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DILJA/1363: Nepal - Fünf Jahre nach Kriegsende noch immer unter Bürgerkriegsgefahr (SB)


Fehlender Kernkonsens macht Nepals "Demokratie" zur Farce

Angesichts antagonistischer Parteiinteressen steht jeder Premier vor unlösbaren Aufgaben


Im Himalaya, auf dem "Dach der Welt" und damit zumindest geographisch weit entfernt von den westlich dominierten Schaltstellen geostrategischer Hegemonialpolitik, liegt das zwischen Indien und China eingeklemmte und im Vergleich zu diesen Nachbarstaaten kleine ehemalige Königreich Nepal. Das Wort "ehemalig" kann nicht deutlich genug betont werden, hatte doch ein von der Vereinten Kommunistischen Partei Nepals (Maoistisch) bzw. ihren bewaffneten Einheiten im Jahre 1996 aufgenommener Untergrundkampf zehn Jahre später zu einem die Kampfhandlungen beendenden historischen Friedensabkommen geführt, das unter Mitwirkung der im Parlament vertretenen Parteien der bürgerlichen Mitte zum Ende der Monarchie sowie zu ersten freien Wahlen führte, die die Maoisten im Jahre 2008 mit klarer Mehrheit gewannen. Gemäß des Friedensabkommens von 2006 sollte das auf dieser demokratischen Basis zusammengestellte provisorische Parlament, Nationalkonvent genannt, in den darauf folgenden vier Jahren eine neue Verfassung ausarbeiten, um den schwierigen Übergangsprozeß von einer Monarchie zu einer Demokratie voranzutreiben und zu bewerkstelligen.

Bis dahin mag dies wie eine Erfolgsgeschichte klingen, auch wenn die Vollendung bzw. vollständige Realisierung des Friedensplans noch immer aussteht. Da die Alternative zur Fortsetzung dieser wenn auch brüchigen Vereinbarungsbasis in der Wiederaufnahme der Kampfhandlungen läge, an der keine der Parteien nach dem soeben erst beendeten zehnjährigen Bürgerkrieg ein Interesse haben kann, wird an dem Wort "Friedensprozeß" ungeachtet der kaum noch zu ignorierenden Tatsache festgehalten, daß die im Nationalkonvent vertretenen Parteien nicht nur unterschiedliche und in Teilaspekten der politischen Gestaltung auch gegensätzliche Auffassungen vertreten, sondern so konträre, um nicht zu sagen feindliche Absichten gegeneinander hegen, daß der gesellschaftspolitische Minimal- oder Kernkonsens, der für eine erfolgreiche und glaubwürdige Inszenierung demokratischer Verhältnisse unabwendbar ist, zu fehlen scheint.

Mit anderen Worten: Die politischen Parteien Nepals, bei denen es sich schlußletztendlich um die parlamentarischen Emissäre der ehemaligen Bürgerkriegsgegner handelt, verstehen unter "Demokratie" die Durchsetzung und Verwirklichung ihrer eigenen Positionen. Würde man die parlamentarisch-demokratische Rechnung aufmachen, derzufolge die mehrheitlich vom Volk gewählte Kraft die Regierungsfunktion sowie eine maßgebliche Rolle im verfassungsgebenden Prozeß übernimmt, weil sie mehr als alle anderen von den Wahlberechtigten dazu legitimiert wurde, wäre der Fall klar. Die Maoisten könnten aufgrund des Wahlergebnisses von 2008 eine solche Rolle beanspruchen, und da sie eine volksdemokratische Verfassungsordnung anstreben und keineswegs ein Parteiendiktat einführen wollen, hätte die Entwicklung einer Demokratie in Nepal schon weitaus weiter vorangeschritten sein können, als sie es nach so vielen Jahren ist.

Es stellte sich jedoch alsbald heraus, daß die übrigen Parteien, unter denen der sozialdemokratische Nepali Congress (NC) sowie eine zweite Kommunistische Partei Nepals, die "marxistisch-leninistisch" ausgerichtet ist, neben den Maoisten die beiden größten sind, nicht bereit waren, an diesem Prozeß konstruktiv mitzuarbeiten. Die im Friedensabkommen von 2008 gesetzte vierjährige Frist zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung mußte im vergangenen Jahr, da diese Arbeit noch nicht einmal ernsthaft in Angriff genommen werden konnte und wegen der Blockadehaltung die Regierungsbildung ein immer größeres Problem geworden war, um ein weiteres Jahr verlängert werden. Am 15. Januar dieses Jahres zog, was die Krise zunächst noch weiter verschärfte, die UNMIL-Truppe, die Mission der Vereinten Nationen, die gemäß des Friedensabkommens in der Übergangsphase den Frieden sichern und den Demokratieprozeß unterstützen sollte, termingerecht ab, ohne daß das Kernproblem, die Reintegration der maoistischen Kämpfer, gelöst werden konnte. Karin Landgren, Chefin der UNMIL, erklärte bei ihrem Abzug: "Es ist Zeit, daß die politischen Parteien schnelle Schritte unternehmen, um die Integration und Rehabilitation des maoistischen Armeepersonals auf gegenseitig akzeptable Weise zu sichern." [1]

