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DILJA/1388: Folter im "befreiten" Libyen - westliche "Menschenrechtskrieger" schweigen (SB)


Westliche Vorherrschaft läßt sich nur mit Gewalt aufrechterhalten



Am vergangenen Donnerstag wurde der Weltsicherheitsrat in New York über die Zustände in Libyen sieben Monate nach der Ermordung des libyschen Führers Muammar Al-Ghaddafi und der damit endgültig zerstörten Volks-Jamahiriya, wie das libysche System einer Volksherrschaft genannt wurde, informiert. Bislang sind Reaktionen des höchsten und einzig zur Verhängung von Sanktionen und weiteren Maßnahmen zur Wahrung des Friedens autorisierten Gremiums der Vereinten Nationen auf den Bericht des Leiters der UN-Mission in Libyen, Ian Martin, ausgeblieben. Dieser hatte zu Protokoll gegeben, daß immer noch rund 4000 Anhänger Ghaddafis in geheimen Gefängnissen früherer Rebellen gefangengehalten werden und daß es unter ihnen zahlreiche Fälle von Mißhandlungen und Folter gebe. Diese Kerker der Milizen seien laut Martin das größte Problem bei der Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in Libyen. Bereits im April hatten die Vereinten Nationen Kenntnis vom Tod dreier Häftlinge in Misrata erlangt, die "glaubhaften Informationen" zufolge zu Tode gefoltert worden waren. [1]

Es sind dies beileibe nicht die ersten und nicht die einzigen Meldungen und Informationen über die Menschenrechtslage im heutigen Libyen. Im Unterschied zur Zeit Ghaddafis scheinen Berichte und Veröffentlichungen zu diesem Thema jedoch auf geballtes Desinteresse und eine zielgerichtete Ignoranz all derjenigen zu stoßen, die vor gut einem Jahr das Menschenrechtsbanner ergriffen hatten, um einen Krieg zu gänzlich anderen als humanitären Zielen gegen Libyen zu führen. Bekanntlich hatte der Weltsicherheitsrat am 17. März 2011 durch die UN-Resolution 1973 alle UN-Mitglieder zum Einsatz militärischer Gewalt gegen das Ghaddafi-Regime ermächtigt auf der Basis von Artikel 42 der UN-Charta. Elf Staaten ließen sich das nicht zweimal sagen - eine Koalition der Willigen begann unter Führung Frankreichs, Großbritanniens und - mit einiger Verzögerung - auch der USA zwei Tage später einen Luftkrieg gegen Libyen, der offiziell im Oktober nach dem Tode Ghaddafis für beendet erklärt worden war.

Angesichts der jüngsten alarmierende Berichte über irreguläre Inhaftierungen, Mißhandlungen, Folterungen und sogar Tötungen gegnerischer Kräfte darf daran erinnert werden, daß besagte Resolution militärische Maßnahmen ausschließlich zum Schutz der Zivilbevölkerung erlaubt hatte und daß in Resolution 1973 wie auch in einer vorherigen Libyen-Resolution (1970) explizit ein "nachdrückliches Bekenntnis zu Souveränität, Unabhängigkeit, territorialer Unversehrtheit und nationaler Einheit der Libyschen Arabischen Jamahiriya" [2] enthalten gewesen war. Der mit militärischen Mitteln durchgesetzte Sturz der Regierung, wie wenige Monate später geschehen, war in diesen Resolutionen nicht vorgesehen gewesen.

Die "Libysche Arabische Jamahiriya" hatte in dem nordafrikanischen Staat soziale Verhältnisse hervorgebracht, an die sich die libysche Bevölkerung ungeachtet ihrer heutigen Zersplitterung mehrheitlich wohl nur noch schmerzlich oder auch mit großer Wut erinnern wird. Wut deshalb, weil durch den Krieg und die Zerstörung der staatlichen Ordnung, wie zu befürchten steht, unwiederbringlich vernichtet wurde, was zuvor den Menschen in Libyen einen Lebensstandard garantiert hatte, der beispiellos und vorbildlich für ganz Afrika gewesen war. Der Wüstenstaat hatte - vor dem Sturz Ghaddafis und damit einhergehend der Zerstörung der Infrastruktur sowie der Beendigung der Jamahiriya - eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommens Afrikas gehabt. Die Sozialversicherung gewährleistete nicht nur Witwen-, Waisen- und Altersrenten, sondern garantierte eine kostenlose medizinische Versorgung. Der Schulunterricht war ebenfalls kostenlos, für Sechs- bis Fünfzehnjährigen bestand eine Schulpflicht [3].

Der Krieg hat rund 50.000 Tote, hunderttausende verletzte und traumatisierte Menschen und zerstörte Dörfer und Städte hinterlassen. Die Sicherheitslage wurde vom UN-Sonderbeauftragten Ian Martin schon im März als denkbar schlecht beschrieben. "Zur Zeit sorgen bewaffnete rivalisierende Gruppen für Recht und Ordnung im Land" [4], so Martin, der schon vor Monaten von blutigen Straßenkämpfen berichtet und erklärt hatte, daß unter diesen Umständen die Abhaltung regulärer Wahlen, wie für Juni geplant, äußerst fraglich sei [4]. Der UN- Beauftragte berichtete von 300 bewaffneten Gruppen, die insgesamt über 120.000 Kämpfer verfügten und von denen 50 Milizen die Hauptstadt Tripolis unter sich aufgeteilt hätten. Gegen Menschen, die als Ghaddafi-Anhänger gelten, würden diese Gruppen auf eigene Faust vorgehen, wobei eine große Zahl nach Angaben von Amnesty International nicht nur gefangengenommen, sondern exekutiert worden sei [4].

