt zu den Gefängnissen des Landes zu gewähren. Derartige Kontrollbesuche hätten den Inhaftierten wenn auch, wie zu befürchten stünde, unzureichenden Schutz gewähren und das Vorgehen der Regierung, diese Verbrechen zu leugnen, zumindest ansatzweise durchkreuzen können. Die westlichen Verbündeten und Partner Bogotás schweigen sich zu diesem Vorfall aus, dabei hätten sie öffentlich Kritik üben und von Präsident Santos verlangen können, im Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen auch dieses Protokoll zu unterzeichnen.

Die Politik des Verschweigens wird jedoch nicht nur in Kolumbien selbst, sondern auch in weiten Teilen der übrigen Welt und insbesondere in den westlichen Staaten betrieben. Auch hier ist es dem Engagement einzelner Persönlichkeiten und/oder nicht staatlicher Organisationen zu verdanken, wenn entgegen des offiziellen Schweigens doch Informationen verbreitet werden. So unternahm der kolumbianische Rechtsprofessor und Anwalt Ramiro Orjuela in der zweiten Junihälfte eine Vortragsreise durch Europa, um auf die Menschenrechtsverstöße in seinem Heimatland aufmerksam zu machen. Orjuela bezeichnete die Situation politischer Gefangener in Kolumbien als "eine der schlimmsten in ganz Lateinamerika" [3] und beklagte, daß die katastrophale Situation in den Gefängnissen von den großen Medien verschwiegen werde.

Der Jurist bezifferte die aktuelle Zahl der politischen Gefangenen auf rund 7.500 und erläuterte dazu, daß es sich bei ihnen um Mitglieder sozialer Organisationen handele, von denen seitens des Staates behauptet werde, sie gehörten einer Guerillabewegung an. Mithilfe gefälschter Beweise und falscher Zeugen, bei denen es sich oftmals um Angehörige der Paramilitärs handele, würden diese Gefangenen verurteilt und für viele Jahre inhaftiert, wobei sie in den Gefängnissen extremen Mißhandlungen ausgesetzt sind. Die Weltorganisation gegen Folter (OMCT) habe Präsident Santos bereits aufgefordert, nachdem zahlreiche Häftlinge wegen dieser Zustände in einen Hungerstreik getreten waren, die körperliche und psychische Unversehrtheit der Gefangenen zu garantieren. Doch ohne Erfolg. Nach Orjuelas Angaben wurden erst vor zwei Wochen Gefangene des Hochsicherheitsgefängnisses La Tramacúa in einer achtstündigen Repressionsmaßnahme des "Nationalen Instituts für Strafvollzug" (INPEC) mißhandelt, wobei 30 Häftlinge schwer verletzt wurden [3].

In Fortaleza in Brasilien fand vor kurzem eine internationale Aktionswoche gegen das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen in Kolumbien statt. Menschenrechtsorganisationen sowie Angehörige der Opfer haben hier versucht, das Ausmaß der systematischen und äußerst gewaltsamen Repression in Kolumbien darzustellen und zu vermitteln. Den Angaben zufolge [1] übersteigt die Zahl der Verschwundenen in Kolumbien bereits die der damaligen Opfer in Chile zur Zeit der Diktatur Pinochets. Allein in den letzten drei Jahren seien in Kolumbien, so hieß es auf dem Treffen in Fortaleza, 38.200 Menschen spurlos verschwunden.

Der kolumbianische Rechtsanwalt Ramiro Orjuela wurde unterdessen von der schwedischen Regierung beauftragt, den Fall des in Kolumbien inhaftierten schwedischen Staatsbürgers und gebürtigen Kolumbianers Joaquín Pérez Becerra zu übernehmen. Dieser Fall hatte für Schlagzeilen und einen offiziellen Protest der schwedischen Regierung an die venezolanische geführt, weil Becerra im April, aus Deutschland kommend, in Caracas verhaftet und umgehend an Kolumbien ausgeliefert worden war. In einem Interview mit der jungen Welt machte Orjuela deutlich, daß dieser Fall einer von sehr vielen der politischen Gefangenen Kolumbiens ist, denen von der Staatsanwaltschaft unterstellt wird, den Terrorismus gefördert bzw. finanziert zu haben. Auf die Frage, auf welche Beweise die Ankläger diesen schweren Vorwurf stützten, erklärte der Anwalt [4]:

