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DILJA/1383: "Weltpolitischer Totalschaden" westlicher Staaten im Afghanistankrieg längst eingetreten (SB)


Beratungsresistent - politisch-militärische Führung des NATO-Krieges in Afghanistan in propagandistischer Hinsicht stehend k.o.


Augen und Ohren zu und durch, den Verstand ausschalten und jegliche militärische wahlweise hegemonialpolitische Ratio, sofern vorhanden, vollständig ignorieren - nach diesem Motto scheint die westliche Kriegführung in Afghanistan seit geraumer Zeit zu verfahren. Die jüngsten Gewaltexzesse westlicher Soldaten in dem Land am Hindukusch, dessen Bevölkerung sich mehr und mehr und immer offener den vermeintlichen Befriedungs- und Beglückungsbemühungen der ausländischen Truppen zu widersetzen wagt, sind nicht mehr als das sprichwörtliche I-Tüpfelchen auf einer Kriegführung, die in ihrer Gesamtheit sowie in Hinsicht auf ihre globalstrategischen Voraussetzungen und unter Beachtung der extremen Diskrepanz zwischen den vorgeblichen und tatsächlichen Kriegsgründen und -zielen nicht anders als eine fortgesetzte Vergewaltigung und immer wieder erneuerte Erniedrigung eines ganzen Volkes bewertet werden kann.

Das militärische, politische und propagandistische Desaster, in das sich die sogenannten ISAF-Truppen unweigerlich verrennen mußten, weil dieser Feldzug aus den angedeuteten Gründen nicht zu einem aus Sicht seiner Feldherren und -damen irgendwie positiv gearteten Abschluß gebracht werden kann, ist inzwischen so verheerend und fundamental, daß selbst der letzte kleine Rest mühsam aufgebauter Rechtfertigungssubstanz vollständig verlorengegangen ist. Mit diesem kleinen Rest ist selbstverständlich der afghanische Präsident Hamid Karsai gemeint, der etwas vorschnell und abfällig in vielen westlichen Medien als "Marionettenpräsident" bezeichnet wird, der aufgrund seiner völligen Abhängigkeit in seinem von den Besatzungsmächten nur entlehnten Amt keinen Schritt tun könne ohne den Segen Washingtons. Das ist so zutreffend wie unvollständig, zumal eben dieses "Marionettenamt" Karsai in eine unmöglich zu bewältigende Lage bringt.

Er soll den Schein einer irgendwie für die afghanische Bevölkerung akzeptablen Besatzung aufrechterhalten, wozu es unumgänglich wäre, ihm den Respekt zu zollen, der für eine solche Scharade unverzichtbar ist. Die Besatzer Afghanistans sind jedoch nicht einmal mehr dazu in der Lage oder willens, wenn sie es denn überhaupt je waren, und so bringt diese Haltung vor dem Hintergrund permanenter Gewaltexzesse gegen die afghanische Zivilbevölkerung Karsai in eine schizophren anmutende Situation, in der er seinen westlichen Herren die Gefolgschaft aufkündigen muß bei dem Versuch, ihre Forderungen und Erwartungen so gut es eben geht zu erfüllen. Der jüngste Vorfall, die Erschießung von 16 Dorfbewohnern, unter ihnen neun Kinder und drei Frauen, am 11. März in zwei Dörfern im Kreis Pandschwai in der Provinz Kandahar, hat dies in aller Deutlichkeit klargestellt.