Gegenüber derlei Gewalttaten, deren Opfer vornehmlich in den Reihen des geschlagenen Gegners zu verorten sind, zeigten sich die Verantwortlichen des NATO-Krieges gegen Libyen bislang vollkommen desinteressiert. Navy Pillay, die Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen, hatte bereits am 25. Januar in ihrem Bericht festgestellt, daß das Fehlen einer zentralen staatlichen Autorität in Libyen ein Klima begünstige, in dem Folter und Mißhandlungen praktiziert werden. Ihren Erkenntnissen zufolge soll die Zahl der Inhaftierten in Libyen sogar noch höher, nämlich bei 8.500 Menschen, die in über 60 örtlichen Haftzentren gefangengehalten werden, gelegen haben. [5] Pillay hatte den von den sogenannten Rebellen unter tatkräftiger Mithilfe der NATO-Staaten gebildeten "Nationalen Sicherheitsrat" (NTC) aufgerufen, die Kontrolle über die inoffiziellen Gefängnisse zu übernehmen und die Inhaftierungen zu überprüfen.

Doch nichts dergleichen ist geschehen, obwohl dieses Quasi- Regierungsgremium bar jeglicher demokratischer Legitimation immer wieder versicherte, diesem Ansinnen nachkommen zu wollen. Ebenfalls im Januar hatte die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen", die seit Februar 2011 in Libyen tätig gewesen war, ihre Arbeit im Internierungslager von Misrata eingestellt, nachdem sie hatte feststellen müssen, daß Gefangene nach ihrer Behandlung weitergefoltert worden waren. Die 115 Patienten, die offensichtlich Verletzungen infolge der Folterungen erlitten hatten, waren den Behörden gemeldet worden, ohne daß dies eine Beendigung der Folterpraxis nach sich gezogen hätte.

Eine erste Reaktion auf den jüngsten Bericht des UN-Beauftragten Ian Martin an den Sicherheitsrat gab es von russischer Seite. Der russische Vizeaußenminister Gennadi Gatilow hatte am vergangenen Freitag erklärt, der UN-Menschenrechtsrat habe die Überwachung der Lage in Libyen zu früh eingestellt. [7] Die nun festgestellten Folterungen sowie die durch Mißhandlungen bedingten Todesfälle seien eine klare Verletzung der Menschenrechte, so Gatilow. Aus Sicht der kriegführenden NATO-Staaten waren die Beobachter des Menschenrechtsrats sicherlich nicht "zu früh" abgezogen worden, handelt es sich doch bei diesem Gremium um eines der Instrumente der Menschenrechtskrieger, die sich der humanitären Agenda immer dann bedienen, wenn es ihren Interessen zweckdienlich ist und immer dann auf Tauchstation gehen, wenn die mit gewaltsamen Mittel verfolgten Zwecke die ihren sind.

Anmerkungen:

[1]‍ ‍Geheime Gefängnisse in Libyen, junge Welt, 12.05.2012, S. 6

[2]‍ ‍Der Türöffner zum Krieg. UN-Resolution 1973 diente als Lizenz für einen Regimewechsel. Von Norman Paech, neues deutschland, 17. März 2012

[3]‍ ‍Der deutsche Presserat - Oder: Vergewaltigung in aller Öffentlichkeit. Von Ulrich Gellermann, 9. März 2012, http://www.rationalgalerie.de

[4]‍ ‍Nation in Trümmern. Analyse. Libyen nach dem NATO-Angriffskrieg. Teil I: Die Zerstörung des Landes und die Profiteure des Wiederaufbaus. Von Joachim Guilliard, junge Welt, 10.03.2012

[5]‍ ‍Folter gängige Praxis. UN-Menschenrechtsbeauftragte beklagt Mißhandlung von Gefangenen in Lagern libyscher Milizen. Bewohner mehrerer Städte lehnen sich gegen Übergangsrat auf. Von Knut Mellenthin, junge Welt, 27.01.2012

[6]‍ ‍Libyen: Häftlinge werden gefoltert und erhalten keine medizinische Hilfe - Ärzte ohne Grenzen beendet die Arbeit in Internierungszentren in Misrata. Pressemitteilung von "Ärzte ohne Grenzen" vom 26. Januar 2012, http://www.aerzte-ohne-grenzen.de

[7]‍ ‍Moskau: Überwachung der Lage in Libyen durch Uno zu früh eingestellt. Thema: Nationaler Übergangsrat Libyens findet international Anerkennung. Ria Novosti, 11. Mai 2012, http://de.ria.ru/politics/20120511/263567685.html


15.‍ ‍Mai 2012