Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → MEINUNGEN

RATTE/037: Abstrafung der Versicherten bei Nichtzahlung von Krankenkassen-Zusatzbeiträgen (SB)


Abstrafung der Versicherten bei Nichtzahlung von Krankenkassen-Zusatzbeiträgen

Weitere Ausgrenzung sozial Benachteiligter durch Lohnabzug


Die Spatzen pfeifen es seit langem von den Dächern, dafür hat Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) gesorgt: Die Defizite in der Gesundheitsversorgung wachsen stetig und machen weitere Gesundheitsreformen notwendig. Nach der Sommerpause der Parteien stand, vor seiner endgültigen Verabschiedung, nun in dieser Woche der Entwurf der Gesundheitsreform 2010 zur Diskussion.

Streit unter den Koalitionsparteien bei der Durchführung der Vorschläge gibt es nur dem Anschein nach. Denn längst gehört eine Gesundheitsversorgung nach dem Solidarprinzip der Vergangenheit an, wie auch eine unsolidarische Linie in der Durchsetzung der Reformvorhaben seit langem festzustellen ist. Finanziell Bessergestellte haben nichts zu befürchten. Zusatzkosten, erhöhte Beiträge, die individuelle Leistungserbringung der Krankenkassen nach dem Wettbewerbsprinzip, all das trifft im wesentlichen die sozial Schwachen.

Als besonders würdelos, entmündigend und diskriminierend ist der Vorschlag der Koalitionsparteien zu bewerten, der zukünftig die Krankenkassen verpflichtet, dem Arbeitgeber bzw. Rentenversicherer Meldung zu machen über säumig gewordene Versicherte. Wer ein halbes Jahr lang seine Zusatzbeiträge nicht gezahlt hat, soll abgestraft werden. Arbeitgeber oder Rentenversicherer sollen direkt vom Lohn bzw. von der Rente einen Säumniszuschlag einbehalten. Dabei handelt es sich um eine nicht unerhebliche Summe. Im Gespräch ist nach sechsmonatiger Nichtzahlung eine Forderung von mindestens 30 Euro, maximal sogar drei Zusatzbeiträgen, wobei der höchste, bisher geforderte Zusatzbeitrag einer Krankenkasse bei 37,50 Euro liegt. Einer Umfrage der "Bild"-Zeitung vom Dienstag zufolge sollen bis zum jetzigen Zeitpunkt über eine Million Versicherungsnehmer ihre Zusatzbeiträge nicht entrichtet haben, womit eine entsprechend hohe Summe eingetrieben werden dürfte [1].

Doch nicht nur der Säumniszuschlag muß von den Versicherten geschultert werden. Etliche weitere Maßnahmen werden im Zuge der geplanten Reform den Beitragszahlern zugelastet. Vorgesehen ist unter anderem eine Rückführung der Beitragssätze auf den Stand vom 1. Januar 2009, d.h. 15,5 Prozent vom Lohn werden erneut eingefordert, wobei die zusätzlichen 0,6 Prozent je zur Hälfte von Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu entrichten sind. An dieser Beitragserhöhung soll der Arbeitgeber jedoch letztmalig beteiligt werden. Danach, so hat Bundesgesundheitsminister Rösler es den Unternehmern versprochen, werden diese von zusätzlichen Kosten verschont.

Neu ist ebenfalls das Zugeständnis an die Kassen, Zusatzbeiträge in unbegrenzter Höhe erheben zu können. Die bisher geltende Obergrenze von einem Prozent des Monatseinkommens kann damit überschritten werden. Dies macht allerdings das gesamte System der staatlichen Gesundheitsversorgung für die Versicherten noch unüberschaubarer. Um die sozialen Härten womöglich entufernder Zusatzbeiträge abzumildern, soll es einen steuerfinanzierten Sozialausgleich für Geringverdienende geben, die mehr als zwei Prozent ihres Einkommens in die Krankenversicherung einzahlen müssen. Wie hoch der Sozialausgleich für die Betroffenen ausfällt, ist bislang allerdings nicht geklärt, womit auch fraglich ist, ob er überhaupt halten wird, was er verspricht.