Die Staatsanwaltschaft stützt sich auf Beweismittel, die ebenso absurd sind. Es handelt sich nur um Dokumente, die sie angeblich, wie sie sagt, auf den Computern des Guerillachefs Raúl Reyes gefunden hat, der bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen ist, den die kolumbianische Regierung in Ecuador durchgeführt hat. Aber diese "Beweise" sind bereits vom Obersten Gerichtshof, der obersten juristischen Instanz in Kolumbien, verworfen worden, weil sie aus der rechtswidrigen Verletzung der Souveränität eines anderen Landes und aus der Verletzung internationaler Abkommen über juristische Zusammenarbeit stammen.

Eine weitere Frage bezog sich auf die tatsächlichen Gründe, die zur Verfolgung und Inhaftierung Becerras geführt haben mögen. Nach Ansicht der kolumbianischen Rechtsprofessors wurde sein Mandant aus politischen Gründen verfolgt [4]:

Seit vielen Jahren ist es Ziel der kolumbianischen Regierungen, die von Joachín Pérez betriebene Internetseite ANNCOL, die alternative Nachrichtenagentur Neues Kolumbien, zum Schweigen zu bringen, denn diese ist die einzige, die das sagt, was die großen, kommerziellen Nachrichtenagenturen in Kolumbien nicht sagen. Sie verbreitet andere Meinungen, die Ansichten von Kolumbianern, die den Frieden wollen und die für einen Dialog und einen politischen Prozeß in Kolumbien kämpfen, um den seit mehr als 50 Jahren dauernden Krieg zu beenden. Diese Homepage veröffentlicht Anklagen vieler Leute über Menschenrechtsverletzungen oder Korruption und berichtet über wichtige politische Vorschläge. Die Regierung Kolumbiens bezeichnet diese Internetseite jedoch als Homepage der Terroristen, was völlig absurd ist.

Hinweise wie dieser lassen vermuten, daß die kolumbianische Führung - und auch in diesem Punkt scheint sie sich einig zu wissen mit ihren westlichen Verbündeten - zu sehr repressiven Maßnahmen greift gegen Kräfte, die sich für eine politische Lösung, sprich Verhandlungen zwischen Regierung und den Guerillaorganisationen des Landes einsetzen. Die Fortführung eines Krieges, der bereits seit fünf Jahrzehnten andauert und allein angesichts dieser langen Zeitdauer nicht von einer der beiden Seiten "gewonnen" werden kann, scheint für Bogotá die bessere Wahl zu sein gegenüber der bislang nie ernsthaft in Erwägung gezogenen Option, einen gesellschaftlichen Dialog über die Zukunft Kolumbiens auf der Basis eines Waffenstillstandes und damit ermöglichter politischer Verhandlungen mit allen maßgeblichen Kräften und Organisationen des Landes einzuleiten.

Anmerkungen:

[1] Kolumbien: Zehntausende Menschen verschwunden. Von Tatiana Félix, amerika21.de/Poonal/adital, 02.07.2011,
http://amerika21.de/nachrichten/2011/07/35669/kolumbien-verschwundene

[2] Kolumbien - Regierung will Vereinbarung gegen Folter nicht unterzeichnen. adital, 27. Juni 2011, Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen vom 27. Juni bis 3. Juli 2011, Poonal-Pressedienst Nr. 952

[3] Krise in kolumbianischen Gefängnissen geht weiter. Von Hans Weber, amerika21.de, 29.06.2011,
http://amerika21.de/nachrichten/2011/06/35255/misshandlungen-gefaengnis

[4] "Joaquín müßte längst wieder frei sein". Gespräch mit Ramiro Orjuela, Interview: André Scheer, junge Welt, 14.06.2011, S. 3


5. Juli 2011