Eine vom afghanischen Parlament beauftragte Delegation hat mehrere Tage am Ort des Massakers verbracht und am Sonntag ihre Untersuchungsergebnisse vorgestellt. Wie das russische Nachrichtenportal Ria Nowosti am 17. März berichtete [1], sollen der Chef dieser Untersuchungskommission, Hamidzai Lalai sowie eine Parlamentsabgeordnete der Provinz Kandahar, Schakilja Haschemi, zu der Auffassung gelangt sein, daß dieses Blutbad absichtlich angerichtet wurde, um an den Dorfbewohnern Rache zu nehmen für einen kurz zuvor erfolgten Angriff auf einen US-amerikanischen Schützenpanzerwagen, dessen gesamte Besatzung dabei ums Leben gekommen war. Nach den Feststellungen der afghanischen Ermittler, die mit Zeugen vor Ort sowie Angehörigen der Opfer sprachen, soll nicht ein Einzeltäter, wie das US-Militär behauptet, sondern eine Gruppe von 15 bis 20 US-Soldaten das Massaker verübt und, um die Spuren zu verwischen, die Leichname verbrannt haben. Eine laut lachende, offenbar angetrunkene Soldatengruppe habe demnach die beiden benachbarten Dörfer überfallen, zwischen denen die Entfernung zu groß sei, um die Einzeltäterthese plausibel erscheinen zu lassen. Zwei der weiblichen Opfer, so ist dem Bericht der Untersuchungskommission zu entnehmen, sollen vor ihrer Erschießung auch noch vergewaltigt worden sein.

Der 38jährige Stabsoffizier Robert Bales, der nach amerikanischen Angaben das Massaker allein begangen habe, wurde bereits in der vergangenen Woche außer Land geschafft und in die USA in Sicherheit gebracht. Repräsentanten der Kabuler (Marionetten-) Regierung sowie General Scher Mohammad Karimi, dem Stabschef der afghanischen Streitkräfte, war es zuvor verwehrt worden, Bales zu befragen. Warum? Karimi, der selbst an den Tatort gereist und dort mit Überlebenden des Massakers gesprochen hatte, ist zu der Auffassung gelangt, daß mehrere US-Soldaten die Taten begangen haben [2]. Das afghanische Parlament hatte in einem einstimmig gefaßten Beschluß von den USA verlangt, Bales vor ein afghanisches Gericht stellen zu können. Washington verweigert dies um den Preis einer weiteren Brüskierung des vermeintlichen Verbündeten. Ein zwischen beiden Seiten getroffenes Abkommen sieht zwar vor, daß die Angehörigen der Besatzungstruppen ausschließlich vor die Gerichte ihres Landes gestellt werden können, doch dieser Vertrag wird inzwischen vom afghanischen Parlament heftig kritisiert.

Präsident Karsai hat den USA inzwischen vorgeworfen, bei den Ermittlungen zur Aufklärung dieses Massakers nicht zu kooperieren. Ihm sei an einem guten Verhältnis zu Washington gelegen, erklärte er fast beschwörend, doch werde dies immer schwieriger [3]. In der bodenlosen Arroganz einer Weltmacht, die von sich glaubt, sich im Grunde alles erlauben zu können, weil niemand der Macht ihrer Gewehre etwas entgegenzusetzen haben könnte, werden die "Bitten" Karsais so vollständig ignoriert wie alle ähnlich gelagerten zuvor. Karsai ließ wissen, daß die USA die afghanische Kultur und die Gesetze seines Landes respektieren müßten. In einem Telefonat mit US-Präsident Obama habe er verlangt und darauf bestanden, daß die US-Truppen sofort aus den Dörfern in ihre Stützpunkte zurückkehren. Und im übrigen wolle die afghanische Regierung, wie ein Sprecher Karsais am 15. März nach einem Gespräch mit US-Verteidigungsminister Leon Panetta gegenüber afp erklärt hatte, bereits im kommenden Jahr und nicht erst 2014 die alleinige Verantwortung für die Sicherheit des Landes übernehmen. Und aus Karsais Präsidialbüro war zu vernehmen, daß diese Übergabe "schnell" erfolgen müsse.