Die Erhebung von Zusatzbeiträgen hat bereits jetzt zu einer Flut von Kassenwechseln geführt. Nach einer Analyse des Branchendienstes "dfg" (Dienst für Gesellschaftspolitik) [2] hat der Branchendritte, die Deutsche Angestellten Krankenkasse (DAK), bisher die größten Verluste zu verzeichnen, während die Techniker Krankenkasse (TK) im ersten Halbjahr 2010 einen Zuwachs von 238.000 Mitgliedern vermelden kann. Sie ist eine der Kassen, die bisher keine Zusatzbeiträge eingefordert haben und sieht bis 2012 auch keine Notwendigkeit dafür.

Die Einführung eines Säumniszuschlages wie auch des Sozialausgleichs hält Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) für angemessen, obwohl zu befürchten steht, daß es auf diesem Wege zu faktischen Lohnabzügen kommen wird. Dieses automatisierte Verfahren würde zudem eine grobe Verletzung des persönlichen Datenschutzes darstellen, weil die Arbeitgeber bzw. Rentenversicherungsträger über die finanzielle Situation der Arbeitnehmer bzw. Rentner ohne deren Zustimmung Kenntnisse erlangen.

In einem Interview mit dem Deutschlandfunk sprach Rösler vor wenigen Tagen davon, diejenigen in der Versicherungsgemeinschaft vor jenen schützen zu wollen, die nicht bereit sind zu zahlen. Wie er es formulierte, sei sonst der "Ehrliche der Dumme" [3]. Manchen mögen Röslers Vorschläge über Maßnahmen zum Schutz der Versicherungsgemeinschaft plausibel erscheinen; für andere, denen Zahlungsunwilligkeit und damit Betrug unterstellt wird, stellen sie eine bloße Bezichtigung dar.

Eine solche Spaltung unter den Versicherten sowie die Bezichtigung finanzschwacher Mitglieder sollen eine Entwicklung begünstigen, die sich nicht nur auf dem Gesundheitssektor Bahn bricht. Die bisherigen Reformen haben bereits dazu geführt, daß es im Zuge der Umsetzung des Wettbewerbs unter den Krankenkassen keine einheitliche Leistungserbringung für die Versicherten mehr gibt. Die Planung, ab 2011 von allen Krankenkassenbeitragszahlern eine zusätzliche Pauschalprämie in Höhe von 30,00 Euro zu fordern, könnte den Einstieg in die einkommensunabhängige Finanzierung der Krankenversicherung eröffnen. Wem es bereits wirtschaftlich nicht so gut geht, für den verschlechtert jede weitere der geplanten Reformen die Lage.

Maßnahmen wie der geplante Abzug von Säumniszuschlägen nach erfolgter Meldung an den Arbeitgeber oder Rentenversicherer vom Lohn bzw. der Rente stellen im Zuge der absehbar in Zukunft noch zu erwartenden "Reformen" womöglich nur eine Facette von vielen dar.

Anmerkungen:

[1] "Bild": Eine Million Kassenpatienten haben Zusatzbeitrag erweigert, Deutsches Ärzteblatt, 17.08.2010,
http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/42373/Bild_Eine_Million_Kassenpatienten_haben_Zusatzbeitrag_verweigert.htm

[2] Handelsblatt online - "Zusatzbeiträge mischen Krankenkassen auf" vom 16.08.2010,
http://www.handelsblatt.com/unternehmen/banken-versicherungen/gesundheitswesen-zusatzbeitraege-mischen-krankenkassen-auf;2636639

[3] Deutschlandfunk - "Der Teufel steckt im Detail",
Interview mit Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) am 16.08.2010
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview dlf/1248910/

20. August 2010