Nichts dergleichen geschah. Die Befürchtungen der maoistischen KP, die Umsetzung des Friedensplans würde auf den Sanktnimmerleinstag verschoben werden, bewahrheitet sich insbesondere an diesem Punkt. Vereinbart war, die maoistischen Kämpfer entweder in die Armee zu integrieren oder in die Gesellschaft zu entlassen. Tatsächlich jedoch sind noch immer rund 20.000 zumeist junge Menschen interniert, obwohl der Friedensvertrag von den Maoisten weder in politischer und schon gar nicht in militärischer Hinsicht in den zurückliegenden Jahren gebrochen wurde. Die übrigen Parlamentsparteien nehmen ein Mißtrauen für sich in Anspruch, das die Maoisten als stärkste und damit demokratisch am meisten legitimierte Partei ihrerseits mit einer ungleich größeren Plausibilität ins Feld führen könnten, gibt es doch für die Verweigerung der vereinbarten Integration ihrer ehemaligen Kämpfer kein Äquivalent auf der anderen Seite.

Um den Friedensprozeß dennoch am Leben zu erhalten, einigten sich die Maoisten mit der marxistisch-leninistischen KP im Februar auf eine gemeinsame Koalitionsregierung sowie die Errichtung eines 64köpfigen Sonderkomitees, das zu gleichen Teilen aus Angehörigen der Armee, der Polizei, der bewaffneten Polizeikräfte und der ehemaligen Guerillakämpfer bestehen sollte und dem nach dem Abzug der UNMIL-Truppe die Bewachung der Internierten übertragen wurde. Im Mai ist die im vergangenen Jahr verlängerte Frist für die Ausarbeitung einer Verfassung abermals abgelaufen, nur mit großen Mühen konnten sich die Parteien auf eine dreimonatige Verlängerung einigen. Die drei größten Parteien verpflichteten sich, in dieser Frist zu bewerkstelligen, was ihnen in all den Jahren zuvor nicht gelingen wollte - was eine zur Desinformation beitragende Formulierung ist, da außer acht gelassen wird, daß die immer und immer wieder gescheiterten Bemühungen auf einen kurzen Nenner gebracht werden könnten; nämlich den, daß zwischen den Parteien unüberwindliche Gegensätze bestehen, die leicht zu benennen sind.

Während den Maoisten eine demokratische Bundesrepublik vorschwebt mit weitreichenden sozialen Reformen und erweiterten Autonomierechten für die einzelnen Regionen des Landes, scheint eben dies für die übrigen Parteien, mögen sie auch nach außen hin ein differenziertes Bild abgeben, eine völlig inakzeptable Option zu sein. "Demokratisch" wäre dies leicht zu lösen, würden die Parteien Nepals, sollten sie denn zwei einander widersprechende Verfassungsentwürfe ausarbeiten, diese dem Volk zu einer Entscheidungsabstimmung vorlegen. Es ist anzunehmen, daß die Maoisten die ersten und wohl auch einzigen wären, die einen solchen Vorschlag annehmen und das Ergebnis einer verfassungsbestimmenden Volksabstimmung akzeptieren würden, auch wenn der Gegenentwurf die Mehrheit bekäme.

Da die Parlamentswahlen von 2008 eine Mehrheit für die Maoisten zu Tage brachten und nicht anzunehmen ist, daß die Akzeptanz dieser Partei seitdem in der Bevölkerung geschwunden ist oder sich auch nur verringert haben könnte, legt die Blockade- und Verweigerungshaltung der übrigen Parteien den Schluß nahe, daß es sich bei ihnen um Parteigänger der alten monarchistischen Eliten handelt, die zwar bereit sind, gewisse Abstriche hinzunehmen, aber einer demokratisch-sozialistischen Entwicklung des Landes alle denkbaren Riegel vorschieben, und so erweist sich der sogenannte Demokratisierungsprozeß in Nepal als ein uneingelöstes Versprechen, verknüpft mit der latenten Gefahr, daß der Bürgerkrieg eines Tages wiederaufflammen könnte. Die Maoisten sind in der Frage des wechselseitigen Mißtrauens abermals in Vorleistung gegangen und haben dem Friedenskomitee die Schlüssel zu ihren Waffenlagern übergeben [2]. Wann jedoch werden ihre Kämpfer ins Zivilleben entlassen?

Anmerkungen

[1] Nicht erledigt. Nepal-Mission der UNO soll zum 15. Januar abziehen. Maoisten fordern Verlängerung des Mandats. Politische Dauerkrise hält an. Von Hilmar König, junge Welt, 04.01.2011, S. 7

[2] Nepal: Maoistische Kämpfer entwaffnet, 02.09.2011, http://wissen.dradio.de/sidrtooided57ce8a8bo4hm1cv1i0/nachrichten.58.de.html?drn:news_id=50488&drn:date=1314957600


2. September 2011