Diese Forderung oder Bitte, ganz gleich, wie man das nun nennen möchte, ist für die ausländischen Besatzungstruppen unannehmbar, weil sie mit ihren tatsächlichen Kriegsgründen nicht zu vereinbaren ist. Malalai Joya, die jüngste Abgeordnete des afghanischen Parlaments, auf die am 10. März der inzwischen sechste Mordanschlag verübt wurde, äußerte sich vor wenigen Tagen in einem jw-Interview auf die Frage Heike Hänsels, wie sie denn die Äußerung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Truppen angesichts der schwierigen Sicherheitslage in Afghanistan noch später als zum bislang vereinbarten Zeitpunkt (2014) abzuziehen, folgendermaßen [4]:

Es wird wieder einmal deutlich, daß die USA und ihre Alliierten keine Pläne für einen Truppenabzug haben, und daß sie die Menschen diesbezüglich täuschen. Von Anfang an hatten sie ihre eigenen geostrategischen, ökonomischen Interessen in Afghanistan und wollten es zu ihrer Militär- und Geheimdienstbasis in Asien machen. Selbst wenn es einen Truppenabzug geben sollte, werden weiterhin viele tausend Besatzungssoldaten in Afghanistan stationiert bleiben. Auch wenn der Polizeiaufbau weitergeht, werden die einheimischen Polizisten nur Kanonenfutter sein, um die Todeszahlen unter den ausländischen Soldaten zu senken.

Wenn westliche Funktionsträger noch immer glauben, angesichts der offenkundigen Hilflosigkeit eines Hamid Karsais insgeheim grinsen zu können, wären sie womöglich gut beraten, sich die Lageeinschätzungen westlicher Experten zu Gemüte zu führen. In den Medien fand der Ende Februar vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr veröffentlichte "Jahresbericht 2011" nur einen geringen Widerhall. Darin waren namhafte Autoren wie der Grünenpolitiker Winfried Nachtwei, der dem "Beirat Innere Führung" des Bundesverteidigungsministeriums angehört, aber auch der Militärhistoriker Klaus Naumann vom Hamburger Institut für Sozialforschung hart mit der deutschen Bundesregierung ins Gericht gegangen und hatten ihr "schwerwiegende strategische Fehler" im Afghanistankrieg vorgeworfen, die die Gefahr eines Scheiterns der gesamten ISAF-Operation mit sich brächten.

Diese Manöverkritik darf auf keinen Fall mit einer echten Kritik an der Kriegführung der westlichen Staaten in dem fernen Land am Hindukusch verwechselt werden. Sie kommt sozusagen aus ihren eigenen Eingeweiden und möchte, um der gemeinsamen Zielsetzungen willen, vor dem sich anbahnenden Desaster warnen. Dabei wurde in besagter Publikation von einem damit einhergehenden "weltpolitischen Totalschaden" gewarnt. Wohl zu ihrem großen Bedauern stellten die Autoren fest, daß die Transformation der Bundeswehr zu einer weltweit agierenden Interventions- und Besatzungsarmee noch "unvollständig" geblieben sei und daß es ihr an einem "ausreichend differenzierten Fähigkeitsspektrum" zur Aufstandsbekämpfung mangele [5]. Dies mögen harsche Worte sein, die in Berlin nicht gern gehört werden; gleichwohl darf geargwöhnt werden, daß besagter Totalschaden längst eingetreten ist und diese Einschätzungen bestenfalls der tatsächlichen Entwicklung hinterherhinken und thematisieren, was ohnehin längst offenkundig geworden ist.

Anmerkungen:

[1] Afghanistan: Kommission untersuchte Massaker, junge Welt, 19.03.2012, S. 2

[2] Kollektives Massaker. Von Knut Mellenthin, junge Welt 20.03.2012, S. 1

[3] Schwere Vorwürfe Karsais gegen die USA, junge Welt, 17.03.2012, S. 1

[4] "Ich glaube, daß die Frauen eines Tages aufstehen". Interview von Heike Hänsel mit Malalai Joya, der jüngsten Parlamentsabgeordneten Afghanistans. junge Welt, 16.03.2012, S. 8

[5] Weltpolitischer Totalschaden. german foreign policy, 29.02.2012


20. März 2012